Der Übergang von der irgendwie abmoderierten Obszöne-Brief-Affäre ist ein kleiner Absatz. So ein Zeilenpäuschen, bei dem man als Leser Luft holt und sich auf eine Rückkehr zu geordneten Verhältnissen gefasst macht. So etwas wie „Rückkehr zur Normalität“, wie es die Verkünder von „Ordnung und Sicherheit“ so mögen. Diederich ist ja auch so einer. Und dann öffnet Heinrich Mann die Tür in sein Allerheiligstes: „Mein Haus ist meine Burg“.

Und jetzt bekommt es der Leser ganz dicke. Denn nach Diederichs Anbändelei damals im Zug nach Netzig hätte man zumindest erwartet, dass er zu so etwas wie einer ungezwungenen Partnerschaft fähig sein könnte. Aber augenscheinlich hat die verquere Erziehung seiner Eltern mehr zerstört, als wir ahnten. Auguste hat er ja wegen ihres Geldes geheiratet, sonst wäre er schon kurz nach seinen ersten patriotischen Heldentaten gründlich pleite gewesen. Er fällt immer wieder weich. Aber wer erwartet hätte, er wäre in irgendeiner Weise dankbar, der wird jetzt gründlich enttäuscht.

Denn über Frauen, Kinder und Familie denkt er auf eine Weise, wie man sie eigentlich erst bei Hitlers Nazis erwarten würde. Wir sind es gewohnt, solche Denkweisen dem Nazi-Reich zuzuschreiben. Aber der aus Worten gewebte Rassismus war in diesen nationalistischen bürgerlichen Kreisen, die Diederich verkörpert, schon in den 1890er Jahren allgegenwärtig.

Drei Jungen hat Auguste ihrem Diedrich inzwischen geboren.

„Horst kam nicht ohne Mühe zur Welt. Als es vorüber war, erklärte Diederich seiner Gattin, daß er, vor die Wahl gestellt, sie glatt hätte sterben lassen. ‚So peinlich es mir gewesen wäre‘, setzte er hinzu. ‚Aber die Rasse ist wichtiger, und für meine Söhne bin ich dem Kaiser verantwortlich.‘“

Nein, Guste hat diesen kleinen Heimrassisten nicht verlassen.

„Auf dem rotgewürfelten Tischtuch, mit Reichsadler und Kaiserkrone in den Würfeln, lag neben der Kaffeekanne immer die Bibel und Guste war gehalten, jeden Morgen daraus vorzulesen. (…) Wie Diederich in der Furcht seines Herrn, hatte Guste in der Furcht des ihren zu leben. Beim Eintritt ins Zimmer war es ihr bewußt, daß dem Gatten der Vortritt gebühre. Die Kinder wieder mußten ihr selbst die Ehre erweisen, und der Teckel Männe hatte alle zu Vorgesetzten.“

Oh ja, das kann man natürlich als Ordnung und Kultur bezeichnen. Das ist das, was das Kulturvolk der Patrioten anno 1896 als „Werte“ betrachtete und was überall mitschwingt, wenn diese emotionslosen Kleinstkönige heute wieder herumlaufen und uns ihre „christlichen Werte“ andrehen wollen wie kalten Kaffee.

Es kommt noch schärfer. Heinrich Mann seziert seinen Helden jetzt bis auf die blanke, feige Innenpolitur.

„Gewisse Gerichte wurden nur für den Hausherrn aufgetragen, und Diederich warf an guten Tagen ein Stück davon über den Tisch, um herzlich lachend zuzusehen, wer es erwischte, Gretchen, Guste oder Männe.“

Kein Wunder, dass sich Heinrich Mann nach 1933 darüber wunderte, was er da so früh schon seziert und aufgeschrieben hatte. Dass der Weltkrieg und die Niederlage schon drinsteckten, stellte er verwundert fest. „Der Faschismus gleichfalls schon: wenn man die Gestalt des ‚Untertan‘ nachträglich betrachtet. Als ich sie aufstellte, fehlte mir von dem ungeborenen Faschismus der Begriff, und nur die Anschauung nicht.“

Und die Anschauung hatte er, weil all das, was sich ab 1923 zum Faschismus zusammenbraute, unter Kaiser Wilhelm II. schon da war. Und in Diederich Heßling steckte Wilhelm II. selbst, wie Kurt Tucholsky zu Recht feststellte, ein weicher, zutiefst verunsicherter Charakter, der seine Schwäche hinter Kraftmeierei, Eitelkeit und jeder Menge Theatralik versteckte.

Lothar Machtan verwendet in seinem Buch „Kaisersturz“ zur Beschreibung von Wilhelms Charakter übrigens auch die Bezeichnung „weich“. Und zum Aufbau von Vertrauen und echter Nähe fehlte ihm völlig das nötige Selbstvertrauen. Er blieb bis zu seinem Sturz ein zutiefst unsicherer Mann. Das Säbelrasseln und Wettern wider die Juden und Engländer, war nur Fassade. So wie das ganze Weltbild, das sich sein ganz persönlicher Untertan Diederich ja so gründlich angeeignet hat.

Logisch, dass das arme Reclam-Bändchen auch an dieser Stelle durchs Zimmer flog. Der Kerl in seiner arroganten Schäbigkeit ist eigentlich nicht auszuhalten.

Aber Heinrich Mann ist ja gerade darin genial, dass er das so genau zeichnet. In Szenen, in denen man nur fluchen, aufspringen und dem aufgeblasenen Gecken von Hauspatriarch eine pfeffern möchte.

Bleibt es nur bei der Erniedrigung seiner „Liebsten“?

Nein.

