Nun ist es gekommen, das große Ereignis, auf das Diederich nun seit vier Jahren hingearbeitet hat. Die Stadt Netzig hatte es zwar ein stolze Million gekostet, aber das Kaiser-Wilhelm-Denkmal ist fertig und wird natürlich so zünftig eingeweiht, wie es sich das für diese biedere Kaiserzeit gehört – mit Militärkapelle, Bühne für die Honoratioren und einigem Ärger für Diederich und seine Guste.

Denn er will es doch irgendwie erzwingen, dass Guste auch auf der Bühne der Adeligen, Uniformierten und Prächtigen sitzen kann, dort, wo all die Leute sitzen, die er anhimmelt. Natürlich scheitert sein Angriff. Ein Polizeileutnant macht ihm klar, dass auch ein schärpetragender bürgerlicher Konservativer nur ein Wichtigtuer ist. Noch gelten die alten Standesregeln: Adel und Uniform.

Und augenscheinlich hat Diederich mit seinem Versuch, den Herrn von Wulckow zu ärgern, tatsächlich zu viel gesagt. Denn wo er jetzt – geschlagen und mit stolzgeschwellter Brust – zurückkehrt zur gewöhnlichen Tribüne, ist auch dort Gustes Platz besetzt – ausgerechnet von Käthchen Zillich. Und wieder scheitert Diederich am Ordner. Denn die stadtbekannte Dame sitzt dort auf höheres Geheiß.

Sie steht unter höchstem Schutz (zumindest was Netzig betrifft). Und Guste muss sich in den Hintergrund setzen. So zeigt die Macht, dass sie sich nicht lumpen lässt. Und Heinrich Mann zeigt, was für eine närrische Figur sein Diederich ist – immerhin heute der Festredner. Alle seine Sehnsucht geht zu der Tribüne mit den Herren in Uniform: „Das ist das einzige, erstklassige Theater, es ist das Höchste, da kann man nichts machen!“

Hätte es Wolfgang Buck gesagt, wäre es schönster Sarkasmus gewesen. Aber Diederich meint das ernst. In seinem Kopf steckt die ganze bis heute lebendige Bewunderung des kleinen, ungeadelten Bürgers für die Prächtigen aus dem „Gotha“. Wissend, dass es großes Theater ist, ein Schauspiel fürs gemeine Volk. Aber es funktioniert noch immer. Selbst Leipzigs Pressestelle beginnt rosarote Blüten zu treiben, wenn sich eine Königin oder ein reisender Präsentationskönig in die Stadt verirrt. Die Anbetung des bloßen Scheins sitzt tief. Der Untertan ist jederzeit abrufbar.

Auch das zeigt uns „Der Untertan“.

Denn das steckt im kleinen Bürger, der immer nach oben schaut und so gern aufsteigen möchte – das Zeug dazu aber nicht hat. Er braucht was zum Anhimmeln – und himmelt an. Man könnte säckeweise Zucker draus machen. „Da ist überhaupt keiner dabei, der nicht ein echter Aristokrat ist, darauf kannst du Gift nehmen.“

Und als dann auch noch der dicke Herr von Wulckow in roter Husarenuniform auftaucht und ringsum alles strammsteht, ist Diederich im Himmel seiner Seligkeit.

„,Das sind die Säulen unserer Macht!‘ rief Diederich in die wuchtigen Klänge des Einzugsmarsches. ,Solange wir solche Herren haben, werden wir der Schrecken der ganzen Welt sein!‘“

Aber bevor Diederich seine Ruhmesrede auf den alten und den jungen Kaiser schmettern darf, wird geblasen und zum Gebet befohlen. Ehrenjungfrauen und Fahnenkompanie sind aufgezogen. Wer sich über den ganzen Paradekladderadatsch des 20. Jahrhunderts wundert, findet hier das kaiserlich pompöse Vorbild: jeder Staatsakt eine Wagner-Oper. Und der Inhalt: ein einziges Blechgeschmetter auf die „große Zeit“.

Es sollte ja noch ein halbes Jahrhundert dauern, bis Bertolt Brecht sein Warngedicht auf die „großen Zeiten“ schreiben würde. Noch ist alles Karikatur. Und Heinrich Mann muss nicht wirklich viel überzeichnen, um Diederich in seiner Jubelarie auf das „tüchtigste Volk Europas und der Welt“ zu schrillsten Tönen greifen zu lassen. Wer hinhört, hört schon die ganze Überheblichkeit der Nazis, die viel mehr Kind dieser Wilhelminischen Epoche sind, als unsere Lehrbücher heute erzählen. Denn sie sind die kleinen Anbeter und Uniformträger in diesem Festakt – und sie himmeln wie Diederich nach oben. Sie wären so gern selber oben und würden all die treten, die ihre untertänigste Gefolgschaftstreue nicht teilen.

