Am 23. Juni ist wieder Welttag des Buches. Da werden die großen Mahner auch wieder über die Jugend reden und darüber, dass sie nicht liest. Oder das falsche liest. Aber vielleicht ist nur das Angebot das Falsche, mit dem „die Jugend” abgespeist wird. Es gibt sogar Jugendbücher, die für Furore sorgen. Ganz ohne Harry-Potter-Effekt und nächtliche Verkaufsaktionen. Vor einem halben Jahr berichtete die L-IZ über das neue Buch der Berliner Autorin Petra Kasch „By-bye, Berlin”.

Höchst aktuell. Heute immernoch, denn es geht nicht nur um das geteilte und neu verklebte Berlin. Es geht um den Anspruch an ein gelebtes Leben, die Risse, die mitten durch die Jugend eines Kindes gehen können, um Freundschaft, Vertrauen und den Mut zum Immerwiederneubeginnen. Und mittendrin als Heldin ein Mädchen, das in keinen Mädchenroman passt. Da will man gern wissen, wie’s weitergeht. Die L-IZ hat nachgefragt. Die Berliner Jugendbuchautorin Petra Kasch im Interview.

Jetzt ist es ein halbes Jahr her, dass „Bye-Bye, Berlin” erschien, das Buch über ein mutiges Mädchen im Berlin der 1990er Jahre. Eigentlich passend zu diesem gerade abgefeierten 20. Jahrestag des „Mauerfalls”. Aber hast du es deshalb geschrieben?

Nein, der Grund war ein anderer. Es passiert ja nicht alle Tage, dass ein Land quasi über Nacht aufgelöst wird und verschwindet. Die anschließenden Veränderungen gingen mit so einer rasenden Geschwindigkeit vonstatten, dass man oft gar nicht verstand, was da mit einem passierte. Die alten Gesetze galten nicht mehr, die neuen hatten noch nicht Fuß gefasst. Das war eine unglaubliche Zeit! Man taumelte zwischen Euphorie und Abgrund. „Bye-bye, Berlin” versucht eine Momentaufnahme des Sommers 1995, in dem nicht für alle die Sonne schien.

Die Heldin ist ungewöhnlich für die deutsche Jugendliteratur. Wie kommt sie bei den Jugendlichen an, die du in deinen Lesungen triffst?

Nadja ist in der Tat anders. Sie ist keine Fantasy-Elfe und auch kein Yedi-Ritter. Sie könnte gleich nebenan wohnen. Wirkliche Realität ist manchem heute etwas unheimlich. In den Lesungen setzt dann schon mal sprachlose Betroffenheit ein, weil das Buch Tabus berührt, über die oft peinlichst geschwiegen wird. Kinderarmut ist eines davon. Ebenso, wenn der Vater seinen Job verliert. Darüber spricht man nicht, denken viele und schämen sich. „Bye-bye, Berlin” erzählt in einer schonungslosen Ehrlichkeit von diesen Dingen. Das kennen viele Jugendliche gar nicht mehr, dass man sich ihnen auf so eine Weise nähert. Bei den Lesungen entstehen so aber wundervolle Gespräche, in denen viel gelacht und manchmal auch geweint wird.

Und was sagen die Mädchen selbst dazu? Immerhin ist doch für die meisten in Nadjas Alter eher Disco, Handy und Fun angesagt – oder täusche ich mich in dieser Einschätzung der jungen Damen?

Ich habe nichts gegen Disco und Fun. Als ich so alt war, glaubten die Älteren auch, mit uns würde die Welt untergehen, weil wir uns zu wenig für sie interessierten. Von so einem Mädchen wie Nadja, die in ihrer Wut und Verzweifelung oft übers Ziel hinausschießt, sind die Mädchen ziemlich fasziniert, denn diese Wut ist vielen von ihnen vertraut. „Bye-bye, Berlin” erzählt aber auch, wie viel Kraft hinter so einer Wut stecken kann. Und das hat für die Mädchen etwas sehr Anziehendes. Da lässt sich eine nicht alles gefallen, obwohl ihre Sache fast aussichtslos erscheint. Ich denke, man sollte die „jungen Damen” nicht unterschätzen. In der Schule sind sie ja schon seit einiger Zeit auf der Überholspur.

Petra Kasch. Foto: Ralf Julke
Petra Kasch. Foto: Ralf Julke

Können sich Kinder noch in diese Zeit hineinversetzen – und vor allem in das Leben von Nadjas Vater, der ein begnadeter Fotograf ist – und doch verzweifelt, weil ihn die neue Gesellschaft noch weniger braucht als die alte?

