Eigentlich haben alle Menschen etwas zu erzählen. Die meisten aber erzählen nicht, auch wenn sie ihr Leben lang immer wieder dieselben alten Kamellen erzählen. Denn wer sein Leben erzählen will, muss darüber nachgedacht haben. Der braucht die Fähigkeit zum Loslassen-Können und zum Sich-nicht-so-wichtig-Nehmen. Wie der Jesuitenpater Bernd Knüfer, den viele Leipziger noch kennen.

Denn 1991 kam er mit seinen Brüdern nach Leipzig, um hier die neue Kommunität der Jesuiten zu gründen, wurde Studentenpfarrer und gründete 1997 die Kontaktstelle „Orientierung“ der Katholischen Kirche – anfangs in einem Hinterhofbüro. Er predigte in der Nikolaikirche und initiierte den „Raum der Stille“ in der Innenstadt, wo er Yoga- und Zen-Meditation unterrichtete. 2019 löste sich die Leipziger Jesuitengemeinschaft auf und er zog nach München. 2020 starb er, immerhin 82-jährig.Doch Diana Feuerbach und Christina Gauglitz nutzten vorher die Gelegenheit, mit den studierten Philosophen und Theologen über sein Leben zu sprechen, seine Leipziger Zeit und die Erfahrungen, die er hier gemacht hat in diesem scheinbar religionslosen Osten, über den die konservativen Zeitungen des Landes sich ja in den 1990er Jahren überhaupt nicht mehr einkriegen konnten. Zwanzig Jahre später kann man durchaus feststellen, dass diese so echauffierten Kommentatoren den Balken im eigenen Auge nicht sahen. Die Kirchenaustritte der Gegenwart erzählen eine sehr klare Geschichte. Und das ist eine Geschichte der Entfremdung. Und es sind nicht die Menschen, die sich den Kirchen entfremdet haben, sondern die Kirchen den Menschen.

Und genau das erzählt Knüfer gerade in den letzten Passagen dieses Hörbuchs sehr eindrucksvoll. Denn seinen Weg nach Leipzig empfand er zwar durchaus als eine Mission. Aber sein eigener Weg auch als Student in den späten 1960ern und als Studentenseelsorger hatte ihn gelehrt, dass man niemandem den Glauben lehren kann. Das ist unmöglich. Und die Theologie des 19. Jahrhunderts mit ihrem Versuch, Gott zu beweisen und damit die Richtigkeit von Bibel und Glaubensvorstellungen, ist gescheitert. Die wirklich großen Theologen wussten das. Man kommt dem Glauben nicht mit Ratio bei. Er hat eine völlig andere Basis.

Für Knüfer wie eine kleine Erleuchtung war das Buch „Die Augen des Glaubens“ von Pierre Rousselot aus dem Jahr 1963. Es geht um die „Unfassbarkeit des Lebens“, wie Knüfer sagt. Und wie er es selbst bei diesen ungläubigen Leipzigern erlebte, mit denen er es zu tun bekam, als er sich daran machte, sich den 85 Prozent Religionslosen in der Stadt zu widmen, und auch Gespräche zwischen jenen initiierte, die vorher nie miteinander gesprochen hätten – einerseits den Gläubigen, die sich in der DDR immer als Ausgegrenzte erlebten, und andererseits den Funktionsträgern des Staates, die ja 1989 ihr eigenes Armageddon erlebten.

Das vergisst man ja zuweilen und Knüfers Verwunderung darüber, dass dieser Dialog nie wirklich zustande gekommen ist, ist nur zu verständlich. Denn auch die Funktionsträger in der DDR waren in großem Ausmaß Gläubige. Dazu muss man wohl Priester sein, um das überhaupt verstehen zu wollen, dass viele Menschen, wahrscheinlich sogar die meisten, nur zu bereit sind, sich mit Haut und Haar einer Sache zu verschreiben, die größer ist als sie selbst und ihr Leben. „Ich glaub’, dass der Mensch auf Unendlichkeit angelegt ist“, sagt Knüfer, der sich auch im hohen Alter die fast kindlich anmutende Naivität des Sprechens bewahrt hat, die Brücken schlägt. Man hört ihm einfach gern zu, weil er sich nicht in Phrasen und Formeln flüchtet.

Denn all seine Erfahrung hat ihn gelehrt, dass die (jungen) Menschen, die zu seinen Angeboten kamen, nicht belehrt und berieselt werden wollten. Dass sie eher einen Ort suchten, wo sie ihre großen Fragen stellen konnten und ohne Zwang zum Richtigwissen darüber reden konnten.