Wer das ist? Diederich weiß es ganz genau: „Diederich entwarf ein wenig schmeichelhaftes Bild des älteren Geschlechts, das durch einseitige humanitäre Bildung zu zuchtlosen Anschauungen verführt, in nationaler Hinsicht noch keinen Komment gehabt hatte.“

Er meint nicht die alten Ritter und Könige, sondern Leute wie Buck: jene Liberalen und Demokraten, die 1848 gewagt haben, am Theaterpomp der alten Aristokratie zu rütteln und eine Republik zu fordern und echte Demokratie. Es verblüfft schon, dass die Diederiche heute schon wieder genauso ins Horn tuten. Und da drüben auf der in Uniformen schwelgenden Tribüne dezent Beifall geklatscht wird, steigert sich Diederich regelrecht hinein in seine Rede, die uns – nach den Abgründen des 20. Jahrhundert – erstaunlich bekannt vorkommt.

Kein Wunder, dass Heinrich Mann später selbst verblüfft war.

„Eine solche, nie dagewesene Blüte aber erreicht ein Herrenvolk nicht in einem schlaffen, faulen Frieden“, schmettert Diederich, der fußlahm Ausgemusterte.

Und auch die nächste Pirouette kennt man vom späteren Adolf Hitler, der fast alles, was ihn als Schauspieler großgemacht hat, bei Kaiser Wilhelm gelernt hat – auch seine Phrasen von der Auserwähltheit, denn in seinen Reden schreckte auch er nicht zurück „vor der furchtbaren Verantwortung gegenüber Gott allein, von der kein Minister, kein Parlament ihn hatte entbinden können!“

Eine Stelle, an der Diederich einfach Schluss hätte machen können. Aber so kennen wir ihn ja: Er berauscht sich regelrecht, wenn er redet. Auch wenn es am Ende Käse wird, denn jetzt versucht er ausgerechnet Frankreich zu malen, wie er es glaubt zu kennen. Und wahrscheinlich hätte Wolfgang Buck, wenn er denn im Publikum gestanden hätte, an dieser Stelle breit gegrinst. Aber er steht nicht da – was wir erst später erfahren.

Aber er hätte das Bild wiedererkannt, das Diederich jetzt benutzte. Nur hatte er damit einen ganz anderen Herrscher gemeint, nicht den 1871 besiegten Kaiser Napoleon III.

„Mißachtung des Geistes schloß ihr natürliches Bündnis mit niederer Genußgier. Der Nerv der Öffentlichkeit war Reklamesucht, und jeden Augenblick schlug sie um in Verfolgungssucht. Im Äußeren nur auf das Prestige gestellt, im Innern nur auf die Polizei, ohne andern Glauben als die Gewalt, trachtete man nach nichts als nach Theaterwirkung, trieb ruhmredigen Pomp mit der vergangenen Heldenepoche, und der einzige Gipfel, den man wirklich erreichte, war der des Chauvinismus …“

Und damit die Leser nicht in den Irrtum verfallen, Diederich könnte hier just das Reich meinen, dem er mit allem Pomp huldigte, lässt Heinrich Mann ihn gleich noch anfügen: „Von all dem wissen wir nichts!“

Wie gesagt: Wolfgang Buck hätte wohl seinen Spaß gehabt.

Erstaunlich ist eher, dass Diederich sogar das Wort Chauvinismus benutzt, das Ende des 19. Jahrhunderts ja auch schon nationalistische Überheblichkeit bezeichnete, also die Arroganz eines „Herrenvolkes“, das sich besser dünkte als alle anderen. Was ja heute schon wieder mitschwingt und von zahlreichen Medien immer wieder befeuert wird. Dabei stammt die Gestalt des patriotischen Soldaten Chauvin ja eigentlich aus dem französischen Lustspiel der 1830er Jahre. Er war eine Karikatur der nationalen Selbstüberhöhung. Und die Franzosen meinten das tatsächlich subversiv. Sie fanden damals den ganzen nationalen Dünkel, aus dem die modernen Nationalstaaten gebastelt wurden, geradezu lächerlich. Ein Thema fürs Vaudeville. Theater eben.

Nur dass Leute wie Diederich dieses Theater für bare Münze nehmen. Mitsamt dem ganzen Unfug vom „christlichen Abendland“. Denn der gehörte auch schon anno Wilhelm dazu.

„Das strahlende Bild echt deutschen Wesens aber erhebt sich auf dem Boden des Christentums, und das ist der einzig richtige Boden, denn jede heidnische Kultur, mag sie noch so schön und herrlich sein, wird bei der ersten Katastrophe erliegen; und die Seele deutschen Wesens ist die Verehrung der Macht, der überlieferten und von Gott geweihten Macht, gegen die man nichts machen kann.“

Das ist dann tatsächlich eine Religion für Untertanen (und genau der alte Plunder, den die Neuen Rechten heute als nagelneue Erfindung zu verkaufen versuchen). Der erste Donner grollt. Das große Spektakel kündigt sich an. Und der Kerl redet und redet. Da unterbrechen wir lieber und machen eine wohlverdiente Pause in dieser typischen deutschen Rede, von denen es immer wieder viel zu viele gibt von viel zu vielen eitlen Männern, die ein gestraftes Publikum stundenlang mit lauter Phrasen zuschütten.

Die ersten Tropfen fallen. Wir blättern um.

Das „Untertan-Projekt“.

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