Am 4. September beginnt in Paris ein Kongress, der passt im Grunde wie die Faust aufs Auge auf dieses Jahr 2014, in dem sich der Beginn des 1. Weltkrieges zum 100. Mal jährt. Und all diese aufgewärmten Diskussionen um "Wer hat angefangen?" Denn ein Problem, das die europäischen Staatsmänner 1914 schon hatten, war die Unfähigkeit, in globalen Zusammenhängen zu denken. Ein Leipziger Spezialthema.

Gerade wenn es um Geschichte geht. Denn die üblichen Geschichtsbücher leiden unter den alten nationalen und zumeist auch eurozentristischen Verengungen. Geschichte wird aus der engen, zumeist europäischen oder gar nur deutschen Perspektive erzählt, die damit zur Königsperspektive wird. Der Rest der Welt taucht eher nur beiläufig auf und geschichtliche Entwicklungen werden nicht in ihren großen Verbindungen in die anderen Teile der Welt erzählt. Mit der engeren Vernetzung der Welt seit dem 19. Jahrhundert treten aber auch Entwicklungen und Ereignisse an Orten, die weit auseinander liegen, immer öfter in direkte Korrespondenz.

Doch gerade die Reaktionen der entscheidenden Staatsmänner und Kriegsherren im Jahr 1914 zeigten, wie sehr sie noch im nationalstaatlichen Kleinklein des 18. Jahrhunderts gefangen waren in ihrem Denken. Und so manche Analyse des Ersten Weltkrieges kommt über diese beschränkte Sicht auch heute nicht hinein.

Kein Wunder also, dass sich einige Globalhistoriker in ihren Vorträgen in Paris auch auf diesen Krieg beziehen.

Organisatorisch vorbereitet wurde nunmehr der 4. Europäische Kongress zur Welt- und Globalgeschichte von Wissenschaftlern des Global and European Studies Institute (GESI) der Universität Leipzig. Er findet vom 4. bis 7. September 2014 in Paris statt und wird veranstaltet vom European Network in Universal and Global History (ENIUGH), das 2002 in Leipzig gegründet wurde und heute mehr als 300 Mitglieder aus 37 Ländern Europas und der Welt vereint.

“Wir richten den Fokus in diesem Jahr auf die problematische Gegenüberstellung von Zentren und Peripherien, welche die heutige Geschichtsforschung noch immer dominiert”, sagt der Direktor des GESI, Prof. Dr. Matthias Middell.

Denn eines ist schon lange nicht mehr haltbar: das alte Modell einer auf die europäische und westliche Welt zentrierten Weltgeschichte, ganz so, als wäre der gleichzeitige Geschichtsprozess in Asien oder Nordafrika weniger wichtig oder gar substanzloser. Dabei ist Interaktion zwischen verschiedenen Kulturen in der menschlichen Geschichte der Normalzustand.Der Kongress für Welt- und Globalgeschichte gehört auf dem Gebiet der historischen Globalisierungsforschung zu den profiliertesten Veranstaltungen in Europa und besitzt Ausstrahlungskraft weit über die Grenzen des Kontinents hinaus. Nach Veranstaltungen in Leipzig (2005), Dresden (2008) und London (2011) treffen sich rund 800 renommierte Historiker aus Europa, Afrika, Asien und vom amerikanischen Kontinent in diesem Jahr an der Pariser Elitehochschule École normale supérieure.

In knapp 150 thematischen Sektionen diskutieren die Teilnehmer unter dem Kongressthema “Begegnungen, Zirkulationen und Konflikte” die Bedeutung von Beziehungen, Vergleichen, kulturellen Transfers und Verflechtungen zwischen Staaten, Völkern, Gemeinschaften und Individuen – und stellen ihre neuesten, Disziplinen übergreifenden, globalhistorischen Forschungsergebnisse vor.

“Darüber hinaus werden kulturelle und wirtschaftliche Prozesse und Aspekte des materiellen und sozialen Lebens in den Blick genommen, wie auch die Geschichte der Imperien und Krisen großen Maßstabs oder die Konsequenzen politischer Revolutionen, technologischen Wandels und ideologischer Verschiebungen”, erläutert Middell. Verbunden mit zahlreichen Beiträgen zur Zentrum-Peripherie-Problematik wendet sich der Kongress auch dem Platz des Staatssozialismus in der Globalgeschichte zu – einschließlich seiner Beziehungen zur sogenannten “Dritten Welt”.

“Globalisierung war zunächst eher ein Thema der Ökonomen und Politikwissenschaftler, doch seit mehr als 15 Jahren haben immer mehr Historiker entdeckt, dass die heutigen Verflechtungen nicht ohne ihre globale Geschichte zu verstehen sind”, so der GESI-Direktor. Was früher vor allem als Gegenstand der nationalen Geschichte interpretiert worden sei, werde nun auf seine globale Qualität abgeklopft – etwa Ereignisse und Entwicklungen wie der Erste Weltkrieg, Einwanderungswellen oder der Kolonialismus, die im Mittelpunkt des Treffens der europäischen Globalhistoriker stehen.

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Das GESI organisiert den Pariser Kongress in Kooperation mit dem Exzellenzcluster “TransferS” der Ecole normale supérieure. Gemeinsam wurden zusätzliche Gelder bei der Deutsch-Französischen Hochschule eingeworben, um eine zehntägige Sommerschule für Doktoranden am Deutschen Historischen Institut in Paris durchzuführen. Hier erhalten vom 1. bis 10. September Nachwuchswissenschaftler die Gelegenheit, ihre laufenden Qualifizierungsarbeiten vorzustellen.

“Zentrales Anliegen beider Veranstaltungen ist es, die Begrenzungen nationaler Geschichtsschreibung zu überschreiten”, so Middell. Dafür sollen auch Forschungen afrikanischer Wissenschaftler einbezogen werden, denn: “Auch europäische Geschichte ist ohne die Geschichte der Kolonisierung und der Dekolonisierung nicht angemessen zu verstehen. Dies trifft nicht zuletzt auf den Ersten Weltkrieg zu, an dessen Ausbruch in diesem Jahr beinahe überall erinnert wurde.” Übergreifendes Ziel ist außerdem, Forschung und Lehre auf dem Gebiet der transnationalen und Globalgeschichte europaweit zu fördern.

Der Forschungsprofilbereich “Globale Verflechtungen und Vergleiche” der Universität Leipzig präsentiert auf dieser Konferenz seine Arbeitsergebnisse.

Detaillierte Informationen zur Konferenz: www.uni-leipzig.de/~eniugh/congress

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