Was für eine einfältige Frage. Aber die FAZ war am 19. Januar nicht die einzige Zeitung, die so oder so ähnlich fragte: „Umfragen zeigen: 64 Prozent der Republikaner unterstützen weiterhin Donald Trump – trotz der Erstürmung des Kapitols. Über die Hälfte wünscht sich eine zweite Amtszeit. Wie konnte sich die Trump-Basis derart radikalisieren?“ Esoterik? Spaltung? Mediale Parallelwelt? Lesen wir einfach mal ein ganz trockenes Buch zu NPD-Wählern in Ost-Deutschland.

Und wer die vergangenen 20 Jahre nicht völlig verschlafen hat, der erkennt in der Wortwahl des FAZ-Artikels so einiges wieder, was die deutschen Leitmedien in den vergangen 20 Jahren auch über Ostdeutschland und die radikalisierten Wähler im Osten geschrieben haben. Und zu Recht geht Maximilian Kreter in seiner Einführung auf die Frage ein, ob die hohen Wahlergebnisse der NPD in Ostdeutschland zwischen 2005 und 2011 so auch die späteren Wahlerfolge der AfD im Osten erklären können.

Was er zur Verfügung hat, sind vor allem Wahlumfragen, Politbarometer und Daten aus den Allgemeinen Bevölkerungsumfragen (ALLBUS). Teilweise sind sie sehr detailliert und breit gefächert, sodass sich aus ihnen ein etwas komplexeres Bild des Wählers einer radikalen Partei erstellen lassen. Teilweise aber weisen sie Lücken auf, die belastbare Aussagen erschweren.

Weshalb der größte Teil von Kreters Arbeit eine ausgiebige Analyse des verfügbaren Datenmaterials und der anwendbaren Thesen der Soziologie darstellt. Für den Laien eher sehr theoretischer Kram – für die Leute, die sich nun seit neun Jahrzehnten mit der Frage beschäftigen, warum eigentlich ganz einfache Leute und zumeist friedfertige Menschen auf einmal extremistische Parteien unterstützen und gar – wie 1933 – an die Macht bringen, eher ein Rätsel, das doch irgendwie geknackt werden muss.

Deswegen stellt natürlich die Arbeit der Frankfurter Schule um Horkheimer, Adorno und Habermas zum autoritären Charakter auch bei ihm so eine Art Gradmesser dar, auch wenn er natürlich auch Dutzende jüngere Theorien diskutiert, die alle in unterschiedlichem Maße erfassen, warum Menschen nun ausgerechnet bei Rechtsradikalen ihr Kreuzchen machen. Und sich auch – siehe den Sturm aufs Kapitol in Washington – bis zum Aufstand radikalisieren lassen.

Das liegt eben nicht nur an Medien und Parolen oder charismatischen Führern oder fremdenfeindlichen Einstellungen. Kreter arbeitet insgesamt 35 Thesen heraus, die alle mehr oder weniger oft so auch in den Medien diskutiert – oft auch einfach behauptet – werden, weil das so schön klingt. Auch Journalisten neigen ja gern dazu, einen Kurzschluss für eine wirklich grandiose Erklärung zu halten. Ohne am vorhandenen Datenmaterial zu überprüfen, ob die so einleuchtend klingende Behauptung auch stimmen kann.

So zum Beispiel auch die so einleuchtend klingende These: Menschen mit autoritären Persönlichkeitsmerkmalen wählen mit überdurchschnittlicher Wahrscheinlichkeit die NPD. Oder eben eine andere radikale Partei. Eine These, die sich anhand der Wählerdaten aus Ostdeutschland nicht bestätigen lässt. Auch die Hinweise, dass „traditionelle Werteorientierungen“ die Wahl einer rechtsextremen Partei begünstigen, ist eher inkonsistent.

Was nicht bedeutet, dass sich sämtliche gängigen Erklärungsmuster nicht bestätigen lassen. So trifft es durchaus zu, dass (jüngere) Männer überproportional oft NPD gewählt haben, dass geringere Bildungs- und Berufsabschlüsse den Effekt verstärken, und dass auch die negative Einschätzung der (eigenen) wirtschaftlichen Lage dazu beiträgt.

