Grenzen. Sie spürt man täglich und will sie sich vom Leib halten. Aus meteorologischer Sicht: Die einen trotzen dem Hitzesommer, indem sie sich in ein Regenfass in den Garten stellen, die anderen entfliehen ins luftigere Urlaubsquartier. (Fliehen, nicht fliegen.) Ob entspannen im Norden, leidenschaftlich im Süden, genussvoll im Westen – oder bestenfalls alles zusammen – raus aus dem Alltag der bleiernen Pandemie-Dauerwellen und drohenden Kältewellen des nahenden Herbstes. Wenn vorm Tanz auf dem Vulkan die einen warnen, schauen sich die anderen das Naturschauspiel aus der Erholungsperspektive an. Ja, und?

Es gibt es doch wohl noch, das Recht auf Auszeit, Freizeit, Urlaubszeit, oder etwa nicht?! – Wenn die moralische, soziale, ökologische und kulturelle Bildung einigermaßen stimmt, wir uns „aktiv und passiv“ erholen, die Reflexion, besser noch die Bewusstseinserweiterung im Gesamtpaket enthalten ist, klar. Wir wollen ja keine Barbaren sein. Immer etwas Gutes nach Hause zu fotografieren, posten und zu twittern haben. Und im Gegenzug tolerant-gut finden, was die Nachbarn aus der anderen Urlaubsecke an Highlights herübermailen.

„War aber kurz, schon zu Ende, der Urlaub?“, fragte mich unlängst – nennen wir ihn Mario – in meinem Stammlokal. Ein „herzensrau“ wirkender Mittvierziger, verheiratet, mit „gefährlichem“ Kurzhaarschnitt. Im Denken und Diskutieren oft laut und dominant, manchmal anstrengend. Seltsam überzeugt kommt er mit seinen Vorurteilen über Linke, Grüne und „überhaupt alle Politiker“ daher.

Seine Erkenntnisse gewinnt er aus YouTube-Videos, selten kann man ihn vom Gegenteil einer vorgefertigten Meinung abbringen. Er unterscheidet streng zwischen „körperlicher und geistiger Arbeit“, wobei eine Wertung immer unterschwellig und implizit enthalten ist.

Er erinnert mich an diesen sympathischen „Pfleger-Schrank“ Driss (Omar Sy) aus dem französischen Unterhaltungsfilm „Ziemlich beste Freunde“ – der droht einem Yuppie-Nachbarn in der Nobelkarre gleich mal Schläge an, falls sich das Falschparken vorm Grundstückseingang seines rollstuhlfahrenden Arbeitgebers Philippe (Francois Cluzet) wiederholt. „Das ist die richtige Antwort“, kommentiert der schmunzelnd.

Wie Driss kann man sich auch Mario vorstellen. Kräftig, sportlich, dynamisch – ähnlich der Filmvorlage mit einer zu pflegenden Angehörigen – hier in der Familie. Eine Aufgabe, die von ihm ganz selbstverständlich mit Hingabe und Pflichtbewusstsein erledigt wird. Aufgabe – als ein Sich-Aufgeben, in gewisser Hinsicht. All dies scheint auf den ersten Blick auf Mario alles nicht so recht zu passen.

Akademisch zusammengefasst kann er mit einem „Diversity-Kapitalismus“, der alle Identitäten mitdenkt und zelebriert, ohne das grundsätzliche Ausbeutungs- und Ungleichheitsparadigma infrage zu stellen, nichts anfangen. „So könnte ich das nicht sagen, ich habe doch nicht studiert.“ Es mangelt oft natürlich an „konstruktiven Lösungsansätzen“ (Frage: Wer unter uns hat da wirklich revolutionäre in der Tasche?). Er fühlt, dass irgendetwas schiefläuft im Land. Für dessen vorhandene Spaltung ist er der laufende Beweis. Mit humorloser und überernsthafter Korrektheits-Moral ist ihm nicht beizukommen. Da scheitere ich im Gespräch.

Vernunft – so vernünftig sie auch klingen mag – kann nur mit Empathie und wirklichem Ernstnehmen erreicht werden. Viel zu oft machen wir es uns in der Abgrenzung zu einfach. „Nazis“, „Menschenfeinde“ sind allerorts auszumachen und natürlich gibt es die – nur ist Vorsicht geboten, wenn man durch vorschnelle und ideologiebequeme Etikettierung erst ebensolche Exemplare stigmatisiert, produziert und indirekt stärkt. Mit der Lust der Distinktion. (Bitte jetzt reflexartig keine Moralkorrektheit. „Das darf man aber nicht relativieren!“)

Schwer auszumachen, was hätte anders laufen sollen oder müssen in Marios Leben, dass ein engagierter Demokrat, ein kuscheliger und stets freundlich-nickender „Menschenfreund“ herausgekommen wäre. Einer, der immer weiß, was gut und was böse ist, und der dies auch sprachlich in stets korrekter Inhalt-Form-Dialektik kommunizieren kann. Aber: Was ist mit denen, die es nicht können? Wo bleiben die?

