Am Donnerstag, 23. Mai, ab 17:00 Uhr wird erstmals das friedenspolitische Bildungs- und Ausstellungsprojekt mit dem Titel „Geraubte Kindheit – wenn die Erwachsenen Krieg spielen“ des Autors und Fotografen Michael Oertel im Leipziger Kulturbetrieb „WolkenSchachLenkWal“ (Friedhofsweg 10) erlebbar. Als Grundlage für das Friedensprojekt diente Oertel das Buch „Geraubte Kindheit“ von Prof. Liselotte Bieback-Diel (Oberursel), in dem 38 Kriegskinder des 2. Weltkrieges aus vier Nationen (Sowjetunion, Frankreich, Großbritannien und Deutschland) zu Wort kommen.

Michael Oertel hat durch Portraits den Berichtenden ein Gesicht geben, stellt einige dieser Portraits mit Buchzitaten aus. Der letzte Satz in dem o. gen. Buch ist eine Frage, lautet: „Ist all das Kriegsleid schon wieder vergessen?“ Oertels Projekt greift diese Frage auf, schaut in die nahe Vergangenheit und die Gegenwart, bietet so Raum für Projektarbeit. Oertels Kollektiv stellt die Arbeit unter das Motto „Wir müssen endlich wieder in Frieden spielen, statt ständig über Krieg sprechen zu müssen!“.

„Geraubte Kindheit – wenn die Erwachsenen Krieg spielen!“ ist ein Friedensprojekt in Bildern, Filmen und Begegnungen. Es besteht aus Fotos mit Zitaten von Kriegskindern, Filmmaterial, Fotos und Gegenstände aus Kriegstagen, sowie didaktischen Spielen.

Im Rahmen der Veranstaltung werden Schüler einer 8. Klasse einer Leipziger Schule ihre Ergebnisse zu dem Thema vorstellen. Es wird viel Raum zur Begegnung geben, auch mit der Herausgeberin des Buches „Geraubte Kindheit“.

Das Projekt ist viersprachig (Russisch, Französisch, Englisch und Deutsch). Der Eintritt ist frei, um Spenden zur Unterstützung des Projektes wird dringend gebeten.

Die Veranstaltung wird eröffnet durch den Oberbürgermeister der Stadt Leipzig Burkhard Jung. Für die musikalische und kulinarische Umrahmung ist gesorgt.

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Über das Buch schreibt Michael Oertel selbst:

Prof. Liselotte Bieback-Diel: „Geraubte Kindheit – Kriegskinder aus vier Nationen erzählen“

In der Tagesschau vom 7. März wurde von mindestens fünf Kriegen/kriegerischen Auseinandersetzungen, auch in verschiedenen Zusammenhängen, berichtet. Krieg, ein Wort, an das wir uns gewöhnt zu haben scheinen. Krieg ängstigt uns nur dann, wenn er nah genug dran ist. Die Medien und die Politik sorgten für Abstumpfung, lehren uns auch täglich, dass der Tod zwei Gesichter hat. Die einen sind die Opfer, sind Menschen aus unserer Mitte, die Helden, die anderen sind z. B. die Terroristen, die Taliban, die IS-Kämpfer, die Faschisten.

Mich stimmt das nachdenklich, besonders auch dann, wenn ich in Prof. Liselotte Bieback-Diels Buch „Geraubte Kindheit“ einen Bericht einer Französin lese, die den 2. Weltkrieg als Kind miterleben musste.

Denise Alberth schreibt: „Sie hatten einen Deutschen bei sich, der ziemlich heruntergekommen aussah. Sie nahmen ihn auf den Friedhof mit und haben ihn dort erschossen. Ich habe das in Erinnerung, weil ich in dem Moment gedacht habe: ‚Man ist natürlich froh, dass der Krieg vorbei ist, wir haben sie besiegt, aber vielleicht hat der da überhaupt nichts getan.‘ Und jetzt soll er getötet werden. Vielleicht war er noch gestern arrogant, man weiß es nicht, aber zusehen, wie er in den Tod geht … Ich habe das nie vergessen. Ich sehe noch immer dieses Bild vor mir. Er wirkte so klein und schwach neben den beide mit ihrer Siegermiene, und die waren vielleicht überhaupt erst vor wenigen Tagen in die Widerstandsarmee eingetreten.“

Krieg, das kann man schon an den wenigen Sätzen erkennen, ist eben doch recht kompliziert, weitab von „schwarz und weiß“. Das spiegeln auch die Zeilen der Russin Nina Nikitischna Kschatschkoskaja wider: „Er (ein Jugendlicher aus der Hitlerjugend) kam zu uns, den Leningradern, und sagte: ‚Gebt mir den Schlüssel von eurer Wohnung, ich fahre nach Leningrad.‘ Armer, naiver Junge, wahrscheinlich hat er bei Leningrad sein Köpfchen hingelegt, und er war doch erst 18 Jahre alt und hätte noch so lange leben können.“

