Es gibt Bücher, die tauchen auf ganz seltsame Weise in unseren Bücher-Lese-Stapeln auf, als hätte sie ein Kobold hineingeschmuggelt. Vielleicht, weil er dachte: hey, ihr sitzt doch in Connewitz, diesem punkigen Leipziger Pflaster! Da könnte euch doch auch mal eine Geschichte aus dem ollen Westberlin interessieren. Von damals, als drumherum noch Zone war und in Kreuzberg Häuser besetzt wurden. Und auch noch eine Geschichte von Sven Regener, dem Sänger von „Element of Crime“.

Könnte ja sein. Könnte auch passen. Denn natürlich berühren sich Buchwelten zuweilen. Denn was Regener in „Glitterschnitter“ erzählt, passiert ja – ganz fiktiv – fast parallel zu dem, was Tom Schmieder in „Als wir einmal fast erfolgreich waren“ erzählt.Es ist das Westberlin der 1980er Jahre, ein ziemlich abgewracktes Westberlin, Kreuzberg in diesem Fall, bei dem man – wenn man’s nicht weiß – nie auf die Idee käme, dass ausgerechnet der kleine Herr Lehmann die wichtigste Figur sein könnte.

Er, meist nur Frank genannt, Bruder von Freddie und in diesen doch erst einmal sehr abgewrackten Tagen des Jahres 1981 nicht mehr als die Putzkraft in der Kneipe „Einfall“, die sich gleich neben der noch abgewrackteren „Intimfrisur“ befindet, in der ein paar Österreicher um Peter Immel versuchen, selbst irgendetwas ganz Ausgefallenes auf die Beine zu stellen.

Eine Stadt voller Träume und Größenwahn, in der im Grunde fast all die Figuren, die Regener auftreten lässt, mehr oder weniger angespült und gestrandet sind.

Die Kenner von Regeners Welt wissen, dass er die erste Geschichte um Herrn Lehmann schon 2001 als Buch veröffentlicht hat. Seitdem hat er weitere Titel folgen lassen, in denen er Lehmanns Leben quasi von hinten her aufspult.

Eben bis in diese seltsame Zeit in der „Frontstadt“ Berlin, in der sich hier – in gewisser Entfernung zum bundesdeutschen Plüsch – eine wilde und experimentierfreudige Welt der Kultur und Lebenstile entwickelt hat. Die eingemauerte Stadt bot Freiräume, die viele der dort Anlandenden in der Bundesrepublik nicht mehr gefunden haben.

Das wird im heutigen Gemaule des großen Feuilletons über Berlin meist wegretuschiert oder gilt gar als Folie für giftige Angriffe auf Berlin im Ganzen und diese rebellischen jungen Leute im Speziellen, die damals ganze Gegenkulturen schufen. Eine Welt, die zuweilen auch hochprofessionell gegen den bürgerlichen Mief opponierte. Schön ins Bild gebracht etwa in dem 2016 im Lehmstedt Verlag erschienenen Bildband „Die wilden Achtziger“ von Christian Schulz.

Die Welt ist eine Show …

Und mit „Glitterschnitter“ skizziert Regener ja im Grunde eine jener vielen mehr oder weniger verrückten Bands, die damals in Westberlin entstanden, auch wenn der schillernde Name erst einmal neu ist und die drei Jungs, die hier mit Schlagzeug, Synthesizer und Bohrmaschine versuchen, ihren ersten großen Auftritt beim Mauer-Konzert zu ergattern, sich eben gerade von ihrem Bandnamen verabschiedet haben, der vorher halt ein Filmtitel war.

Und natürlich verrät Wikipedia, dass auch „Element of Crime“ vorher ein Filmtitel war. Man darf also all die Begründungen, die sich Regeners Helden und Heldinnen gegenseitig geben, warum sie was tun oder lassen, nicht allzu ernst nehmen. Und sie reden viel, zuweilen auch auf hohem Shakespearschem Niveau. Aber auch das ist nur Show, so wie die gesamte Szene rund um das Café „Einfall“ und die „Intimfrisur“.

