Im vergangenem Jahr feierte die kleine Stadt Lützen ein großes Jubiläum – auch wenn es in Leipzig fast keiner gemerkt hat. Zum 750. Mal jährte sich die Ersterwähnung der Stadt, die durch zwei große Schlachten in die Geschichtsbücher einging. Über die Schlachten ist schon viel geschrieben worden, aber wer schreibt über so ein kleines, aber geschichtsträchtiges Ackerbürgerstädtchen? Auch Stadtgeschichte ist spannend. Ein dicker, reich bebilderter Band macht es sichtbar.

Natürlich hat die Stadt Lützen diesen Band beauftragt, die heute – nach vielen Eingemeindungen – natürlich viel größer ist als die historische Stadt an der Via Regia. Zum heutigen Stadtgebiet gehören Orte, die ihrerseits fast genauso berühmt sind – Poserna zum Beispiel, wo 1763 der Dichter und Wanderer Johann Gottfried Seume geboren wurde, oder Röcken, wo 1844 der Philosoph Friedrich Nietzsche geboren wurde und 1900 auch beerdigt wurde.

Ganz zu schweigen von Großgörschen, wo im Mai 1813 eine der letzten entscheidenden Schlachten der Befreiungskriege gegen Napoleon stattfand, eine jener Schlachten, die dann die Entscheidungsschlacht im Oktober bei Leipzig vorbereiteten. Und weil Napoleon der Meinung war, die Schlacht gewonnen zu haben, steht der Name dieser Schlacht auch am Triumphbogen in Paris: Lützen.

Denn Napoleon kannte ja das historisches Vorbild, soll auch die Gedenkstätte für den 1632 bei Lützen getöteten König Gustav Adolf besucht haben. Und wer sich bis zum betreffenden Kapitel in diesem Buch durchblättert, erfährt auch, dass die beiden Schlachtfelder tatsächlich aneinandergrenzten. Der Elsterfloßgraben fließt mitten hindurch. Aber dass hier gleich zwei berühmte Schlachten stattfanden, hat seinen Grund ja nicht in der Attraktion der Stadt, sondern in der Logistik. Schlachten finden meist an gut ausgebauten Heerwegen statt. Und die Via Regia war immer ein solcher. Wenn Krieg war, wälzten sich die Trosse der Armeen über diese Straße.

Und natürlich war die Straße auch der Grund, warum sich die Merseburger Bischöfe hier engagierten und den kleinen Flecken zur Stadt ausbauten – samt Schloss und Marktrecht. Denn wer die Städte an den großen Straßen hat, der hat auch die Zoll- und Markteinnahmen. Und so, wie die Armeen hier all die Jahrhunderte durchzogen (oder auch mal kampierten, die Scheuern leer fraßen und – wie die Truppen Wallensteins – auch mal die halbe Stadt in Brand steckten), mussten auch all die Händler hier durch, die auf die Leipziger Messen wollten. Das speiste die Stadtkasse und den Beutel des Bischofs. Und es nährte auch die Gastwirte, die große Gasthöfe unterhielten wie den Zum roten Löwen.

Aber so eine Stadtchronik ist natürlich die ideale Gelegenheit, endlich einmal so tief in die Archive zu steigen, wie man das ehrenamtlich und nebenbei für gewöhnlich nicht schafft. Denn die Akten und Urkunden liegen ja nicht nur in Lützen oder Merseburg. Wer an die Quellen will, muss auch nach Dresden, Leipzig, Magdeburg oder Wernigerode. Denn Lützen war zwar jahrhundertelang eine sächsische Stadt, aber 1816 kam die Stadt zu Preußen, in die Provinz Sachsen. Also wurde nun auch preußisch verwaltet und beurkundet. Und dabei ist es auch geblieben, bis heute, wo die Landesgrenze zwischen Sachsen und Sachsen-Anhalt zwischen Markranstädt und Lützen verläuft.

Wobei das ja keine Entfernung ist. Man schwingt sich einfach aufs Rad und fährt – ab Kulkwitzer See – auf der einstigen Bahnstrecke Leipzig-Lützen-Pörsten – in das Nachbarstädtchen. Bis 1997 fuhren ja hier noch die Züge, bevor die Bahn den Betrieb wegen zu weniger Fahrgäste einstellte. Nur auf Leipziger Gebiet ist die Strecke noch nicht als Radweg ausgebaut. Man hat es in Leipzig nicht so mit dem Blick über die Stadtgrenze hinaus.

Dabei lohnt es sich in alle Richtungen. Radfahrer wissen es. Man fährt nach Lützen ja nicht nur wegen der Gustav-Adolf-Gedenkstätte und dem Blick über das einstige Schlachtfeld, dem Stadtmuseum im Schloss oder dem Martzschpark mit seinen Tieren und dem abenteuerlichen Kletterwald. Wobei sich das künftig noch viel mehr lohnen wird, wenn die Ausgrabungsergebnisse der jüngeren Schlachtfeldarchäologie gleich neben der Gedenkstätte einen eigenen Ausstellungspavillon bekommen.

Selbst das zum großen Teil erhaltene Ackerbürgerstädtchen lohnt die Fahrt. Die Sehenswürdigkeiten bekommen in diesem Band eigene Kapitel, das Rathaus genauso wie die Kirche St. Viti und das Schloss, das zeitweilig auch die fehlenden Schulgebäude in Lützen ersetzen musste.

Aber natürlich beleuchten gerade die historischen Teile erstmals auch Kapitel in der Lützner Geschichte, die so zuvor nie aufgearbeitet wurden. Denn mit der Untersuchung von Feldfluren und Wüstungen wird auch sichtbar, wie eine typische sächsische Stadtgründung vonstatten ging, wie Dörfer aus der Flur verschwinden, weil deren Bewohner in die Stadt ziehen oder nach verheerenden Seuchen nicht mehr genug Menschen da sind, das Dorf zu erhalten. Besitz- und Lehnsverhältnise ändern sich. Und große Territorialfürsten verstärken ihre Macht, indem sie den Einfluss der Landadligen zurückdrängen.