Die sehr detaillierten Abwägungen, die Kreter vornimmt, machen auch dem noch unerfahrenen Leser deutlich, dass es den eindimensionalen rechten Wähler nicht gibt. Auch nicht den eindimensionalen NPD-Wähler, der z. B. aus Protest gegen „das Establishment“ konsequent jedes mal rechts wählt. (Auch wenn es natürlich einen harten Kern von Wählern gibt, die sich mit der Partei regelrecht identifizieren.)

Der Wähler ist – das dürfte auch vor dem Hintergrund der meistens sehr platten politischen Erklärungsmuster in unseren Medien eine kleine Überraschung sein – ein viel-dimensionales Wesen. Womit er nicht unberechenbar wird. Donald Trump hat ja sehr gut bewiesen, dass man nur wissen muss, auf welche mentalen Knöpfe man drücken muss, um Menschen aus depravierten Verhältnissen zu mobilisieren und zu radikalisieren.

Das Wort Depravation taucht ziemlich häufig auf – auch schon im Analyse-Teil von Kreters Arbeit. Und auch dort merkt man, dass auch dieser Zustand der (manchmal auch nur gefühlten) Verschlechterung, Entwertung, Abwertung (Stichwort: „Bürger 2. Klasse“) ein mehrdimensionaler ist. Er betrifft nicht nur die prekäre Arbeitssituation, das Gefühl, politisch ohne Einfluss zu sein, oder ohne Frauen in der abgewickelten Provinz zurückgelassen zu werden.

Würden sich die Soziologen nicht nur mathematisch-theoretisch mit den Depravierten in unserer Gesellschaft beschäftigen, würden sie eine regelrechte Psychologie der Enttäuschten, Entmutigten und Frustrierten zeichnen können. Ansätze dazu bieten ja die Leipziger Autoritarismus-Studien, die ja nicht nur die Dimensionen rechtsextremer Einstellungen messen, sondern auch die enge Verbindung zwischen Einstellung und ökonomischer Verortung sichtbar machen. Unter anderem.

Der Titel von Maximilian Kreters Arbeit klingt zwar so, als würde er auch in diese Richtung gehen. Aber das geben die von ihm zur Grundlage herangezogenen Befragungen nicht her. Etliche Dimensionen – wie etwa Sexismus oder Nationalismus – werden dort gar nicht systematisch erfasst. Viel mehr zeigt das Schema der langjährig immer wieder angewandten Umfragen eben auch, wie sehr selbst Soziologen bestrebt sind, ihre Thesen bestätigt zu sehen. Was freilich auch dadurch bedingt ist, dass man die Umfragen relativ schlank halten muss. Was fragt man also ab? Was lässt man weg?

So gesehen ist es schon eine echte Fleißarbeit, die Kreter hier durchexerziert und mit der er aus dem letztlich beschränkten Datenmaterial dennoch genug Zahlen herausfiltert, die es ihm ermöglichen, 35 Thesen durchzudiskutieren und zu wichten. Immerhin 25 dieser Thesen ließen sich bestätigen. Bei den anderen zehn gab es entweder keine Bestätigung oder zu schwache Hinweise, dass diese Dimensionen Einfluss auf das Wahlverhalten haben könnten.

Aber das wichtet diese Dimensionen eben auch und macht gerade am Ende, wenn Kreter zum Fazit kommt, umso deutlicher, dass die wilden Horden am Kapitol (und andere vergleichbare Bewegungen in allen westlichen Staaten) sehr viel mit den eigentlich doch recht wenigen NPD-Wählern in Ostdeutschland zu tun haben, die für zwei Wahlperioden dafür sorgten, dass die NPD mit beachtlichen Ergebnissen in ostdeutsche Landtage einziehen konnte.

Und Kreter stellt nun endlich das fest, was damals die Leitmedien und Leitparteien nicht wirklich wahrhaben wollten: Dass sich im Erstarken rechtsextremer Parteien eben eher nicht die autoritären Prägungen aus der 15 Jahre vorher gescheiterten DDR austobten, sondern die geballte Enttäuschung genau über diese 15 Jahre, die für die in Ostdeutschland Gebliebenen Jahre der permanenten Transformation und immer neuer Enttäuschungen waren.