Also eigentlich wie auch sonst im Leben der Menschen, die sich gern alle was vormachen und eine Rolle spielen, von der sie glauben, dass sie von den anderen geglaubt wird.

Sodass eine Menge Leute dann eben auch eine Menge Zeit und Kraft darauf verschwenden, ja nicht aus der gewählten Rolle zu fallen und ja keine menschlichen Schwächen zu zeigen, obwohl genau die damit erst richtig sichtbar werden. Samt der Tatsache natürlich, dass manch ein Jürgen oder Punk auch deshalb in dieser Kreuzberger Szenerie gelandet ist, weil ihm ein bürgerliches Leben mit Verantwortung und solchem Kram einfach zu anstrengend war.

Selbst Immels „instand gesetztes“ Haus ist im Grunde durch die Faulheit seiner Jürgen-Wohnkommune zu einem mies verwalteten Provisorium geworden, in dem das Geld vor allem in Büchsenbier fließt und die hochtrabenden Pläne, das letztlich kraftlose Projekt „Intimfrisur“ in ein „Café an der Wien“ zu verwandeln, nicht mal auf die Beine kommen, weil die ach so altklugen Helden der Weisheit der Welt übers Reden, Diskutieren und Kraftmeiern nicht hinauskommen.

Der leichte Vorgeschmack der Gentrifizierung

Im Grunde ist das Buch nicht nur eine liebevolle, sondern auch eine sehr ironische Beschreibung dieses Milieus, in dem man sich zuweilen fragt: Wovon leben alle diese Leute eigentlich? Denn so richtig lebenstüchtig scheinen etliche von ihnen nicht gerade zu sein. Wären da nicht einige Gestalten, die sich davon gar nicht beeindrucken lassen und ihr Ding machen.

Selbst Erwin, der Inhaber des Cafés „Einfall“, der die Gedanken seiner Putzhilfe Frank durchaus ernst nimmt, als der ihm erklärt, wie in anderen Berliner Cafés längst das große Geschäft mit aufgeschäumtem Milchkaffee gemacht wird. Womit Frank dann ziemlich bald selbst an der Aufschäummaschine landet und das Café zum Treffpunkt der Schwangeren aus dem Kiez macht.

Was nicht ganz ohne Verstörungen und Störungen abläuft. Was aber zu erwarten war, denn augenscheinlich hat Regener hier auch zeitlich den Moment eingefangen, in dem das alte Hausbesetzer-Westberlin auf das neue, verbürgerlichte Berlin traf, das heute mit seinem Prenzlauer Milieu das Bild dominiert. Die Verdrängung begann also schon früh. Und es ist überhaupt nicht ausgemacht, dass die doch ziemlich chaotische Band Glitterschnitter es schaffen wird, Leo, die Frau, die über die Teilnahme am großen Festival entscheidet, zu überzeugen, dass sie dabei sein darf.

Was tatsächlich eher ein Ding der Unmöglichkeit ist. Wäre da nicht Lisa, die sich einfach selbst samt Saxophon in die Band einlädt und der Truppe am Ende wenigstens genug Eindruck herausschindet, dass Leo ihr Okay gibt. Und das nach einem eiligst aus dem Boden gestampften Konzert in der „Intimfrisur“, das eigentlich schon herrlich am Scheitern war, weil der Großteil der Jürgen und Michaels längst wieder am Saufen war und die Punks aus dem Hinterhaus kurz davor, den Laden zu zerlegen.

Spiegel einer selbstgefälligen Prosperität

Auch der Action-Künstler H. P. Ledigt ist dabei und erlebt die Zerstörung seines Life-Paintings geradezu als Erleichterung. Man muss wirklich nicht allen Erwartungen genügen. Und wenn man als Künstler keine langweiligen Ölschinken malen will, dann muss man sich dem nicht fügen. Die Zerstörung seines Kunstwerks ist beinah schon Höhepunkt und Finale des Buches, das in seiner szenischen Durchmischung längst schon wieder wie die Vorlage für den nächsten Regener-Film wirkt. Da dürften auch die Script-Schreiber wenig Mühe haben, aus den zum Teil irren Dialogen entsprechend plastische Filmszenen zu machen.

