Wie ein großer Magnet zog das Literaturhaus Leipzig am Montagabend, 7. Januar, die Menschen an. Sie kamen so zahlreich, dass den Veranstaltern schon eine halbe Stunde vor Beginn klar geworden sein muss, dass Themenabende in dieser kulturellen Metropole, die sehr vielen Leipzigern Anregung und Widerspieglung zu bieten vermögen und die sie womöglich Zeit ihres Lebens beschäftigen, lieber doch in jenen für einige hundert Leute konzipierten Sälen stattfinden sollten.

Mit einer Würdigung zum 90. Geburtstag des Dichters und Dramatikers Heiner Müller begrüßte der Leiter des Literaturhauses Leipzig, Thorsten Ahrend, die Autoren Katja Lange-Müller und Thomas Irmer, und natürlich die zahlreich erschienenen Gäste.

Er nannte noch eine ganze Reihe weiterer Schriftsteller, die ebenfalls im Jahr 2019 diesem Jubiläum entgegensehen und gefeiert werden: Hans Magnus Enzensberger, Günter Kunert, Milan Kundera, Christa Wolf, Peter Rühmkorff, Imre Kertesz, Michael Ende, Walter Kempowski, Paul Nizon ..

Ein verblüffender Jahrgang …

So begann der Abend mit einigen von Filmemacher und Theaterwissenschaftler Thomas Irmer in den Raum gestellten existentiellen Fragen: „Wo ist Heiner Müller? Isser weg? War er weg? Ist er wieder hier?“

Wie kann man das beantworten?

Es ging neben Fragen der Wahrnehmungen, die uns heute beschäftigen, um die These, dass mit Heiner Müllers Tod am 30. Dezember 1995 die Literatur der DDR endete, ebenfalls um die Chance der Wiederentdeckung und Überprüfung der Texte in unserer Zeit.

In der zweiten Hälfte der 80er Jahre so sehr gefragt, dass jährlich ca. 300 bis 500 Inszenierungen der Werke des Dramatikers Heiner Müller auf die Bühne gebracht wurden, sind es jetzt in Deutschland in den letzten Jahren nicht mehr ganz so viele, doch international und besonders im experimentellen Umfeld von Universitäten findet aktuell eine Auseinandersetzung mit dem Kapitalismusanalytiker und -kritiker statt, da die Umbrüche, die Heiner Müller mit Kassandra-Blick vorausgesehen hat, gerade in der Gegenwart ein starkes Gewicht erlangt haben.

Thomas Irmer, Katja Lange-Müller und Thorsten Ahrend. Foto: Franziska Wohlgemut
Thomas Irmer, Katja Lange-Müller und Thorsten Ahrend. Foto: Franziska Wohlgemut

Katja Lange-Müller, Leipzig durch das Studium am Literaturinstitut in den späten 70ern verbunden, dann Lektorin am Altberliner Verlag, Autorin zahlreicher Bücher und selbst Trägerin vieler Auszeichnungen und Preise, berichtete mit Berliner Zungenschlag Anekdoten aus jener Zeit in Ostberlin, ebenso aus der Zeit der Entstehung von Interviews mit Heiner Müller, die zum als „Flaschenpost für die Zukunft“ bezeichneten Buch „Krieg ohne Schlacht – Leben in zwei Diktaturen – eine Autobiografie“ führten.

Einen anderen Blick bot der in der Veranstaltung gezeigte Film: „Ich will nicht wissen wer ich bin“ von Christoph Rüter und Thomas Irmer aus dem Jahre 2009. Ins Bild gebracht wurden die Lebensstationen: Berlin, Bulgarien, Reisen nach Frankreich, in die USA.

Der Film ließ Partnerinnen und Mitarbeiter zu Wort kommen, Regisseure, Übersetzer, Theaterleute und Bühnenbildner, und ließ teilhaben am Schaffen und am Arbeitsprozess des Dichters und Dramatikers, der während der DDR-Zeit immer unter Beobachtung stand, jedoch sich eines vielfältigen Echos sicher sein konnte, denn Literatur wurde ernst genommen, wurde beachtet, so sehr, dass ein Verbot oder drohendes Verbot von Literatur einem Adelsschlag gleichzusetzen war. Doch in antikem Material, Medea, Philoktet, oder nach Stücken Shakespeares, konnten die Themen der Zeit angesprochen werden.

Als das Ende der DDR nahte, sprach Heiner Müller am 04.11.1989 während der großen Demo neben anderen Intellektuellen auf dem Alexanderplatz in Berlin und forderte unabhängige Gewerkschaften und Solidarität. Er endete mit dem persönlichen Satz: „Wenn in der nächsten Woche die Regierung zurücktreten sollte, darf auf Demonstrationen getanzt werden“, welchem im Nachhinein eine gewisse Prophetie nicht abgesprochen werden kann.

In jener Wendezeit fanden die Proben zu dem Monumentalwerk „Die Hamletmaschine“ statt, der Bruch der Zeit ging in das Stück ein, es geht darum auch um den Untergang der Intellektuellen und, so wurde gesagt, nachdem die Denkmale gestürmt worden waren, ging man auf die Ikonen los. Die Welt war aus den Fugen.

Was geblieben ist?

„Ein Grad von Unterdrückung, der als Freiheit empfunden wird“, diesen Satz kann anwenden, wer in der Marktwirtschaft ein eisernes Gesicht erblickt und eine kalte Schulter zu spüren vermeint im Augenblick, da er sich mit künstlerischem Blickwinkel darauf einlassen möchte. Denn nicht jede vergangene Zeit ist Vergangenheit sondern erzeugt doch immer wieder Gegenwart.

Eine Zen-Geschichte, in der eine Ente eine Rolle spielte, und doch auch wieder nicht, neben Meister und Schüler und Heiner Müller, wurde erzählt, oder besser gelesen, von Katja Lange-Müller, und beschloss den Abend mit einem Mysterium – dem von Angeboten und dem, was man daraus behalten kann, was eine Bedeutung erlangt und was die Zeit überdauern wird.
Heiner Müller wäre 90 geworden in diesem Jahr, seine Setzungen bedeuten noch etwas (oder wieder).

Termintipp: Am 22. Februar, 20 Uhr, findet in der naTo Leipzig ein Diskussionsabend statt: „Heiner Müller 90: Das Beispiel zählt, der Tod bedeutet nichts“. Der Regisseur Mark Rabe trifft die Lebensgefährtin von Heiner Müller Ginka Tscholakowa.

 

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