„Diese Entwicklungen haben neben dem, was als klassisches Reservoir der Wähler von Rechtsaußenparteien gilt – nämlich Modernisierungsverlierer – zusätzlich ,Wendeverlierer‘ hervorgebracht (…)“, schreibt Kreter und erwähnt zumindest stichpunktartig die Einführung von „Hartz IV“ 2005, das genau in dem Moment für neue Zurücksetzungen und Frustrationen sorgte, als eigentlich die Einlösung der alten (Kohlschen) Versprechen von den „blühenden Landschaften“ dran war.

Es erstaunt schon, dass Politiker so etwas nicht zusammendenken – können oder wollen. Das ist egal. Aber Kreters Analyse macht eigentlich deutlich, dass Wahlentscheidungen sehr viel mit solchen Empfindungen zu tun haben. Denn sie funktionieren nicht nur über die Angebotsseite der Parteien, sondern auch über die Nachfrageseite der Wähler/-innen.

Und genau da stellt Kreter fest: „Wie diese Untersuchung der Wähler der NPD zeigt, setzt sich das Elektorat (die untersuchte Wählergruppe, d. Red.) zu einem nicht unerheblichen Teil aus Personen zusammen, die von der Gesellschaft sowie von der Politik zurückgelassen beziehungsweise nicht ausreichend integriert wurden.“ Und „Modernisierungsverliererindikatoren“ tragen ganz augenscheinlich dazu bei, rechtsextreme Wahlentscheidungen zu erklären.

Und damit wird das radikale Wahlverhalten eben nicht zu einer „krankhaften“ Entartung in der modernen Demokratie, sondern macht ihre Fehlstellen selbst sichtbar, an denen Politikverdrossenheit und Desintegration wachsen. Und man müsste ja wirklich blind sein, um diese Entwicklungen nicht zu sehen. Jedes westliche Industrieland hat mittlerweile seine „rust belts“, seine Rostgürtel, wo die einst arbeitsintensive (Schwer-)Industrie zu Hause war und ein vollwertiger Arbeitsplatz den Menschen nicht nur Einkommen, sondern auch soziale Akzeptanz verschafft hat.

Die Tatsache, wie sehr eine gesellschaftlich akzeptierte Arbeit Grundlage für die Identifikation der Menschen mit ihrer Gesellschaft und der von ihnen getragenen Politik ist, wird nur zu gern ausgeblendet. Nicht nur in der FAZ, dem großen Schlachtschiff der Manager, Börsianer und Staatsverschlanker, wo auch die faulen Thesen vom „Verschwinden der Arbeit“ und dem „Siegeszug der Künstlichen Intelligenz“ rauf und runter gesungen werden.

Die aber führen dazu, das Heer der Modernisierungsverlierer immer mehr zu vergrößern. Und sie schüren die Angst vor dem Statusverlust bis weit hinein in die Mitte de Gesellschaft. Weshalb die AfD – darauf kommt Kreter zuletzt noch einmal zu sprechen – in gewisser Weise das Erbe der NPD angetreten hat – aber auch nur zum Teil, denn mit der AfD hat ein Parteityp Boden gewonnen, der als populistische Rechtsaußenströmung in anderen westlichen Ländern schon länger existierte.

Und sie holt eben nicht nur die jungen (frustrierten) Männer an die Wahlurne oder die „petty bourgeoise“, wie sie Kreter nennt, die Kleinbürger, sondern verstärkt Wähler aus der Mitte der Gesellschaft in oft gut dotierten Positionen, die dennoch das Gefühl haben, zunehmend zu den Verlierern zu gehören. Kreter: „Die AfD – als Vertreterin der Rechtsaußenparteien – ist die Partei der (gefühlten) Besitzstandsverlierer, die ihren Wählern eine Rückkehr zu ihrer soziostrukturellen Position und der Wiedererlangung ihrer soziokulturellen Besitztümer verspricht.“

Die Depravation reicht also längst weiter als nur bis zu den Niedrigqualifizierten und oft prekär Beschäftigten, die sich abgehängt und ausgegrenzt fühlen. Sie umfasst immer mehr Lebensbereiche, die einem zunehmenden Veränderungsdruck ausgesetzt sind. Ich mag an der Stelle nicht von Modernisierung reden, weil Rationalisierung, Technisierung und Digitalisierung nicht per se modern sind, sondern schlicht Ausdruck eines technologischen Denkens, innerhalb dessen Menschen mit ihren Wünschen und Bedürfnissen keinen Platz mehr haben.