Gleichzeitig entwickelt sich hinter den Mauern der Stadt ein eigenes städtisches Selbstbewusstsein, gibt es einen gewählten Rat, der sich die Rechte der Stadt vom Bischof in Merseburg bestätigen lässt. Wobei ja im gesamten Raum westlich von Leipzig dieses über Jahrhunderte existierende Nebeneinander der Einflussspähren der Merseburger Bischöfe und der wettinischen Landesherren zu beobachten ist. Ein zähes Ringen um Einfluss, das erst mit der Reformation endete.

Schloss Lützen Reinhard Schmitt Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt

So schält sich Stück für Stück die durchaus nicht langweilige Geschichte der Stadt heraus, die man auf den alten Kupferstichen Merians noch mit Mauer umbaut und mit markanten Stadttoren sieht. Die alle verschwunden sind, genauso wie die Wasser- und Windmühlen. Die Historiker, die sich für diesen Band mit Autor/-innen aus der Stadt zusammengetan haben, verweisen immer wieder auf den jetzt durchaus sichtbar werdenden Forschungsbedarf.

So eine Stadtchronik, wie sie für Lützen hier ja erstmals so umfangreich vorgelegt wurde, ist im Grunde immer erst der Beginn: Sie zeigt, was in kurzer Zeit alles zugänglich gemacht werden kann – und damit auch, was alles an Fragen endlich konkret gestellt werden kann. Und sie zeigt auch, wie schnell Geschichte jagt.

Relativ leicht nachvollziehen lässt sich da immer noch die Veränderung der Amtsverwaltung. Auch zu den großen Schlachten und den zumeist auch verheerenden Folgen für die Stadtbewohner gibt es zahlreiche Quellen. Schwieriger wird es, die Entwicklung der Wirtschaft zu rekonstruieren oder gar die Entwicklung der Stadtpolitik.

Die Lützner Regionalzeitungen „Tagblatt“ und „Volksbote“ werden zwar als hilfreich gewürdigt. Aber man erfährt nicht mal, wer sie herausgab. Was stand alles drin? Und was nicht? Denn: In Zeitungen steht nie alles. Das war dann im 20. Jahrhundert nicht anders, das dann schon sehr flott durch die Buchseiten flattert mit Kapiteln wie „Lützen zwischen den Weltkriegen“ oder „Lützen zwischen Kriegsende und Friedlicher Revolution“.

Immerhin fallen in Letzteres die Enteignungswellen, die Kollektivierung der Landwirtschaft (mit der Flucht der großen Bauern), der drohende Tagebau vor der Tür, der Kampf um die eigenen Schulen, der Verfall wertvoller Gebäude und natürlich all das, was 1989 auch die Lützner nach Leipzig fahren ließ, um an den Montagsdemonstrationen teilzunehmen. An ihre Bürgermeister haben die Lützner augenscheinlich gute Erinnerungen. Noch ist dieses vergangene Jahrhundert nicht zu der Dichte geronnen, in der Geschichte greifbar wird.

Da nennen zwar manche Regierungen ihr Handeln historisch. Aber was wirklich wichtig war und bleibende Spuren in einer Stadtgeschichte hinterlässt, das stellt sich erst Generationen später heraus. Oder das stellen emsige Forscher fest, wenn sie sich einzelne Kapitel genauer vorknöpfen. Etwa die Lützner Eisenbahngeschichte (die nur ganz kurz gestreift wird) oder die Geschichte des Lützner Bürgertums, das jahrhundertelang ja ein von Handwerk und Landwirtschaft geprägtes war. Aber das ist in kleinen Orten oft so: Die Namen der alten Familien sind immerfort präsent – aber niemand kommt auf die Idee, einmal die Wirkungsgeschichte solcher Familien aufzuschreiben, die ja immer wieder Bürgermeister und Richter stellten. Auch die Lützner Gerichtsgeschichte wird nur knapp gestreift.

Dafür stellt der Band einige der wichtigen Persönlichkeiten aus der Lützner Geschichte vor, blättert die Vereinsgeschichte auf und bietet am Ende auch noch die wichtigsten Dokumente zur frühen Geschichte der Stadt. Es ist ja wirklich so: Erst wenn man einmal so gebündelt in der Hand hat, was man zur Geschichte einer solchen Stadt erzählen kann, merkt man, was man noch gern alles so wissen wollte.

Aber manches erfährt man dabei trotzdem ganz nebenbei – so wie die symbiotische Beziehung der kleinen Stadt an der Via Regia zur großen Marktstadt Leipzig, mit der man sich durchaus schon mal streiten konnte, aber nie so, dass das Verhältnis gestört wurde. Denn man wusste beiderseits, dass man – gerade im Interesse eines sicheren Handels auf der Via Regia – gut miteinander umgehen musste. Man erfährt Spannendes über Zucker- und Fenchelfabriken, die Gründung der Gustav-Adolf-Gesellschaft, den jahrhundertelangen Kampf gegen Feuer und die engen Beziehungen nach Schweden, die Lützen auch heute noch pflegt.

Selbst für Reisende, die schon einmal in Lützen waren, ist das Buch eine intensive Bekanntschaft mit einer kleinen Stadt, von der man nun ziemlich genau weiß, warum sie da steht.

Maik Reichel; Katja Rosenbaum; Hans-Georg Walther Lützen, Sax Verlag, Beucha und Markkleeberg 2019, 24,80 Euro.

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