„The winner takes it all“. Popschwedisch begann das Jahr 1980. Es wurde ein bedeutendes Jahrzehnt eingeleitet. Das waren die letzten 10 Jahre des „Kalten Krieges“, die mit dem Untergang des staatssozialistischen Gegenmodells endeten. Historisch gerecht, weil sich die Menschen nicht zurechterziehen ließen, um sich dann eine Vision (oder Utopie?) einer schwächelnden Planwirtschaft und parteidominierten Einheitsstaat einzuhandeln.

Der System-Wettbewerb kam Ende der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts auch an sein friedliches Ende. Der deformierte Realsozialismus hatte verloren. Dies hatte Folgen bis in die Gegenwart. Übrig blieb nur eine „Supermacht“. Jenseits des Atlantiks. Für viele das Traumland von Freiheit und Demokratie. Mit „kolossalen Produktivkräften“ (Marx).Die USA gingen zum zweiten Mal als Sieger vom Platz des Weltgeschehens, bestimmten fortan das in vielen Teilen liberale Verständnis von gelingender Lebensführung und -kultur.

Das von Freiheit in einer Welt, der ein erster großer Krieg nicht reichte, in einer Welt, die in den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts eine noch brutalere Variante als den kaiserlichen Imperialismus abwehren musste und danach zur Hälfte in Trümmern lag und irrsinnig viel Leid ertragen musste.

Im Osten Europas ging zwar wieder die Sonne auf, aber 25 Millionen Menschen in der UdSSR hatten ihr Leben verloren, 10.000 Städte und 70.000 Dörfer waren zerstört, ein riesiger materieller und ideeller Schaden blieb zurück. Fast hätten die deutschen Aggressoren die russischen Städte Moskau erobert und St. Petersburg (früher: Leningrad) ausgehungert.

Foto: C.H. Beck

Opfer des Faschismus gab es viele. Der Völkermord am jüdischen Volk steht an vorderster Stelle; „rassisch Minderwertige“ gab es für die „nationalen Sozialisten“ aber noch viele andere. Sie kamen aus Polen, Ungarn, Frankreich, Holland, Serbien … und vor allem aus der Sowjetunion. (Der Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß nahm seine ersten „Zyklon B-Versuche“ an 900 sowjetischen Kriegsgefangenen vor.)

Es waren dazu noch politisch Verfolgte, die unter dem Faschismus ihr Leben verloren. Kommunisten – die in Deutschland bereits 1932 warnten – „Hitler – das ist der Krieg!“, Sozialdemokraten, die mutig gegen das „Ermächtigungsgesetz“ 1933 gestimmt hatten, Christen wie den Bischof Galen, die Geschwister Scholl, der mutige bürgerliche Widerstand unter dem Grafen Stauffenberg nicht zu vergessen. Und und und.

Kein Grund, irgendeine mutige Tat gegen den Nationalsozialismus zu verschweigen oder geringzuschätzen. Der unerhörte Preis des Kampfes gegen die nazistische Mordmaschine mündete im Schwur „Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!“ Und es gab die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“, verabschiedet von der mächtigen neu geschaffenen Völkergemeinschaft, den Vereinten Nationen. Am 10.12.1948.

Aber schnell zeigte sich, dass Nationalismus, Rassismus und imperiales Denken – drei wesentliche „Nährstoffe“ eines aggressiven Kapitalismus – nicht aus den Köpfen der Menschen verschwunden waren oder sich mit dem Sieg über den Faschismus praktisch in Luft aufgelöst hätten. Mitnichten. Hüben wie drüben jenseits des „Eisernen Vorhangs“ wurde nach 1945 ein Spiel um die globale Vormachtstellung praktiziert.

USA und Sowjetunion plus ihnen folgende Blocksysteme hießen die Hauptkonkurrenten in diesem neuen, bedenklichen Spiel zwischen Drohungen, Einmischung in Angelegenheiten fremder Länder und Regierungen. Im Kampf um die Weltherrschaft. Das Spiel wurde nicht fair gespielt.