Eins jedenfalls ist das Buch nicht: ein Schmöker, ein gedankenschweres deutsches preisverdächtiges Großwerk mit dem Anspruch professoraler Selbstgerechtigkeit. Selbstgerecht sind zwar alle in diesem Roman – aber ihre Selbstgerechtigkeit entlarvt sich in Reden und Gesten, läuft geradezu ins Leere oder kehrt in großer Pose zum schon einmal Gesagten zurück.

Im Grunde ist Regeners Sicht auf seine nur scheinbar abseitigen Protagonisten auch das gespiegelte Porträt einer selbstgefälligen Gesellschaft, in der auch die Herren im feinen Zwirn immerfort nur reden, dolle philosophische Ergüsse und Erkenntnisse von sich geben und die Kleinkariertheit ihres Tuns durch aufgeblasenes Geschwätz kaschieren.

Das war damals so. Und wirklich viel hat sich daran nicht geändert. Nur dass es bisher noch keinen Autoren gefunden hat, der die geschwätzige Selbstgerechtigkeit der Gutbezahlten und Arrivierten so in ein Buch bekommen hätte, dass man unterwegs beim Lesen auch noch sein Vergnügen an diesem Gerede gefunden hätte.

Wie man sich um Kopf und Kragen redet

Was mit Regeners wilden Typen freilich der Fall ist. Sie schwatzen nicht nur, sondern verschwatzen sich auch, fallen aus der Rolle, sagen Dinge, die sie eigentlich nicht sagen wollten, reden sich um Kopf und Kragen und – wie der Kellner Klaus – um ihren Job. Also so, wie das im richtigen Leben auch passiert, wenn man ständig alles erklären will und ständig Position beziehen will und die anderen zum Antworten bringen will.

Das kann zwar helfen, sich zu verständigen. Aber es kann auch bärisch in die Hose gehen, wenn es immer nur um die eigene Eitelkeit oder das Gefühl geht, von anderen ständig ungerecht behandelt zu werden. Sage niemand, dass nicht unsere so von Selbstgerechtigkeit triefende Gegenwart mit hineinspielt in dieses Buch.

Oft glauben wir nur, dass wir so viel weiter und klüger sind als unsere früheren Ichs. Aber das ist ein Trugschluss. Bestenfalls sind wir nicht mehr ganz so naiv und trottelig und nicht mehr so schnell beschämt, wenn wir uns dabei ertappen, mal wieder Blödsinn geredet oder gemacht zu haben.

Dass auch vieles Reden nicht unbedingt hilft, wenn man das wirklich Beschämende oder Verwirrende nicht sagen will oder kann, das erlebt in diesem Buch vor allem Chrissie, die eigentlich den Job am Tresen des Café „Einfall“ hat, über den sie froh ist, weil sie so ein Einkommen hat in dieser fremden Stadt, in die sie ja auch aus dem engstirnigen Stuttgart geflüchtet ist, um der Umarmung ihrer Mutter Kerstin zu entfliehen.

Die dann aber just vor Weihnachten auftaucht, weil sie mit einem gewissen Wiemer eine Liebschaft angefangen hat. Oder was immer das ist, denn wenn man den Monologen der beiden zusieht, merkt man, dass die beiden tatsächlich mehr füreinander empfinden, als sie sich trauen zu sagen. Aber das scheint – zumindest in diesem Buch – erst mal schiefzugehen. Erst recht, nachdem Chrissie ihrer Mutter ebenfalls ungewollt signalisiert hat, dass sie am besten verschwinden solle. Obwohl auch das nicht so gemeint war.

Das Verschwinden der Freiräume

Was dann wohl auch die meisten Leser/-innen kennen dürften: diese verflixte Intensität aller Gefühle gerade dann, wenn es um die nächsten und vertrautesten Menschen geht. Da sagt man wirklich oft Dinge, die einem schon beim Ausgesprochensein richtig wehtun. Und natürlich hat man sie nicht so gemeint. Aber das, was man eigentlich gemeint hat, konnte man nicht sagen. Oder nicht so, dass es nicht verletzt.