Prof. Liselotte Bieback-Diel: Geraubte Kindheit. Cover: Reimer Verlag
Prof. Liselotte Bieback-Diel: Geraubte Kindheit. Cover: Reimer Verlag

Krieg, so wird es bei Wikipedia beschrieben, ist ein organisierter und unter Einsatz erheblicher Mittel mit Waffen und Gewalt ausgetragener Konflikt, an dem oft mehrere planmäßig Kollektiven beteiligt sind. Ziel der beteiligten Kollektive ist es, ihre Interessen durchzusetzen. Dies geschieht nach allen Regeln der Kunst, mit Verletzungen, Zerstörungen, Demütigungen, Tod … Geschehnisse, die untrennbar mit dem Wort Krieg verbunden sind.

Ebenso gehören die „Kollateralschäden“ zum Krieg, was Schäden meint, die so nicht geplant waren. Erinnert sei hier an den Luftangriff auf die Tanklastzüge in Kundus (Afghanistan). Viele Kinder fanden den Tod, was eben ein Kollateralschaden gewesen sei, und später hieß es in der Presseerklärung der Generalbundesanwaltschaft, die sich mit dem Fall beschäftigen musste, dass sich der Befehl gebenden General „der Verpflichtung bewusst“ gewesen sei, „zivile Opfer so weit irgend möglich zu vermeiden“. In dieser Erklärung wird klar, warum es sich beim Wort „Kollateralschaden“ um einen Euphemismus handelt. Der Tod von unschuldigen Kindern kann und darf keinesfalls beschönigt werden!

Was nicht einmal als „Kollateralschaden“ bezeichnet wurde und wird, das sind die vielen Kinder und Jugendlichen, die den Krieg, auf welche Art auch immer, er-, durch- und überlebt haben. Das sind unzählige traumatische Erlebnisse, die ein Leben lang prägen, die gar „vererbt“ werden.

Maja Abramowna Didenkowa liefert den Beleg, in dem sie schreibt: „Und unsere erwachsenen Kinder sind wahrscheinlich nicht die glücklichsten auf dieser Welt. Denn in der Tiefe ihrer Seelen, in ihren Genen verbergen sich noch Reste dieser unserer Erschütterungen und Ängste, die in unserem jugendlichen Alter über uns hereingebrochen sind und die uns bis heute nicht loslassen.“

In dem Buch „Geraubte Kindheit“ können wir lesen, dass im 2. Weltkrieg ca. 50 Millionen Tote zu zählen waren, allein in Deutschland hinterließ der 2. Weltkrieg 2,5 Millionen Halb- und 250.000 Vollwaisen. Eine Viertelmillion Kinder verloren in Deutschland in den Jahren 1939 bis 1945 beide Elternteile. Was war das für eine Kindheit?

Dieser Frage geht das Buch auf den Grund, indem es, begleitet von wichtigen Fakten und wissenschaftlichen Erkenntnissen, vierundzwanzig Kriegskinder aus Frankreich, England, Russland und Deutschland zu Wort kommen lässt. Die Akteure aus dem Buch mussten zwischen 1927 und 1947 geboren sein, und aus Oberursel und deren Partnergemeinden kommen. Die Auswahl erfolgte dann zufällig, über Kontakte zu Vereinen und private Kontakte.

Die Kriegskinder schrieben ihre Erinnerungen nieder oder sprachen sie „auf Band“. Die entstandenen Berichte sind von ganz unterschiedlicher Länge und Intensität, sie überraschen durch Ansichten und Argumente und sie bestätigen auch oft das, was man schon wusste oder ansatzweise vermutete. Die kleinen und oft sehr persönlichen Geschichten lassen, fernab eines jeden (politisch korrekten) Geschichtsunterrichtes, eine Ahnung zu, was es für Kinder bedeutet, im Krieg aufwachsen zu müssen.

Nina Nikitischna spricht von einer „zerstörten Kindheit und Jugend“ und Denise Dautigny bringt es ganz simpel auf den Punkt, indem sie schreibt: „Meine Kindheit ist mir gestohlen worden.“ Kollateralschäden?

Nach Hartmut Radebold, so können wir es im Buch „Geraubte Kindheit“ nachlesen, waren im 2. Weltkrieg Kinder in drei Bereichen beschädigenden und traumatisierenden Erfahrungen ausgesetzt: 1.) Verlust naher Verwandter, 2.) Vertreibung aus der Heimat und 3.) Gewalterfahrungen.