Organisierte Putsche bspw. gegen lateinamerikanische Regierungen da, sowjetischer Revolutionsexport auf der anderen Seite. Mit so unterschiedlichen Ausgangspositionen. Im Osten 1945 ein zerstörtes Land, auf der anderen Seite der Welt eine Wirtschaft, die sich 1944 den Dollar mit Gold decken lassen konnte. Heute, da es nur eine alte, überlebende „Supermacht“ auf der Welt, aber neu hinzugekommene Kontrahenten im Kampf um die globale Vormachtstellung gibt, stehen die USA als Sieger der Geschichte fest.

Sind Werteträger der Demokratie im Kampf gegen undemokratische Regimes in der ganzen Welt; an ihrer Seite eine Europäische Union, die sich als ehrgeiziger Mitkonkurrent auf den Weltmärkten zu konsolidieren versucht. Und für „Regime Changes“ in den russischen Anrainerstaaten eintritt. Russland – die Sowjetunion 2.0. So versteht man Putin. Oder besser, will ihn so verstehen.

Das Titelblatt der LEIPZIGER ZEITUNG Nr. 99, Februar 2022. Foto: LZ

Dessen Vorgängern wurde von westlicher, transatlantischer Seite, namentlich von US-Außenministern nach der Transformation der Sowjetunion in die Hand versprochen, dass man es mit dem Siegen nicht übertreiben will, die Sicherheitsinteressen Russlands künftig beachten und respektieren wird. Ja, vielleicht sogar zur Integration bereit ist, in die westliche „Wertegemeinschaft“.

Aber Worte müssen an Taten gemessen werden, russische Angebote der Zusammenarbeit (Putins Rede 2001 im Bundestag zeugte davon) wurden unbeachtet gelassen, man ging auf den Kurs der Konfrontation bei stillschweigend praktizierter (und wirtschaftlich notwendiger) Kooperation. Putin lieferte ja die „diktatorischen Gründe“, die an anderer Stelle, zu anderen Zeiten, bei anderen Regimen keinen Protest hervorriefen.

In diesem Kontext wird nicht erst seit heute begonnen, die politischen Vorgänge und Resultate des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit umzudeuten. Da sind dann plötzliche ukrainische Opfer mehr wert als russische (waren es nicht alles „sowjetische“?) im Kampf gegen die Hitler-Barbarei.

US-amerikanische Kriegsverbrechen von Hiroshima 1945 bis My Lai 1968 in Vietnam liegen ja weit zurück in der Geschichte, mahnen nicht daran, an der supranationalen Verwerflichkeit von kapitalistischen Weltmarktinteressen zu zweifeln. Eine vereinfachende Dichotomie macht sich im deutsch-offiziellen Krisenverständnis des „Ukraine-Konfliktes“ breit, sieht im „Kreml-Diktator“ einen wiedergefundenen „bösen“ Dauerfeind.

„Ex oriente lux“ – soll wohl aktuell heißen, dass nur dort in „Putins Reich“ das Verfolgen Andersdenkender sichtbar ist. Unrecht benennen – ja, natürlich. Sagen, was ist. (H. Arendt), aber dann bitte ohne doppelten Boden bzw. Standards. Immer und überall auf der Welt.

Meint auch Michael Lüders (*1959), kundiger und anerkannter Politik- und Islamwissenschaftler, Vorsitzender der Deutsch-Arabischen Gesellschaft. Er setzt mit seiner kritischen Betrachtung der USA als „Scheinheilige Supermacht“ einen wichtigen Kontrapunkt im Diskurs um historische „Begründungen“, die gegenwärtig für drohendes Eingreifen und wirtschaftliche Sanktionen aus dem Schrank der Geschichtsapologetik geholt werden.

Lüders zitiert US-Berater wie Brzezinski und Wolfowitz, die schon Ende der 90er Jahre vor der Geringschätzung russischer Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen warnten und gleichzeitig ein US-amerikanisches Engagement im postsowjetischen Raum forderten.