Verflixte Beziehungskisten, könnte man sagen, wäre nicht ausgerechnet diese sprachlose Dreierkonstellation wie ein wärmendes Feuer in dieser Geschichte, in der die meisten Akteure nur großmäulige Reden halten. Manchmal auch altkluge. Manchmal auch ausweichende, wie der neue Kontaktbereichsbeamte (KOB) im Revier.

Dessen eigentliche Not man auch erst ganz zum Schluss erfährt, wenn das Konzert in der „Intimfrisur“ eskaliert und Frank zum Lebensretter wird. Der kleine Lehmann, der zumindest am Ende nicht aus der Geschichte verschwindet, anders als die beiden Österreicher, die sich noch mitten in der Nacht den nächsten Zug Richtung Süden schnappen, weil sie gemerkt haben, dass man in diesem Westberlin nicht wirklich heimisch werden kann.

Dieses Gefühl einer allwaltenden Gleichgültigkeit und spürbaren emotionalen Distanz überall, das haben auch etliche der anderen Akteure in diesem wilden Panorama. Doch für manche ist das wie eine Erleichterung, weil damit auch die bürgerliche Besorgtheit und Kontrolle wegfällt. Westberlin war für wenige Jahr wirklich die Stadt des Unmöglichen und der ungehemmten Möglichkeiten, Dinge zu tun, die in der durchpolierten Wirklichkeit des satten Westens so nicht mehr möglich waren.

Und auch deshalb wirkt das Buch wie ein Gegenentwurf zu unserer heutigen Wirklichkeit, in der diese wilden, unkontrollierten Freiräume immer mehr verschwinden. Denn Prosperität sorgt eben leider auch dafür, dass die unkontrollierten Räume verschwinden, von Investoren in Besitz genommen und vermarktet werden.

Nicht unterkriegen lassen

Also ist das Buch wohl doch nicht so zufällig hier in Connewitz gelandet, wo die polizeiliche Vertretung des gesättigten Wohlstands schon seit Jahren ihre forcierten Kleinkriege gegen das ungebändigte Völkchen der Autonomen führt. Was ja gerade auch Abo Alsleben in seinen Büchern immer wieder thematisiert. Manchmal muss man auch den Blickwinkel verändern, damit man sieht, dass die „Kriminellen“ und „Chaoten“ auf den Titelseiten der bürgerlichen Zeitungen dort auch landen, weil der prosperierende Wohlstand keine wilden Zonen duldet, keine unkontrollierten oder unkontrollierbaren Räume.

Was dann auch die Bands zu spüren bekommen, die ihre Proben- und Auftrittsräume verlieren. Dieses etwas abgewrackte alte Westberlin ist eigentlich überall zu finden – und überall am Verschwinden, verdrängt von einem Markt, auf dem andere Leute das Sagen haben und die Deutungshoheit in den Medien. Nicht mal die Peter Immels, denn dieser Immel verzweifelt ja daran, dass es ihm mit all den Jürgens nicht gelingt, das Hausprojekt irgendwie auf die Beine zu bekommen …

Viele Leser/-innen werden natürlich ihren Spaß an all den ausufernden Dialogen finden, die ja im Grunde so ungewöhnlich nicht sind, weil wir ja im richtigen Leben oft genauso sinnlos und ohne Nebelscheinwerfer in die Irre reden und damit Geschirr zerdeppern, das wir hinterher erst wieder mühsam kitten müssen. Aber Anfänge sind eben meistens nicht glorios, sondern entspringen verrückten Einfällen und Narreteien.

Ob dann was draus wird, das liegt dann an der Energie der Leute, die einfach dranbleiben, weil es ihnen lebenswichtig ist. Das betrifft Beziehungskisten genauso wie Band-Kisten und Café-Projekte. Irgendwie muss man schon bereit sein, sich richtig reinzuhängen, damit so was draus wird wie zum Beispiel „Element of Crime“. Oder so ein Lebens-Buch-Projekt um den ganz und gar nicht so kleinen Herrn Lehmann, der sich auch beim Milchaufschäumen nicht unterkriegen lässt.

Sven Regener Glitterschnitter, Galiani Berlin, Köln 2021, 24 Euro.

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