Es sieht nicht wirklich aus wie einer dieser letzten Momente aus jener Zeit, als in Leipzig alles brodelte. Das Glas und die aufgedruckte Erklärung sind wie ein Blick in die Vitrine. Dahinter das restaurierte Schablonengraffito "Madonna mit Kind" am Gebäude der Karl-Liebknecht-Straße 7. Am Freitag, 13. April, wurde es feierlich der Öffentlichkeit enthüllt. 22 Jahre war es verschwunden.

Wenn man bei einem Graffito von “Verschwinden” sprechen kann. Hunderte Putzkolonnen sind in Leipzig Woche für Woche unterwegs, um Graffiti von den Wänden, Verteilerkästen, Türen und Fenstern zu kratzen, zu schaben, zu schäumen. Ein ganzer Wirtschaftszweig lebt davon, die Stadt in einem leidlich blanken Zustand zu erhalten. Und von dem, was 1990/1991 im Leipziger Straßenraum auftauchte, ist natürlich auch fast alles verschwunden, zumeist im ganz normalen Prozess der Sanierung. Am Haus Karl-Liebknecht-Straße 7 war alles etwas anders. Das Gebäude selbst stand fast 20 Jahre leer. Es war eine der komplizierten Sanierungs-Fälle an der Karl-Liebknecht-Straße. Ein Gemüseladen hielt tapfer die Stellung. Die Hauswand selbst war unter zentimeterdicken Plakatschichten verschwunden.

Als diese im Rahmen der Sanierung 2012 entfernt wurden, tauchte unverhofft das Schablonengraffito “Madonna mit Kind” auf. Auch das erst einmal nichts Besonderes. Wer sich in Leipzig umschaut, entdeckt auch heute immer wieder mal ein Schablonenbild, das zum Teil mit Witz Stellung nimmt zur Zeit und zur Politik der Zeit. Manches davon gut gemacht. Manches wirkt wie eine Hommage an den, der diese Art der Wandbemalung in Europa popularisiert hat.
Und es brauchte schon eine Kennerin, um zu erkennen, was da zum Vorschein gekommen war. Und eine, die das Bild noch aus ihrer Kindheit kannte: die Kulturmanagerin Maxi Kretzschmar. Sie recherchierte, fand Motiv und Künstler. Und der war kein geringerer als Blek Le Rat, mit bürgerlichem Namen Xavier Prou.

Blek le Rat gilt als Vater des Schablonengraffito (auch als Pochoir oder Stencil bezeichnet). Der Pariser Künstler etablierte diese Kunstform im öffentlichen Raum, das Graffito “Madonna mit Kind” gilt als sein ältestes erhaltenes Werk dieser Art. Als Maxi Kretzschmar mit ihm Kontakt aufnahm, war er begeistert und auch bereit, das Bild zu restaurieren. Für ihn eine doppelte Erinnerung – nicht nur an einen künstlerischen Aufenthalt in Leipzig in einer Zeit, als Klein-Paris noch rumorte. Bei diesem Aufenthalt lernte er auch Sybille aus Liebertwolkwitz kennen, die ihm zur Pfadfinderin im Leipziger Dschungel wurde. Und der er das Graffiti widmete. Und weil die Botschaft so klar und schön war, haben die beiden auch geheiratet. “Pour Sybille” ist eine der schönsten Liebeserklärungen, die in Leipzig je an einer Hauswand stand.
Die Frage war nur: Was macht man mit dem nun mittlerweile europaweit bekannten Bild? Lässt man es, wie es ist, wird es bald Opfer der heutigen Möchtegern-Künstler, die auch die lange Jahre geltende Regel, die Bilder der anderen nicht zu beschädigen, nicht mehr beachten. Der jahrelange Clinch mit Hausbesitzern und Ordnungskräften hat auch die Szene verändert, hat diejenigen, die mit Kunst tatsächlich eine Botschaft in die Öffentlichkeit tragen wollen, zu einer Minderheit gemacht.

Das Graffito wurde nach seiner Entdeckung durch den Künstler restauriert und soll nun geschützt durch eine Glasscheibe dauerhaft im öffentlichen Raum erlebbar bleiben. Das Graffito ist eines der ganz wenigen, die im deutschsprachigen Raum unter Denkmalschutz gestellt wurden.

Die Restaurierung des Graffito und die Anfertigung und Gestaltung der Schutzverglasung kostete rund 9.000 Euro. Die Kosten teilten sich der Bauträger L + S Denkmal Immobilien GmbH und die Stadt Leipzig.

“Die Wiederentdeckung des Graffito ist nicht nur eine kleine kulturgeschichtliche Sensation, sondern erzählt auch eine deutsch-französische Liebesgeschichte – gerade in diesem Jahr sicher auch eine reizvolle Anekdote zum 50. Jubiläum der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages”, sagt Dr. Ansgar Scholz vom Kulturamt der Stadt Leipzig.

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Eine kurze Erläuterung zum Graffito erscheint auf der Schutzverglasung in deutscher und französischer Sprache. Sie lautet auf deutsch: “Schablonengraffito (Stencil / Pochoir) von Blek Le Rat (Xavier Prou) entstanden 1991, wiederentdeckt und restauriert im Jahr 2012. Der Pariser Künstler etablierte diese Kunstform im öffentlichen Raum. ‘Madonna mit Kind’ gilt als sein ältestes erhaltenes Werk dieser Art.”

Seinen Künstlernamen hat Blek Le Rat an eines seiner frühesten Motive angelehnt: Ratten, die er überall in den Städten als Wandzeichen hinterließ, in denen er unterwegs war. Anfangs im Duo mit Gérard Dumas als Duo Blek. Nach der Trennung lehnte er seinen Künstlernamen an den Titel des Comics “Blek le Roc” an.

Seine Frau Sybille Prou hat mehrere Veröffentlichungen zur modernen Graffiti-Kunst vorgelegt. So auch 2000 bei Schwarzkopf & Schwarzkopf “Graffiti Art #11 – Graffiti in Paris” und “Pochoir”, ebenfalls 2000 bei Schwarzkopf & Schwarzkopf gemeinsam mit Bernhard van Treeck.

Der “Kreuzer” im März 2012 über die Geschichte der Leipziger “Madonna mit Kind”: www.kreuzer-leipzig.de/2012/03/19/die-leipziger-madonna/

Blek Le Rat auf “Gaffiti World”: www.graffiti-world.de/tag/blek-le-rat

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