Die Kinder heute wissen meist wenig über die jüngere deutsche Historie. Das ist manchmal schon beängstigend. Aber „Bye-bye, Berlin” bietet durch seine bewegende und lebendige Geschichte viel Raum für Diskussionen und Gespräche. Und da ich die „Wende” in Berlin hautnah miterlebt habe, gibt es jedesmal viel zu fragen und zu erzählen. So entsteht letztendlich das Bild jener Zeit und die Vorstellung von den Menschen, wie sie damals lebten, gemeinsam mit den Kindern.

„Bye-Bye, Berlin” handelt ja auch in einer Zwischen-Zeit, in der viele der geschilderten Abenteuer noch möglich waren. Hätten Nadja und ihre Eltern heute noch eine Chance auf so ein Happy-End, wie Du es schilderst?

Es ist ja kein wirkliches Happy-End, wenn man genauer hinschaut. Der Vater verkauft zum Schluss seine komplette Fotosammlung, dreißig Jahre DDR-Geschichte, um gemeinsam mit seiner Familie in Hamburg einen Neuanfang zu wagen. Damit verkauft er auch ein Stück seiner Identität. Ein ziemlich hoher Preis, den er da zahlen muss.

Dass die Geschichte scheinbar doch noch „gut” ausgeht, ist vor allem der großen Solidarität von Nadjas Freunden und den Nachbarn geschuldet. Ich weiß nicht, ob man so ein bedingungsloses füreinander Einstehen heute noch findet.

Im Grunde steckt ja hinter der Geschichte auch ein großes Nachfragen: Irgendetwas ist ja verloren gegangen in den letzen 20 Jahren. Aber lässt sich das überhaupt wieder mit Leben erfüllen?

Im Leben geht immer etwas verloren, Hoffnungen, Freunde, Illusionen. Sonst wäre ja nie Platz für etwas Neues. Aber was die Geschichte hier hinterfragen will, ist die Art und Weise, wie nach dem Mauerfall mit den Menschen umgegangen wurde. Das hat lange Zeit niemanden interessiert. Doch das Leben ist seitdem rauer geworden, auch in den alten Bundesländern. Und in einem gnadenlosen Diktat werden kulturelle und soziale Werte immer mehr allein wirtschaftlichen Interessen untergeordnet. Und wenn Du mich so fragst, ist es das, was verloren gegangen ist – die innere Verantwortung füreinander.

Oder einmal anders gefragt: Ist eine Heldin wie Nadja eigentlich zeitgemäß? – Immerhin ist sie ja auch ein sehr lebendiger Gegenentwurf gegen ein Meer von Heile-Welt-Büchern im Jugendregal.

Für mich ist Nadja sehr zeitgemäß, denn diese Welt braucht lebendige und kreative junge Leute, die das hinterfragen, was wir ihnen vorleben. Nadja tritt in dem Fall aber nicht gegen die „Heile-Welt-Bücher”, sondern nur gegen sich selbst an. Was ist möglich, wenn man in einer verfahrenen Situation steckt? Was kann ich alleine stemmen? Und wo brauche ich Hilfe? Das muss kein Gegenentwurf zur „Heilen Welt” sein, ich denke, Jugendliche brauchen beides, wenn sie wachsen sollen.

Und was sagen die Eltern? Immerhin sind deine Helden ja selbstbewusste Kinder, die keineswegs in die Schubladen der Werbung passen. Richtig unbequeme, herausfordernde Kinder. Damit können doch auch Erwachsene nicht immer gut umgehen.

Sie finden sich in Nadjas Eltern selbst wieder, in ihren Ängsten und Hoffnungen. In der Geschichte wird geraucht, getrunken, geliebt und gelogen, da stromern Jugendliche nachts über die Dächer der Stadt, weil sie einfach nicht weiterwissen. „Bye-Bye, Berlin” sprengt den gewöhnlichen Rahmen von Erziehung, weil die Wucht der gesellschaftlichen Veränderung damals so groß war, dass sie kaum etwas an seinem Platz gehalten hat.

Aber Eltern erleben hier auch, dass Kinder ihren Weg gehen, egal, was passiert. Man kann ihnen nur begrenzt beistehen. Manchen macht das Angst, aber die meisten begreifen das als Chance, auch für sich selbst.

Wie geht’s weiter? Welche Helden kann man demnächst in einem Buch von Dir erleben?

Das nächste wird wieder ein eher klassisches Kinderbuch, das auch bei Ravensburger erscheint. Da verschlägt es eine kleine Nichtschwimmerin ausgerechnet ans Meer, eine Brückenbauerin bekommt es plötzlich mit einem Haus zu tun und zu allem mischt noch eine Brigade alter Seemänner mit, die überhaupt nichts von Landratten hält. Also jede Menge Stoff für eine spannende Geschichte.

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