Nehmen wir die Ausfahrt B. Denkbar natürlich, dass Mario irgendwo einzuordnen ist. Dass er zu den „gekränkten Männern“ gehört, die Tobias Haberl in seiner „Verteidigung eines Auslaufmodells“ beschreibt und analysiert. Sein Buch ist tatsächlich eine Art Verteidigungsschrift des „alten, weißen Mannes“ (Sophie Passmann). Ja, Haberl wagt sich auch mal hinüber zu den anderen, in die feministische Perspektive.

Aber dies tut er zustimmend und dezidiert-kritisch. Jahrgang 1975 ist der Autor, denkt auf 256 Seiten mal ernsthaft-philosophisch, dann wieder pointiert, dass es eine Freude ist, ihm zu folgen. Ein „Farbtupfer“ (Internet-Kommentar). In der Tat, und ein kräftiger. Haberl versucht den differenzierten Blick auf Status und Wandel von Rollenbildern anzuregen.

Das LZ Titelblatt vom Monat August 2022. VÖ. 26.08.2022. Foto: LZ

Und „Er kämpft sich durch das Dickicht der Geschlechterdebatten – zwischen den dauergekränkten alten und den enthaarten, veganen neuen Männern. Das geht alle an, Frauen wie Männer“ (Buchrückseite).

In jedem Fall versucht Tobias Haberl eine nachsichtige Betrachtung anzumahnen, wenn die „traditionelle Männerlandschaft“ betreten wird. Die nach jahrhundertelanger Vorherrschaft mit entsprechend patriarchalen Verhaltens- und Denkmustern gewachsen und groß geworden ist. „In ihrer Orientierungslosigkeit klammern sie sich an Statussymbole, die keine mehr sind, und Wahrheiten, von denen sie spüren, dass sie bedrohlich ins Rutschen gekommen sind. […]

Garantiert regen sich manche auf, weil ein paar Cis-Chefs, die gestern noch ihre Hand auf dem Hintern einer Praktikantin hatten, heute schon ihre Diversity-Strategie in ein Headset säuseln, und wahrscheinlich leiden auch einige vor sich hin, weil sich Begegnungen mit Frauen heute manchmal anfühlen, als würde man mit einer Augenbinde über ein Minenfeld laufen“ (S. 94).

Die heteronormative Geschlechterzuschreibung, die mir einmal ein Impro-Theaterregisseur vorstellte – „Männer schleifen gern ein totes Mammut durch den Wald, Frauen knuddeln indessen kleine, pelzige Tiere“ – würde heutzutage wohl als inakzeptabel auf den kommunikativen Index gesetzt werden. Um den Ton von Haberl aufzunehmen. Nimmt man diese künstlerisch zu verstehenden Stereotype als Denkanleitung, bleibt man(n) zu Recht zweiter Sieger.

Aber Haberl meint etwas anderes, wenn es um Überzeugungen für strukturelle Freiheit von Diskriminierung geht. Viele Männer seien „mit vielen Forderungen des Zeitgeistes einverstanden, manche finden sie zumindest nicht verkehrt, es sind eher die Geschwindigkeit und die Radikalität, mit denen sie zur Totalrevision aufgerufen werden, die ihnen zu schaffen machen.“

Haberl erspart uns „Cis-Männern“ keine Peinlichkeit, greift zum Spiegel und hält ihn unserer Spezies in all ihren Facetten vor. „Tatsächlich gibt es die Bartöl-Benutzer, Kitzbühel-Fahrer und Porsche Leaser mit ‚Faith‘-Tattoo auf dem Oberarm, die sich über Sound-Systeme und die Qualität von Pulverschnee unterhalten.“ Aber sind sie – die „alten, weißen Männer“ – für die Ungerechtigkeit der Welt allein verantwortlich, fragt Haberl.

Zweitens, hilft es, Gräben breiter zu graben, als sie entworfen wurden und – nicht zuletzt gefragt – wie, mit welchem Tonfall, begegnen wir uns als Gesellschaft, wenn mehr als selbstgerechter Individualismus, egal ob m/w/d, übrigbleiben soll?

Dazu noch einmal Haberl zum Konflikt der Geschlechter: „Abgesehen davon ist es ein Zeichen von Größe, wenn das einstige Opfer der Verführung widersteht, zum Täter zu werden, wenn es seinen Gegner vielleicht nicht begnadigt, aber mit einer Bewährungsstrafe davonkommen lässt, wenn es sich auf eine gemeinsame Zukunft statt eine fragwürdige Vergangenheit konzentriert“ (S. 134).

Richtig so, mit solchen Gedanken lassen sich Grenzen noch am ehesten überwinden. Ich möchte das Buch gern Mario schenken.

Tobias Haberl Der gekränkte Mann Piper-Verlag, 2022, 256 S., 22 Euro.

„Überm Schreibtisch links – Über Grenzen“ erschien erstmals am 26. August 2022 in der Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 105 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

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