Ganz am Ende wundert sich Knüfer regelrecht darüber, wie viel Dank er von den Menschen bekommen hat, die zu ihm gekommen waren. Er fühlte sich gar nicht als derjenige, der hier so etwas Großartiges getan hatte. Eher selbst als Beschenkter – und gleichzeitig als Verwirrter. Denn bis zum Schluss begriff er sich als ein Wanderer, der auch immer wieder ins Straucheln kam und sich nie sicher war, ob er auf dem richtigen Weg war.

Und trotzdem war er zuversichtlich und hat versucht, diese Zuversicht auch weiterzugeben. Aber eben nicht so, wie es Priester in der Regel mit salbungsvollen Worten tun und wie es selbst die emsigsten Kirchengänger eigentlich nicht mehr hören können. Denn dieser Salbungstrost funktioniert nur bei den wenigsten. Und die wenigstens suchen in der Kirche nach den Ritualen und priesterlichen Ermahnungen.

In Knüfers Erzählen steckt eigentlich die Frage, was Kirche eigentlich ist und sein sollte und warum Menschen so einen Ort eigentlich brauchen. Und die Antwort liegt nicht in den Ritualen und auch nicht in der Sehnsucht nach der alten Volkskirche, die Knüfer sowieso für ein Auslaufmodell hält. Noch so ein Irrtum konservativer Kommentatoren in den Zeitungen, die tatsächlich bis heute oft noch glauben, Menschen würden quasi einfach in die Kirche hineingeboren und damit wäre dann auch das christliche Denken qua Geburt Mainstream und das Maß aller Dinge. Gerade diese Illusion löst sich ja gerade auf.

Eigentlich gar nicht erst seit kurzem, denn die Entwicklung sah Knüfer ja schon in seiner Studentenzeit. Dieses selbstverständliche Erwarten von Priestern und Gesellschaft, dass junge Leute bitteschön automatisch gläubige Christen zu sein hätten, wurde ja gerade von der Studentenbewegung massiv infrage gestellt. Oft gerade von jenen Studenten, die von der erstarrten Kirche nicht mehr die Antworten bekamen auf die Fragen, die sie zutiefst bedrängten.

Knüfer erzählt es sehr anschaulich an Erlebnissen aus der Kindheit, die so oder so ähnlich alle Kinder machen, wenn sie in aller Unschuld die ganz großen Fragen stellen und in der Regel darauf keine akzeptablen Antworten bekommen. Zum Beispiel auf die Frage: Was kommt nach dem Tod? Einfach nur gar nichts? Recht hat Knüfer, wenn er sagt, dass man mit so einem „gar nichts“ eigentlich nicht leben kann. Wo ist dann der Trost im Leben, das Gefühl, trotzdem angenommen zu sein und akzeptiert als der Mensch, der man ist?

Für ihn ist es dann nur zu verständlich, dass diese Menschen dann ihren Ersatz in lauter Dingen suchen, die sie weder trösten noch stärken. Die ganze Konsumgesellschaft lebt von diesem massiven Verlust an Transzendenz. Da ist sie nicht einen Deut besser als die Religionsfeindschaft, die im Osten praktiziert wurde. Statt Antworten bekommen die Menschen nur lauter überflüssige Produkte angedreht, die nicht wärmen, nicht trösten und nicht heilen. Im Gegenteil: Es ist die Massenproduktion von Einsamkeit.

Während selbst die Menschen in seinen Leipziger Gesprächsrunden, die vorher nie miteinander gesprochen hatten, merkten, dass etwas völlig Neues entstand, wenn sie begannen, einander zuzuhören und miteinander zu sprechen. Auf einmal entsteht das, was heute so martialisch in die Binsen zu gehen droht, weil immer mehr Menschen den Begriff „Meinungsfreiheit“ damit verwechseln, dass nur ihre Meinung die einzig richtige ist. Sie benehmen sich wie Fundamentalisten, deren schlimmstes Leid ihre Unfähigkeit ist, den anderen Menschen in seiner Not und Bedrängnis zu sehen.

Natürlich deutet Knüfer auch an, dass ja einige der religiösen Begriffe durchaus eine Bedeutung haben. Aber sie sind kein Schlüssel, wenn man mit Menschen spricht, die den religiösen Code nicht gelernt haben. Man muss mit ihnen in ihrer Sprache sprechen. Und das tut Knüfer auch. Wer nur die salbungsvollen Töne diverser Predigten kennt, begegnet hier einem Mann, der selbst im Gespräch mit seinen Interviewerinnen einen selbstverständlichen Gesprächston findet, der niemanden ausschließt und schon gar nicht belehrend von oben herab kommt.