Die Rechtsradikalisierung in Teilen der Gesellschaft ist ein ziemlich direktes Ergebnis dieser (technologisch vorangetriebenen) Entwertung von Berufen, Lebensläufen, Bildung und ganzen Regionen.

Man ahnt an der Stelle erst, wie weit das geht – und dass der Rechtsextremismus das ungewollte, aber ziemlich folgerichtige Produkt eines radikalisierten Technologiesierungsdenkens ist, das immer mehr Menschen überfordert. Und sie dazu bringt, falschen Gerüchten, Theorien, Mythen und Feindbildern nachzulaufen. Denn gegen Technologien kann man schlecht opponieren, gegen Menschen, die man für schuldig hält am eigenen Frustriertsein, schon.

Und es sind eben nicht nur mehr die (einstigen) Wähler der NPD, die dem von Kreter herausdestillierten Wählerprofil ähneln, sondern auch zunehmend Menschen mitten aus dem Berufsleben und der Mitte der Gesellschaft, die sich zunehmend als „Modernisierungsverlierer, Wendeverlierer und Globalisierungsverlierer“ empfinden.

Man muss also über all die Entwertungsmechanismen sprechen, mit denen sich eine von Technologisierung besessene Gesellschaft selbst immerfort radikalisiert. Und das auch noch mit wohlwollendem Beistand großer Teile der etablierten Parteien, die überhaupt kein Problem darin sehen, wenn Menschen, Bildung, ganze Regionen entwertet werden, weil das das „Wirtschaftswachstum“ ankurbelt.

Oder einmal so formuliert: Da, wo der entfesselte Kapitalismus seine Effizienz-Gewinne zum allein seligmachenden Mantra macht, werden tatsächlich Menschen und Schicksale ent-wertet, aussortiert. Menschen werden des-integriert, statt sie zu integrieren. Ihre Wirkmächtigkeit wird beschnitten, Politik als Überwältigung erfahren. Das taucht in Konturen auf, wenn Kreter These um These prüft. Und die AfD wird keineswegs verschwinden, merkt Kreter noch beiläufig an.

Sie vertritt genau das, was eine hyperventilierende Technologie-Gesellschaft ganz systematisch produziert: den Bürger, der – aus tausenden Gründen – Angst um die Entwertung des eigenen Status hat, den Verlust aller Sicherheiten. Woraus seine empfundene Macht-Losigkeit entspringt, die sich natürlich ein Ventil sucht, wieder „mächtig“ zu werden. Davon profitieren rechtsradikale Parteien. Und das macht auch rechtsradikale Parteien immer radikaler, weil sich die Muster der Ohnmacht und Selbstermächtigung innerhalb dieser Parteien selbst wieder reproduzieren.

Worte wie Wendeverlierer und Modernisierungsverlierer würde ich also keinesfalls mehr in Gänsefüßchen setzen. Außer in dieser Form: „Wende“-Verlierer und „Modernisierungs“-Verlierer, weil das deutlicher macht, wie sehr wir auch die falschen Bilder von „Wende“ und Modernisierung hegen und pflegen und gern so tun, als wären die, die es nicht geschafft haben, auf den neuen Zug zu springen, selber schuld an ihrer Unfähigkeit.

Sind sie nicht.

Das lasse ich einfach mal stehen als Gedanke. Kreter rechnet eigentlich vor, wie sehr am Anfang die Soziologen tatsächlich noch sind, wenn es um das Begreifen des rechten Extremismus geht.

Maximilian Kreter Die Wähler der NPD in Ostdeutschland 2005–2011, Textum Verlag, Baden-Baden 2020, 48 Euro.

Hinweis der Redaktion in eigener Sache

Seit der „Coronakrise“ haben wir unser Archiv für alle Leser geöffnet. Es gibt also seither auch für Nichtabonnenten unter anderem alle Artikel der L-IZ.de aus den letzten Jahren zusätzlich auf L-IZ.de über die tagesaktuellen Berichte hinaus ganz ohne Paywall zu entdecken.

Unterstützen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere tägliche Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikäufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den täglichen, frei verfügbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit für Sie.

Vielen Dank dafür.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar