Nach vorn schauen – lautet am Ende des turbulenten Jahres 2022 eines der unzähligen Selbstbefestigungsmantras. Gut, dann verliert man künftige Ziele nicht aus dem Auge, verdaut Niederlagen und genießt neue Siege. Besser noch, wenn Schmerzen verschwinden, Aktivität und Bewegung erfolgen, im Nach-vorne-Gehen das Überwinden von Stehen-Bleiben und Verharren steckt, im schlimmen Fall der eigenen persönlichen Krise.

Am besten und im anzustrebenden Fall hat man die Vergangenheit derart hinter sich gelassen, wenn man sie ins laufende und künftige Geschehen zu integrieren versteht. Ontologisch wie globalpolitisch anwendbar. Soll weitergedacht heißen, dass man künftige politische, ökonomische und ökologische Blickrichtungen und Entscheidungen im Bewusstsein der vergangenen Fehler korrigiert. Im Idealfall.

Korrekturen. Die merkte der Schriftsteller, der „Chronist ohne Botschaft“ Christoph Hein bereits 1990 in seinem Aufsatz „Die Zeit, die nicht vergehen kann oder das Dilemma des Chronisten“ an, den Charakter der Geschichtsschreibung als Unparteiische im Wettbewerb der politischen Deutungsvarianten hervorhebend und betonend. Das erscheint mir gerade in den heutigen wiederauflebend-ideologischen Zeiten wieder aktuell. Und macht nachdenklich.

1990. Auch eine „Zeitenwende“. Hein philosophierte seinerzeit über den „Nationalcharakter“ unseres Volkes. Wie sollten diese zwei Deutschlands zueinander passen? Naiv erscheinen uns heute vielleicht diese utopischen Gedanken des vorurteilsfreien Systemvergleichs, als man sich noch vor den ersten gesamtdeutschen Wahlen im März 1990 auf Augenhöhe mit dem „Klassenfeind“ wähnte, sich in progressiven, eher intellektuellen Kreisen eine friedliche Vereinigung und Symbiose beider Systemtugenden wünschte.

Titelblatt der Dezember der LEIPZIGER ZEITUNG, LZ 109.
Titelblatt der Dezember der LEIPZIGER ZEITUNG, LZ 109. Foto: LZ

Im Wunsch steckte aber auch die ernüchternde Erkenntnis. „Ein Staat, die DDR, hat sich damit abgefunden, mit einem anderen Staat durch eine gemeinsame Geschichte und nationale Bindung nolens volens verknüpft zu sein, und beharrt lediglich darauf, der fortschrittlichere Teil zu sein.

Er setzte langfristig auf den Systemvergleich, auf den Vergleich zwischen einem von Markt, Profit und Ausbeutung beherrschten und einem von Ausbeutung freien Staat, versehen mit einem dichten sozialen Netz für die gesamte Bevölkerung.“

Und: Sein unlösbares Dilemma: der Sozialstaat ermöglicht allen ein sorgloses Leben, unbesorgt allerdings auch um die eigene Leistung. Mit dem Profitsystem wurde die Arbeitslosigkeit abgeschafft, mit der Arbeitslosigkeit jedoch auch jedes wirksame Leistungsprinzip und damit die effektive Arbeit.

Hein legte seinerzeit den Finger in die tiefe realsozialistische Wunde. Benannte die Grundschwäche des Freiwilligkeitsprinzips. (Heute zum kapitalen Hauptargument gegen einen „ausgeschlachteten Sozialstaat“ – Stichwort „Bürgergeld“ – geworden.)

„Der andere deutsche Staat, die Bundesrepublik, schuf mit den alten kapitalistischen Mitteln ein funktionierendes Wirtschaftssystem auf der alten Basis: Heil den Siegern und Weh den Besiegten.“ Auch richtig. Immer auch mit einem Anspruch, „alle Deutschen“ zu vertreten, gab man sich in der Bundesrepublik-Alt auch immer siegesgewiss nach vorn schauend den souveränen Anstrich, für ein „Deutschland-Neu“ zu stehen.

Einige Seiten weiter wird es richtig interessant. „Mit der Wiedervereinigung der Nation kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur die Einverleibung der DDR gemeint sein. Damit aber droht zumindest die Gefahr eines erneuerten Kalten Krieges.“

Missverständnis oder politisches Hell-Sehen zu Beginn des Jahres 1990? Lassen wir uns auf Heins Gedanken ein, heißt das: Steckte in der Form, im Modus der deutschen Wiedervereinigung bereits der Keim künftiger Demokratieerosion? Ja und nein.

Hein setzt den Beginn eines deutschen, historischen Befindlichkeitsdiskurses mit dem sogenannten „Historikerstreit“ Ende der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts gleich, deutsche Schuld und Verantwortung in und für die eigene Geschichte thematisierend.

Aber auch da zeigte sich bereits das gewachsene (west-)deutsche Selbstbewusstsein, die nationale Vergangenheit mit festgezurrten „Narrativen“ (Kandidat für das „Unwort“ des Jahres 2022) endgültig zu bewältigen. Die Sieger wissen eben immer, was richtig war und ist.

Das „Dilemma des Chronisten“ – wie Christoph Hein seinen Aufsatz überschreibt – worin besteht es denn nun? In aller Kürze nicht einfach zu beantworten. Versuchen wir es, dann bleibt eine Antwort des ersten Teils seiner Überschrift übrig.

Foto: Suhrkamp

Sie liegt in der „Zeit, die nicht vergehen kann“. Die wird von einem nicht enden wollenden Systemvergleich bestimmt. Gewissheit herrscht darüber, dass die Demokratie, und nur ein demokratisch organisierter, humanistischer Staat die Mehrzahl der Menschen sozial bergen und annähernd gerecht beherbergen kann. Auch praktisch ist dieses Theorem als bedingungslos für die berechtigte Dauerexistenz der Menschheit anzusehen.

Warum dann aber dieses immer stärker werdende Bemühen in zahlreichen Denkfabriken der „vierten Gewalt“ alle demokratiefernen Autoritäten einander gleichzusetzen, die Feinde zu „bündeln“ sozusagen, ohne Intentionen und Programmatik genauer zu analysieren und verstehen zu wollen? Zu unterscheiden zwischen geplanten Verbrechen und Verrat an Idealen?

Das „Dilemma des Chronisten“ besteht im Heinschen Verständnis in strenger Wissenschaftlichkeit, um damit beinahe gleichzeitig der Versuchung der staatlich vorgedachten Mythen- und „Geschichtsbildung“, als „Religionsersatz“, wie er es nennt, zu widerstehen. Was wäre denn die Alternative? Geschichte als Herrschaftsinstrument – immer wieder anders akzentuiert, ausgerichtet an politischer Verwertbarkeit? (Würde man das dann nicht schon Ideologie nennen?)

Heins Aufsatz aus dem Jahre 1990 bietet sich dennoch als eine zeitlose Lesebrille an, lässt die aktuell-politische Tagesinformation konturierter erscheinen. Sein Stil ist angenehm verdaulich, denkend-schreibend im besten Sinn, die Standpunkte in der Ost-West-Geschichtsschreibung wechselnd gegenüberstellend.

Und Hein wird immer besser, zum Ende hin, mit trotzig-kämpferischem Ton bilanziert er, geradezu fordernd wird er:

„Sinnstiftung und Religionsersatz. Wir sind uns schnell einig, dass es nicht die Aufgabe von Geschichtsschreibung und Literatur sein kann und darf, dem Staat und der Kirche beizuspringen. Der Dissens, die abweichende Meinung, die ja immer eine Abweichung von der herrschenden Meinung ist, wird von uns verlangt, um ein einseitiges, erstarrtes Bild zu korrigieren. Ein Chronist, also auch der Autor als Chronist seiner Zeit, ist als Religionsstifter untauglich, da für ihn das erste Gebot jeder Religion nicht gilt, nämlich andere Götter nicht anzuerkennen. Der Chronist muss dem anderen Gott Gerechtigkeit widerfahren lassen, er hat die Tugenden und die Untugenden aller Götter zu nennen.“ Die Untugenden aller Götter. Wie recht er doch hat.

Christoph Hein: Zeit, die nicht vergehen kann oder das Dilemma des Chronisten, in: Als Kind habe ich Stalin gesehen. Reden und Aufsätze aus dem Jahr 1990, Berlin 1990.

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