Man kann schon durcheinander kommen bei der Suche nach dem Haus, in dem Lene Voigt ihre Kindheit verbrachte. Tom Pauls war nicht der Erste, der vor dem falschen Haus stand und das dann in seinem Buch "Meine Lene" herzerweichend beschrieb und der kleinen Familie Wagner (Alma Maria, Karl Bruno und Helene) einen Umzug andichtete "eine Minute Fußweg" weiter in der Ludwigstraße. Dabei ist Lenchen gar nicht umgezogen.

Genauso wenig wie der Schriftsetzer Carl Bruno Wagner und seine Frau Alma Maria. Sie wohnten 1893 im selben Haus in Leipzig-Neustadt wie 1891 – neben dem Maschinisten O. Schumann und Kürschner A. Cipra auf derselben Etage. Wer Google Streetview benutzt, findet dort noch am Haus Nr. 48 die kleine Tafel, die erzählt, in diesemHaus habe Lene Voigt ihre Kindheit verbracht. Was nun völlig falsch war. Die kleine Tafel ist mittlerweile verschwunden, das Haus auch zehn Jahre später noch immer so unsaniert wie damals.

Genauso wie das ebenso schmale Nachbarhaus mit der Nr. 46. Die kleine Tafel hätte doch also eher hier hängen müssen, oder?

Auf den ersten Blick stimmt es: Hier ist die 46.

Aber die Suche in alten Adressbüchern Leipzigs findet den Schriftsetzer Carl Wagner im Jahr 1892 tatsächlich in der Nr. 46. Registriert war ja immer nur der Hausvorstand. 1893 findet man ihn drei Häuser weiter – aber – und da staunt der Spaziergänger: mit den selben Nachbarn. Als wäre eine komplete Hausbesetzung umgezogen. Ist sie das?

Augenscheinlich nicht. Nur die Hausnummerierung hat sich geändert. Aus der alten Nr. 46 wurde die neue Nr. 40.

Der wilde Abenteuerspielplatz in der Ludwigstraße Nr. 42. Foto: Ralf Julke
Der wilde Abenteuerspielplatz in der Ludwigstraße Nr. 42. Foto: Ralf Julke

Eine Lücke tut sich hier auf, dahinter ein wild verwucherter Abenteuerspielplatz, der 2008 noch einigermaßen ordentlich aussah. Und dann kommt eine Baustelle. Und dann die 36.

Stand Lenes Haus der Kindheit also da, wo heute dieser wilde Abenteuerspielplatz ist? Quasi ein Lene-Voigt-Spielplatz?

Nicht ganz. Auch wenn das übernächste Haus die 36 ist und das eingerüstete Haus eigentlich die 38 sein müsste. Aber die 36 ist tatsächlich ein Doppelhaus. So auch schon im Adressbuch von 1893 ausgewiesen. Besitzerin ist die Commissionsratswitwe Henze, die hier ein “Geografisches Institut” betreibt. Oder nur besitzt. Möglich, dass der ebenfalls erwähnte A. Henze ihr Sohn ist, der als Geschäftsfüher geführt wird.

Witwe Henze bringt alles ein bisschen durcheinander. Aber da ihr Haus die Nr.36 / 38 ist, muss das Nachbarhaus die 40 sein.

Und ein Blättern im Adressbuch von 1891 macht auch klar, was hier passiert sein muss. Nur zur Erinnerung: Neustadt wurde erst 1890 nach Leipzig eingemeindet. Vorher gehörte es zu Schönefeld – es war ja auch auf Schönefelder Flur angelegt worden. Und es hatte wohl bis 1891 noch die alte Hausnummerierung. Die war nicht so wie heute: rechts die geraden Nummern, links die ungeraden.

Ludwigstraße 36 / 38, das Haus der Witwe Henze. Foto: Ralf Julke
Ludwigstraße 36 / 38, das Haus der Witwe Henze. Foto: Ralf Julke

Augenscheinlich zählte man vom Weg nach Schönefeld an einfach los. Da war dann das Haus, in dem die kleine Familie Wagner im 3. Stock wohnte, die Nr. 46. Deswegen stimmt zwar die übliche Angabe, Lene Voigt lebte als Kind in der 46, irgendwie. Aber halt nur irgendwie. Denn die alte 46 ist die heutige 40. Das Nachbarhaus gehörte auch damals schon der Witwe Henze. Es hatte aber die Nummern 47 / 49.

Da darf man schon einmal durcheinander kommen. Erst recht, wenn heute nur noch die Nummer 36 dransteht.

Man darf also vor dem eingerüsteten Haus stehen bleiben. Das ist es tatsächlich. Auch das zeigt übrigens der alte Google-Streetview-Blick von 2008: Jemand hatte mit Kreide extra zwei Mal die 40 ans Torweg geschrieben. Damit der Postbote sich auch hinfindet und nicht zehn Meter weiter vor dem wilden Spielgelände steht.

Und auch das Kataster der Stadt Leipzig weist dieses Haus als die richtige Nummer 40 aus: Hier lebte die kleine Helene Wagner tatsächlich. Oben im dritten Stock. Und wenn der Hausbesitzer die Gerüste abnehmen lässt und die ersten Mieter einziehen, kann genau hier neben dem Torweg die Erinnerungstafel an Lene Voigt angebracht werden.

Es ist nicht das einzige Verwirrspiel um Lene Voigt und ihr authentisches Leben, das man in Tom Pauls Buch “Meine Lene” findet.

Dabei ging es ihm gar nicht um die authentische Welt der Lene Voigt, sondern um die dichterische. Was freilich für weitere Verwirrungen sorgt. Und für heftige Verstimmungen unter Freunden.

Dazu gleich mehr.

Lesetipp: Kompakt habe ich die Geschichte zu Tom Pauls Buch “Meine Lene” schon in der “Leipziger Zeitung” Nr. 51 erzählt, die seit dem 19. Januar im Handel ist.

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