„Guste werde kein Geld in die Hand bekommen. ‚Ich habe für meine Söhne gearbeitet, aber nicht, damit du dich nachher amüsierst!‘“

Dabei hatte Gustes Geld ihm die Existenz gerettet. Aber sie lässt es sich gefallen, fügt sich in ihre Rolle. Die ganze Wohnung ist erfüllt vom Weihrauch des Kaisers. Diesem ganzen schwülstigen Wagner-Opern-Gehabe, das die Bühne mit Drohgebärden und Untergangsphantasien füllte. Wenn das heute wieder so ist, hat das Gründe. Dann sind es dieselben Narren, die wieder ihre verlogenen Überlegenheits- und Schicksals-Tiraden zum Sprachgebrauch machen.

In Diederichs guter Stube klingt das so: „,Die Weltgeschichte läßt nicht mit sich spaßen.‘ Gern hielt er sich länger bei drohenden Katastrophen auf, denn ‚die deutsche Seele ist ernst, fast tragisch‘, stellte er fest.“

Warum hat man da die ganze Zeit diesen tragisch jammernden Alexander Gauland und seinen Bruder im Geiste, Horst, vor Augen?

Mal ganz davon abgesehen, dass Diederich seinen ersten Sohn 1895 Horst nannte und seinen zweiten 1896 Kraft.

Und dann kommt wieder so eine Szene, in der Heinrich Mann einfach zeigt, was er von dem ganzen patriotischen Gedöns hält: nämlich gar nichts.

Und diesmal kippt es gründlich, zeigt gerade Auguste, dass sie diesen bramarbasierenden Diederich schon lange durchschaut hat. Sein ganzer Zeitungs-Patriotismus ist feiges Theater. Er markiert den starken Kerl. Aber tatsächlich ist er genauso ein verschrecktes, nie wirklich erwachsen gewordenes Kind wie Wilhelm II.

Es ist spät geworden. Guste gähnt, stößt den Herrn Redner noch mit den Knien an. „Er wolle noch einen nationalen Gedanken äußern, da sagte Guste mit ungewohnt strenger Stimme: ‚Quatsch‘ …“

Was man von Guste jetzt eigentlich nicht erwartet hätte. Aber sie hat es wohl schon längst gemerkt.

„Da er sie unten zu umspannen versuchte, verscheuchte sie vollends ihre Müdigkeit, und plötzlich hatte er eine mächtige Ohrfeige – worauf er nichts erwiderte, sondern aufstand und sich schnaufend hinter einen Vorhang drückte.“

Da muss man ganz weit zurückblättern – in Diederichs Berliner Zeit, als er von seinem Nebenbuhler um Agnes, dem Herrn Mahlmann, genauso behandelt wurde – und gekniffen hat. Die unverhoffte Gewalt aus heiterem Himmel bringt ihn aus dem Konzept. Damit kann er nicht wirklich umgehen. Denn inwendig ist er feige. Und auch die Szenen in der Schule und mit seinem Vater gehören hierher. Denn wer ihn so behandelt, den fürchtet und respektiert er.

Und Guste weiß jetzt, wie sie den Vogel behandeln muss. Genau das gibt ihr Macht.

„Und als er wieder in das Licht kam, zeigte es sich, daß seine Augen keineswegs blitzten, sondern voll Angst und dunklem Verlangen standen … Dies schien Guste die letzten Bedenken zu nehmen. Sie erhob sich; indes sie in fesselloser Weise mit den Hüften schaukelte, begann sie ihrerseits heftig zu blitzen, und den wurstförmigen Finger gebieterisch gegen den Boden gestreckt, zischte sie: ‚Auf die Knie, elender Schklafe!‘“

Irgendwie hatte Sigmund Freud eben doch recht, wenn er vermutete, dass hinter diesem ganzen patriotischen Gerassel des nationalen Bürgers lauter verklemmte Gefühle steckten. Wer am hellichten Tag andere Leute schikanieren muss, um sich groß und wert zu fühlen, dem fehlt etwas Wichtiges. Und hier – im Dunkeln – wird es auf einmal greifbar und Diederich schlüpft ohne Übergang in die Rolle des getretenen Hundes, dem dieses Getretenwerden sogar gefällt. „,Ich bin die Herrin, du bist der Untertan‘, versicherte sie ausdrücklich.“

Er wird zwar ins Schlafgemach gestoßen und von Guste nach Herzenslust mit Worten beleidigt. Aber sie denkt gar nicht daran, ihn aus seiner Spannung zu erlösen: „Diederich aber, noch immer des Äußersten gewärtig, kroch auf allen vieren die Estrade hinan und versteckte sich hinter dem bronzenen Kaiser …“

Das ist also auch nicht neu und schon gar nicht das Ergebnis falsch verstandener sexueller Freiheiten, wie unsere heutigen Sittenprediger der „deutschen Tugenden und Werte“ behaupten. Es ist ganz unübersehbar Ergebnis einer fatalen Erziehung. Und man wird den Verdacht nicht los, dass ein gut Teil der heute randalierenden alten Männer keine bessere Erziehung bekommen haben als Diederich.

Denn eigentlich ist es ja so: Wer seiner selbst immer derart unsicher ist, der versucht seine Verachtung auf andere zu werfen und den dicken Maxe zu spielen, den knallharten Minister oder was der Prachtrollen noch so sind. Respekt hat so einer nur vor der Knute, ein paar ordentlichen Ohrfeigen und …

Kann es sein, dass wir mit diesen Typen völlig falsch umgehen? Dass wir es eigentlich so machen sollten wie Guste?

Wir denken mal drüber nach und blättern um.

Das „Untertan-Projekt“.

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