Er führt Gründe an, warum „wir aus dem Schatten der USA heraustreten müssen“. Lüders untersucht US-amerikanisches Engagement im nahöstlichen und eurasischen Raum in den letzten Jahren, analysiert Formen des „Meinungsmanagements“ in amerikanischen Medien, welche dann ein militärisches „Eingreifen“ rechtfertigen sollen.

Schon vergessen? Aus Demokraten werden Diktatoren und Terroristen (und umgekehrt), wenn es wirtschaftlichen Interessen nutzt (Bin Laden, Gaddafi, Saddam Hussein usw.).

All dies lässt das überseeische Bündnis der momentan kaum diskutierten „transatlantischen Partnerschaft“ – verkörpert von einer grünen Außenministerin – im besten Sinne fragwürdig erscheinen. Deren Vorgängerinnen, Gründungsväter und -mütter der Grünen wie Gert Bastian oder Petra Kelly würden sich schon verwundert anschauen, wenn ein Koalitionskanzler in Washington treu und brav der amerikanischen „Bestrafungsmentalität“ folgt.

Gerne „Abschreckungslogik“ genannt. Ökologisch noch verdutzter würden sie schauen, wenn umweltschädlich gewonnenes US-Erdgas plötzlich den „hohen Preis“ westlich-amerikanischen Menschenrechtsverständnisses wert ist und man begangenes Unrecht – wie schon erwähnt – nur jenseits der eigenen Denkfiguren zu sehen bereit ist.

Vielleicht würden beide aber aus dem Theodor Adorno Aufsatz „Erziehung nach Auschwitz“ aus dem Jahre 1966 zitieren. „Die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie, wenn ich den Kantischen Ausdruck verwenden darf; die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen.“

Hinweis d. Red.: Da es in den sozialen Medien zum Beitrag Kontroversen gibt, weisen wir darauf hin, dass es sich um eine Buchrezension handelt, welche vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine entstand und sich um das Buch von Lüders dreht. Keinesfalls heißt der Autor den Angriff oder Krieg gut, noch stellt er hier eine „Putin-freundliche“ Haltung dar, wenn er auf Verwerfungen der westlichen Welt hinweist. 

Michael Lüders Die scheinheilige Supermacht, C.H. Beck 2021, 293 S., 16,95 Euro.

„Überm Schreibtisch links – Alles für den Sieger“ erschien erstmals am 25. Februar 2022 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 99 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

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Es gibt 3 Kommentare

Vielleicht solltet ihr ganz an den Anfang des Artikel schreiben, wann er entstanden ist.

Ich bin schockiert über Euern Beitrag! Nicht weil ich den amerikanischen Kapitalismus schätze, sondern weil Ihr den russischen Überfall auf die Ukraine so bagatellisiert und die Fakten bezüglich des russischen Hegemoniestrebens ignoriert. Vielleicht solltet Ihr mal hinsehen, dass das nicht der 1. militärische Überfall auf Nachbarstaaten ist. Erst nach Annexion der Krim gab es in der Ukraine eine Mehrheit für den Beitritt zum westlichen Bündnis, die Ukraine hat ihre Massenvernichtungswaffen freiwillig abgegeben, um ja den mächtigen Nachbarn nicht zu reizen. Und was die Rolle der Sowjetunion bezüglich des 2. Weltkriegs betrifft, möchte ich hier mal auf den Hitler-Stalin-Pakt verweisen. Da gab es keine Skrupel! Das mindert nicht das Leid der Zivilbevölkerung und auch der Soldaten, die keine Wahl hatten, aber macht sehr verständlich, warum sich osteuropäische Staaten lieber nach Westen orientieren. Es ist mir völlig unverständlich, wie Ihr bedauert, mit einem Diktator, der Kritiker im eigenen Land und im Ausland ermorden lässt, der Kritiker auch gerade wieder zu Tausenden einsperren lässt, bedauert, er hätte nur nicht genügend Gehör mit seinen friedlichen Absichten gefunden.

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