Als ich zuletzt den Literaturwissenschaftsprofessor und Bestsellerautor Dirk Oschmann zu einer Podiumsdiskussion in meiner Schule begrüßen konnte, war mir eine intensive Vorbereitung wichtig. Immer wieder las ich seinen „Osten“ als „eine westdeutsche Erfindung“, notierte, strich an, setzte Frage- und Ausrufezeichen. Was Oschmann besonders bemängelte – das hörte ich auch direkten Gespräch mit ihm heraus – war die fehlende Unterscheidung der Kritik an Inhalt und Form seiner Aussagen, der Nicht-Differenzierung zwischen „Erzähltem und der Art des Erzählens“.

Dass seine Aussagen in seinem Langessay nicht oder unzureichend auf Wahrheit und Plausibilität untersucht wurden, er lediglich polemisch verstanden wurde und wird – im Osten, aber viel mehr im Westen – das störe ihn und mache ihn nicht gelassen. Weil man sich nicht (auf ihn) einlasse.

Als Beispiel für zuletzt Erwähntes fand ich beim erneuten Nachschlagen in Oschmanns Werk den Verweis auf eine Kafka-Satire aus dem Jahr 1917. Da im gymnasialen Lektürekanon für die Oberstufe der Schülerinnen und Schüler der Deutsch-Leistungskurse die novellistische Schilderung „In der Strafkolonie“ lesen und mir Kafka mit seiner dystopischen, verrätselten Art durchaus nahesteht, blieb ich auch bei Oschmanns Verweis auf Kafka hängen.

Dessen Kurztext „Ein Bericht für eine Akademie“ erschien im Jahre 1917 in der Zeitschrift „Der Jude“. Er „passt“ in die Zeit des reifen Schriftstellers Franz Kafka (1883–1924), wie auch in die Zeit der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, dem ersten von zwei Weltkriegen. Seinen Ausbruch hatte der damals 31-Jährige lapidar mit den Worten kommentiert: „Österreich hat Serbien den Krieg erklärt. Nachmittags Schwimmschule.“

Ob sich Kafka der gewaltigen Dimension des großen Völkermordens mit der folgenden, traurigen Bilanz – 10 Millionen Tote und Verwundete – zu diesem Zeitpunkt bewusst war, bleibt freilich Spekulation; liest man aber die menschlich so ernüchternden, typisch kafkaesk-ausweglosen Parabeln, Kurzgeschichten, Romane des Prager Autors, musste schon damals beinahe jegliche Hoffnung auf humanistische Besserung des Menschengeschlechts fahren lassen.

Übrigens: Der Literaturkenner und Schiller-Experte Oschmann hatte im Gespräch mit mir dazu auch die passenden Worte des Weimarer Klassikers und Goethe-Freund zu Hand. „Wie kommt es, dass wir immer noch Barbaren sind?“ (F. Schiller, Über die Ästhetische Erziehung des Menschen, 8. Brief)

In Kafkas etwas verrückter Parabel geht es halb fabelhaft um den Affen Rotpeter, der auf eine Einladung hin vor einer anonymen Akademie über seine „Menschwerdung“ berichten soll. Gleich zu Beginn wird der Rollentausch (und -verwechslung) erkennbar. Der Affe tauscht den Käfig des Zoos mit dem eines Varietés ein, um dort ein „Mensch“ zu werden.

Vom Affen zum Menschen und wieder zurück. Dazu scheint es aber notwendig, Menschen nachzuahmen, ihre Verhaltensweisen anzunehmen, zu verinnerlichen und sie am Ende gut zu finden. Zuvor muss er aber der Akademie sein Vorleben als gefangener Affe schildern …

„Hohe Herren von der Akademie! Sie erweisen mir die Ehre, mich aufzufordern, der Akademie einen Bericht über mein äffisches Vorleben einzureichen. In diesem Sinne kann ich leider der Aufforderung nicht nachkommen. Nahezu fünf Jahre trennen mich vom Affentum, eine Zeit, kurz vielleicht am Kalender gemessen, unendlich lang aber durchzugaloppieren, so wie ich es getan habe, streckenweise begleitet von vortrefflichen Menschen, Ratschlägen, Beifall und Orchestralmusik, aber im Grunde allein, denn alle Begleitung hielt sich, um im Bilde zu bleiben, weit vor der Barriere […)“

Cover Leipziger Zeitung Nr. 120, VÖ 22.12.2023. Foto: LZ

Irgendwie fühlte ich mich an Rilkes berühmten „Panther“, nur wenige Jahre vorher erschienen, erinnert. „Sein Blick ist vom Vorübergehen der Stäbe so müd geworden, dass er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt.“ Aber Rilkes Verse sind nur traurig, erschütternd, weniger satirisch, viel mehr poetisch. Irgendwie anders berührend-schön.

Kafkas Affe betont seine Freiheit im Unglück „Gerade Verzicht auf jeden Eigensinn war das oberste Gebot, das ich mir auferlegt hatte; ich, freier Affe, fügte mich diesem Joch.“

Mehr Halt als die Gitterstäbe bedeutet ihm die Freiheit der Zivilisation, wobei der Affe erkennt, dass ihn gar nicht so viel unterscheidet von der Ontogenese des „Otto-Normalbürgers“. So weit entfernt voneinander scheinen beide intelligenten Spezies, Affe und Mensch nicht zu sein. Eher verwandt. „Ihr Affentum, meine Herren, sofern Sie etwas Derartiges hinter sich haben, kann Ihnen nicht ferner sein als mir das meine.“

Der gelehrige Menschen-Affe bekommt schnell das Einmaleins bürgerlicher Alltagsetikette mit. Handschlag geben, Smalltalk, Rauchen, Trinken … Und das ambivalente Verhältnis zu Freiheit und Unabhängigkeit, welches immer existenzgebunden ist – oder scheint. Eben mehr darzustellen als zu sein, und immer gefangen zwischen Konventionen und – modern ausgedrückt – dem „Mainstream“ zu leben.

Wohlfühlen vorzuspielen, eine Lebensfreude vorzutäuschen, auch wenn es im Inneren rumort und brodelt. (Das wäre eine mögliche Interpretation der Kafka-Satire.) Irgendwie scheinen beide Affe und Mensch auf der Suche nach der wahren und menschlichen Natur eben doch nicht so fremd zu sein:

„Nein, Freiheit wollte ich nicht. Nur einen Ausweg; rechts, links, wohin immer; ich stellte keine anderen Forderungen; sollte der Ausweg auch nur eine Täuschung sein; die Forderung war klein, die Täuschung würde nicht größer sein.“

Im Nachhinein muss ich Oschmann recht geben. Zwischen Erzähltem und der Art des Erzählens besteht doch ein entscheidender Unterschied. Wird das Dasein des „Normalbürgers“ beschrieben, im Vergleich zum Affen Rotpeter, kann einen das angepasst-unfreie Verhalten der „Mitaffen“ erschrecken, die Art und Weise seines „Berichtes an eine Akademie“ ist echte Satire, aktuell und beißend – at it’s best.

Franz Kafka, Ein Bericht für eine Akademie, Edition Hibana, 1. Edition 2022, Erstveröffentlichung 1917, 48 S.

„Überm Schreibtisch links: Von Menschen und Affen“ erschien erstmals im am 22.12.2023 fertiggestellten ePaper LZ 120 der LEIPZIGER ZEITUNG.

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