Hier erzählt einer, der aus Erfahrung weiß, dass es schon ein großes Glück ist, wenn man Menschen zum Miteinander-Sprechen bringt. Und wenn sie beginnen, tatsächlich über das zu reden, was sie sorgt, quält und umtreibt. Denn seelische Nöte erleben alle Menschen. Sie machen das Leben ja eigentlich aus – man verliert Freunde, scheitert in Liebe und Partnerschaft, geliebte Menschen sterben, Krankheiten stellen alle Gewissheiten infrage. Und die gesellschaftlichen Zumutungen kommen alle noch obendrauf, die einen nie als ganzen Menschen betreffen, sondern immerfort zerhackstücken und auffordern zu funktionieren, sich unterzuordnen und auch Respektlosigkeiten stillschweigend zu schlucken.

Jeder Mensch erlebt das. Aber kaum jemand kann wirklich davon sprechen. Als wäre uns allen der Mund verschlossen, wenn es um unsere größten Verletzungen geht. Man darf sich ja nicht schwach zeigen in einer Gesellschaft, in der ein gnadenloser Wettbewerb gepredigt wird, muss immerfort seine Rolle spielen. Und weil man meist nur noch mit Funktionieren beschäftigt ist, hat man keine Kraft mehr, sich um die Dinge zu kümmern, die einen wirklich atemlos machen. Eben weil sie unser eigenes kleines Leben übersteigen. So wie die Liebe, von der Knüfer auch erzählt.

„Das Leben ist mehr als das, was ich begreifen kann“, sagt er. Und das tut er nicht verzweifelt oder enttäuscht. Sondern geradezu glücklich selbst auf seine alten Tage. Denn genau das macht ihn ja zum Wanderer – und jeden anderen wohl auch, der sich nicht als junger Mensch hat festlegen lassen auf ein einziges Ziel im Leben, so, wie es die meisten heute mit sich machen lassen. Denn was für ein Leben hat einer noch vor sich, wenn er nur noch zielstrebig auf das eine Ziel hin losarbeitet und alle anderen Möglichkeiten (die in ihm schlummern ) nicht sieht, niemals auch nur als Alternative denkt?

Der Posten eines Bankdirektors ist schon in dem Moment nicht mehr so attraktiv, in dem einer auch ein Leben als Eremit für möglich hält. Das ist zumindest das Beispiel, das Knüfer selbst wählt, der selbst verwundert darüber ist, wie leicht es ihm fiel, den Weg des Priesters zu wählen und trotzdem immer das Gefühl gehabt zu haben, ein Wanderer zu sein. Mit allen Stolperern und Umwegen, die sich da auftun. Aber nur, wer so wandert, merkt, dass die Welt immer größer ist als das, was man kennt.

Und er lernt auch, dass es anderen Menschen eigentlich genauso geht. Und dass es eine durchaus faszinierende Entdeckung ist, wenn man merkt, dass Menschen, die einem vorher völlig fremd waren, auf einmal zeigen, dass sie von denselben Dingen berührt sind, ähnliche Nöte und Träume haben. Und wie befreiend es sein kann, ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Das steckt dann in den zwei Ratschlägen, die er den Zuhörenden mit auf den Weg gibt.

Und natürlich ist es ein Glücksfall, dass Diana Feuerbach und Christina Gauglitz hier jemanden zum Sprechen gebracht haben, der sich so frank und frei selbst infrage stellen konnte und über das nachgedacht hat, was ihm am Leben wirklich wichtig war. Davon wünscht man sich natürlich mehr, wohl wissend, dass die Alten in den Familien das meist nicht fertigbringen. Auch weil die Kinder und Enkel sich nicht trauen, die richtigen Fragen zu stellen, und weil jeder seine Rolle weiterspielt. Man möchte ja niemanden enttäuschen. Die Enttäuschung kommt erst danach, wenn sie gestorben sind und den Trauernden erst so richtig bewusst wird, was sie alles hätten fragen müssen und doch nie gefragt haben.

Aber das ist dann wie in dem Moment, wenn das Kind fragt: „Und was kommt nach dem Tod?“

Und die Antwort verweigert wird. Manchmal sollte man einfach innehalten und selbst darüber nachdenken. Es gibt nicht die eine richtige Antwort darauf. Wahrscheinlich gibt es für jeden sogar ganz viele mögliche Antworten. Auch das gehört zu unserem Menschsein in einer Welt, die unendlich viel größer ist als wir. „Aber ich frage!“, sagt Knüfer, der zuallererst immer sich selbst befragt hat. So begreift man zumindest ein bisschen was von seinem irdischen Wandern und von der Faszination, die das Leben auf diesem Planeten ausmacht. Ein nun bei Buchfunk in Form gebrachtes Hörbuch für alle, die keine fertigen Antworten erwarten, aber sehr beherzte Anregungen, sich und seine Mitmenschen so ernst zu nehmen, wie sie es alle verdienen.

Bernd Knüfer Aber ich frage!, Buchfunk, Leipzig 2021, 12 Euro.

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