Am Freitag, 23. Oktober, um 18 Uhr wird in der Halle 14 in der Baumwollspinnerei die Ausstellung „Europa / Eutopia - eine politische Ausstellung von CHTO” eröffnet. CHTO alias Camille de Toledo ist ein französischer Künstler, und was er zeigt, ist ein multimediales Ausstellungsprojekt, das eine positive Utopie von Europa mit der Realität konfrontiert.

Kaum vorstellbar: Aber es gibt eine Menge Menschen, für die Europa durchaus eine lebenswerte Utopie ist. Dumm nur, wenn in Europa nicht die Visionäre regieren und Pragmatikerinnen wie Angela Merkel in der Minderheit sind. So haben ausgerechnet jene Staatsmänner mal wieder die Deutungshoheit, die immer gleich Muffensausen bekommen, wenn Menschen sich wie Menschen benehmen. Von Utopie ist da nicht viel zu merken: Sie greifen in die schäbigste Mottenkiste einer überholten Vergangenheit und bauen Zäune.

Die Ausstellung wird derzeit eingeholt von genau dieser beschämenden Aktualität: Unzählige Flüchtlinge, die auf ihrem hoffnungsvollen Weg in ein vermeintlich sicheres Europa tagtäglich um ihr Leben und ihre Zukunft kämpfen – und dabei von überforderten Regierungschefs mit immer neuen Barrieren und Schikanen konfrontiert werden.

Die gigantische Installation „Europa / Eutopia“ ist ein Geisterwald auf 1.000 Quadratmetern. Er wird für jeden Besucher sinnlich erfahrbar als Pfad auf raschelndem Herbstlaub durch eine Vielzahl von Birkenstämmen vorbei an den Ruinen einer kapitalistischen Zivilisation und einer hölzernen Grenze, die es zu überwinden gilt. Eine rotierende Audio-Narration (CHTO + Christian Meyer) begleitet die Besucher akustisch durch diese Spuklandschaft, die sie der Idylle von Vogelgezwitscher als auch brutalem Zivilisationslärm aussetzt.

Die ausgestellten Videos, Lichtkästen und Skulpturen hauchen einer möglichen Geschichte – einer positiven Utopie (Eutopia) – Leben ein, in der Wut, Angst und eine zerbrechliche Hoffnung einander bekämpfen. Zur Vernissage ist es den Besuchern erlaubt, in von ihnen mitgebrachten Schlafsäcken in der Ausstellung zu übernachten, um diese politische Fiktion in ihrer Ganzheit und mit allen Sinnen zu erleben.

Ausgangspunkt der Ausstellung ist CHTOs Blick auf das aktuelle Europa: Zu Beginn des 21. Jahrhunderts entlarvt sich Europa als totale Dystopie. Es hat einen Punkt erreicht, an dem es nur mehr eine hegemoniale Technostruktur ist, entworfen als Paradies für Unternehmen und fußend auf eindeutig undemokratischen Prozessen. Europas Versuch, seine Einheit und Identität zu definieren, mutet angesichts einer fatalen Migrationspolitik tragisch an.

Die Ausstellung „Europa /Eutopia“ zeigt einerseits diese Dystopie, zu der Europa geworden ist, gleichzeitig führt sie CHTOs Werk weiter, in dem er den europäischen Raum an der Zukunft und nicht der Vergangenheit ausgerichtet neu gestaltet, formt und denkt. In einem immersiven künstlerischen Umfeld prägt CHTO mit „Europa / Eutopia“ eine neue Vision von Europa als einen Ort des „Dazwischenseins“, an dem eine Kulturenvielfalt lebendig werden kann.

CHTO selbst zu seiner Multimedia-Instellation: “Wir alle wissen, dass dies ein kritischer Moment für Europa ist. Um nur ein paar Ereignisse zu nennen: Flüchtlinge sterben jeden Tag im Mittelmeer. Die Demokratie in Griechenland steht im Kampf mit Finanzdogmen. Das gegenwärtig mit den USA auszuhandelnde Freihandelsabkommen droht, die Kontrolle durch das Volk zu unterminieren. Nationalistische und fremdenfeindliche Parteien und Bewegungen wachsen stetig und üben Macht auf das Europäische Parlament aus. Ich arbeite seit einiger Zeit zum Thema Europa und diese Ausstellung kommt sicherlich an einem kritischen Moment. (…) Ich will die Dystopie zeigen, zu der das europäische Projekt geworden ist. Gleichzeitig arbeite ich aber auch, jenseits aller Kritik, an einer neuen Vision von Europa als einen Raum der Übersetzung, Migration und Hybridisierung im 21. Jahrhundert.”

Die durchaus berechtigte Frage: Warum sieht CHTO Europa mittlerweile als Dystopie? – “Europa hat einen Punkt erreicht, an dem es nur mehr eine hegemoniale Technostruktur ist, entworfen als Paradies für Unternehmen und fußend auf eindeutig undemokratischen Prozessen. Dabei versucht es, seine Einheit und Identität über eine mörderische Migrationspolitik zu definieren. Europa steht für ein System aus Zwängen und Entmachtung. In diesem Sinne verstehe ich die europäische Idee als totale Dystopie.”

So bringt er all jene Aspekte zusammen, die heute am Agieren der Europäischen Union so verstören – und eigentlich von einer Gemeinschaft, gar einem gemeinsamen Projekt Europa nicht mehr viel spüren lassen.

CHTO: “Leipzig ist für mich, wenn Sie so wollen, der Austragungsort eines Kampfes zwischen zwei Arten, die Welt zu bewohnen: Entweder man wählt Legida und deren alte, europäische Fixierung auf Nationalstaaten und -identitäten. Oder aber wir begründen das Konzept ‘Europa’ neu, indem wir bei unseren migrantischen Geschichten ansetzen, bei unseren Überquerungen.”

Die Ausstellung „Europa / Eutopia“ ist eingebettet in die kuratorische Plattform „Mitteleuropa“, (www.mitteleuropa.me). Diese stellt das Konzept der Narration ins Zentrum der materialen Schöpfung und konzentriert sich auf die drei Säulen des 21. Jahrhunderts: Übersetzung, Migration und Hybridisierung. Mitteleuropa entwickelt fragmentarische Erzählungen und immersive Ausstellungsformen, in denen sich Theorie mit verschiedenen Sprachen und Medien verbindet: Von Skulpturen bis hin zu Audiolandschaften, von Fotografie über Installationen bis hin zu Performances.

„Europa / Eutopia“. Eine politische Ausstellung – CHTO ist vom 23. Oktober bis 15. Dezember 2015 in der Leipziger Baumwollspinnerei, Halle 14, zweite Etage, Spinnereistraße 7, zu erleben. Öffnungszeiten: Fr. und Sa . von 13:00 bis 19:00 Uhr.

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