Von all diesen Bereichen weiß das vorliegende Buch bildhaft und eindrücklich zu erzählen, sowohl von den kleinen Dingen, die das Leben ausmachte, wie z. B. Eileen Hiscock berichtet: „Wir hatten Gasmasken, und wenn wir ohne Gasmaske zur Schule gingen, bekamen wir Ärger.“ Und es sind die vielen dramatischen Einblicke, wie z. B. Walentin Wasilijewitsch Petrows „Im März 1942 starb meine Mutter an Hunger. Ich war damals zwölf Jahre alt, mein Bruder vierzehn. … Kurze Zeit später erkrankte mein Bruder schwer. Er verstarb im April.“

Wie ein roter Faden ziehen sich die traumatischen Erfahrungen fast aller Berichtenden aus den Bombardements durch das Buch. Und dennoch gibt es bei allem Leid auch kleine komische Geschichten, z. B. wenn Maja Abramowna Didenkowa von der Flucht schreibt: „In unseren Waggon brachten sie viele Portionen Eis. Wir hatten Brot, und so aßen wir Brot mit Eis.“

Das Buch mit seinen Berichten ist eine Anklage, klagt all die Kriegstreiber in der Vergangenheit, der Neuzeit und der Zukunft an, und das auch, obwohl keiner der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen klagt oder gar anklagt. Im ganzen Gegenteil. „…nach Deutschland wollte ich nicht. Erst als ich älter wurde, hatte ich das Bedürfnis, Frieden zu schließen und bin in unsere Partnerstadt Rudersdorf gereist. Dort habe ich warmherzige und sympathische Menschen kennengelernt, die ebenso unter dem Krieg gelitten haben. … Ich traf eine Deutsche, deren Vater – er war Kommunist – von den Nazis geköpft worden war. Wir haben beide den gleichen Preis bezahlt …“, resümiert Denise Dautigny. So entwickelt sich das Buch zu einem vehementen Aufruf für solidarisches, mitmenschliches und friedliches Zusammenleben.

Was Frieden bedeutet, wenn Krieg wütete, das erzählt Ann Ryan: „… und die Menschen laut ‚HURRA!‘ riefen vor Begeisterung über die wunderbare Nachricht, dass der Krieg vorbei war. Wir jubelten alle aus vollem Herzen und dankten Gott, dass er uns heil durch den Krieg geführt hatte.“ Und auch Denise Daugtiny: „Am Morgen des 8. Mai … fingen plötzlich alle Glocken an zu läuten …Wir hatten auf dieses Signal gewartet, es bedeutete: ES IST ZU ENDE!!! … Nach fünf Jahren voller Zwänge schrie, sang, lachte jeder wie wahnsinnig. Wir mussten uns abreagieren. … Für dieses Bankett nach Asterix-Art hatten wir zwar kein Wildschwein auf der Speisekarte, aber der Barde war da, Papa hatte sein Banjo wieder hervorgeholt!“

Das Buch kann durchaus nicht nur als Anleitung, sondern sogar als Steilvorlage genommen werden, um sich mit dem Thema „Krieg und Frieden“ auseinanderzusetzen. Kritisch – und eben nicht nur schwarz- und/oder weißmalend. Dass es sich lohnt Veränderungen friedlich herbeizuführen, das zeigt die Geschichte an vielen Stellen. Die „Geraubte Kindheit“ ist ein Buch, welches in Schulen gut zum „Interdisziplinären Lernen“ dienen könnte, ja sollte. Dieses Buch könnte in diesen Zeiten in Deutschland, Frankreich, England und Russland zur schulischen Pflichtlektüre erhoben werden. In jedem anderen Land natürlich auch!

Wer sich durch das Buch voller nüchterner Fakten, geschichtlicher Betrachtungen, Emotionen, voller Ängste, voller Leid, und dennoch auch voller Freude und Dankbarkeit, mit Weitsicht und Ausblick und mit jeder Menge Vergebung gelesen hat, denn kämpfen wäre hier gewiss nicht das richtig Wort, der kommt auf der Seite 393 zum Ende des empfehlenswerten Buchs, was mit dem Bericht von Reinhart Stoll (Deutschland) schließt und seinem – wie ich finde – sehr weisen Gedanken ausklingt, den ich auch so als Abschluss stehen lassen möchte: „Germans to the front!“ das gilt leider immer noch. Jetzt dürfen die deutschen Soldaten „Verantwortung übernehmen“. Das Vaterland schützen! Ist all das Kriegsleid vergessen?

Michael Oertel (Autor/Fotograf, Leipzig im März 2015)

Prof. Liselotte Bieback-Diel: „Geraubte Kindheit – Kriegskinder aus vier Nationen erzählen“, Reimer Verlag, ISBN 978-3-938266-14-4

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