Vielen Dinge mussten abgewogen werden, um ein Urteil im Fall von Julian G. (28) zu finden. Er hatte im Januar 2015 eine Backwarenverkäuferin brutal zusammengeschlagen. Das Landgericht Leipzig verhängte gegen ihn am Freitag eine zweijährige Haftstrafe auf Bewährung. Zudem muss er sich aufgrund seiner psychischen Erkrankung und Alkoholsucht in Behandlung begeben, die die 1. Strafkammer als Tatauslöser wertete.

Am ersten Verhandlungstag wollte und konnte sich Julian G. zu seiner Tat nicht äußern. Die anwesenden Kameras hatten den Einzelgänger verstört. Er wollte sich in klaren Worten zu seiner Lebensgeschichte und der begangenen Tat äußern.

Probleme seit der frühsten Kindheit

Zur Mittagszeit am Freitag hatte er die Möglichkeit ergriffen. Wie es bereits seine Mutter beschrieben hatte, war seine Kindheit und Schulzeit von einer Aufmerksamkeitsstörung geprägt. Dennoch konnte er sich durch seine Leidenschaft im Umgang mit Computern diverse Kenntnisse aneignen.

Diese Fähigkeiten brachten ihn mit Anfang 20 nach München, wo er in einer kleinen Beratungsfirma arbeitete. „Ich war überarbeitet und überfordert“, gab er zur Begründung der Kündigung an. Eine 50- bis 60-Stunden Arbeitswoche waren damals eher der Normalfall als die Ausnahme.

Danach verschlug es ihn wieder in den Norden zu seiner Mutter. „Dort habe ich den ersten kompletten Zusammenbruch erlebt“, schilderte er der Kammer die Komplikationen seiner Therapie wegen einer Depression mit Psychopharmaka, die nicht allzu lange Zeit vorher begonnen hatte. Er musste in stationäre Behandlung.

Es folgten weitere Episoden in seinem Leben, in denen er hilflos der Welt gegenüber stand. „Ich war nicht mehr in der Lage, es in den Griff zu bekommen.“ Es folgten weitere Zusammenbrüche, bis dann die Therapien richtig angeschlagen haben.

Sein Leben stabilisierte sich. „Vielleicht geht es auch ohne“, überlegte er damals wegen der starken Nebenwirkungen seiner Medikamente. Die ersten Versuche wurden gemacht, die Medikamente wieder abzusetzen. „Es ging Jahre gut“, bemerkte er.

Anschließend kam er wegen einer IT-Ausbildung nach Leipzig. Sein Alltag war geregelt und er fand zu seiner Freundin Anne P. (25). „Das Jahr verlief gut“, schätzte er 2014 ein. Dann kam der Stress jedoch wieder.

Julian G. neben Strafverteidiger Curt-Matthias Engel. Foto: Alexander Böhm
Julian G. neben Strafverteidiger Curt-Matthias Engel. Foto: Alexander Böhm

Stress und Probleme waren der Auslöser

Im Januar 2015 fanden die kräftezehrenden Zwischenprüfungen statt, die er sehr gut bestand. „Es gab zwischen Anne und mir immer mehr Schwierigkeiten“, begründete er die kurzentschlossene Trennung am Abend vor dem Angriff auf Katrin von K. (42).

„Ich wollte an dem Tag nur noch Ruhe haben“, begründete er die Beruhigungsmaßnahme durch Trinken von mehreren Bieren. Ein Verhalten, was er bereits in seiner Zeit in München aufwies und bis zum Januar 2015 weiter praktizierte. “Die Flaschen wurden leerer. Die Gedanken blieben. Ich war in einer Denkspirale drin.“

Mit der Ankunft in der Kneipe Sachseneck in Gohlis verdunkelte sich nicht nur seine Stimmung sondern auch sein Gedächtnis. „Ab da habe ich gar keine Erinnerung mehr.“ Wenige Stunden später traf dann Katrin von K. auf ihn. Er würgte und schlug sie. Trat ihr mehrmals gegen den Kopf und wurde von zwei Beamten festgenommen.

Versuchter Totschlag oder nicht?

In ihren Plädoyers am Freitag bestritt noch nicht einmal Strafverteidiger Curl-Mathias Engel die Täterschaft seines Mandanten. Alle Parteien waren sich einig, dass Julian eine gefährliche Körperverletzung begangen hatte. Die genaueren Umstände waren jedoch höchst interpretationsbedürftig.

Staatsanwalt Klaus-Dieter Müller ging von einem Tötungsvorsatz aus. Die Nebenklage schloss sich an. Sie waren der Überzeugung, dass erst das Erscheinen der Polizeistreife die Tritte gegen den Kopf stoppten. Die Beamten waren durch die Bahnangestellte Petra V. (62) auf eine schreiende Person aufmerksam gemacht worden.

Für Engel alles nur Vermutungen. „Wir haben hier die Zeugin V., die nichts gesehen hat.“ Die Polizeibeamten hatten ebenfalls ausgesagt, dass sie keine Tritte gesehen hatten. Dem Staatsanwalt warf er vor, wichtige Betrachtungen außen vor gelassen zu haben. Beispielsweise habe man eine Mordkommissarin als Zeugin gehört, die zunächst „bewusst getäuscht“ und sich „vergaloppiert“ hatte in ihrer Aussage. Eine Professionalität in ihrer Arbeit konnte der Verteidiger nicht erkennen. „Ich finde es traurig“, meinte er. Die psychischen Probleme hätten demnach auch kein Gehör gefunden. „Viele Beamte haben hier merkwürdige Dinge berichtet“.

In den Anträgen forderten Staatsanwaltschaft und Nebenklage eine Haftstrafe ohne Bewährung. Müller beantragte dreieinhalb Jahre. Engel hingegen setzte sich für eine Bewährungsstrafe von zwei Jahren ein, aufgrund der zahlreichen Einlassungen und angeführten Milderungsgründe.

Bewährung statt Gefängnis

Viel Zeit für die Urteilsfindung hatte sich die Kammer aus terminlichen Gründen nicht nehmen können. Nach knapp anderthalb Stunden kam sie zu einer Entscheidung, in der sie den Ausführungen von Engel im Grunde folgte. Staatsanwalt Müller war teilweise entsetzt. „Das gibt es doch nicht“, rutschte ihm während der Urteilsbegründung heraus.

Der Vorsitzende der 1. Strafkammer Hans Jagenlauf bescheinigte der Kammer, beim Abwägungsprozess einige Schwierigkeiten gehabt zu haben. Aus einer Kombination von Alkohol und psychischen Problemen sei die Tat entstanden. „Nicht nur die Sicht des Opfers ist zu berücksichtigen“, versuchte er die Schlüsse des Schwurgerichts der Geschädigten zu erklären.

„Einen Tötungsvorsatz konnte die Kammer nicht mit notwendiger Sicherheit feststellen“, weswegen nur eine Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung in Frage gekommen war. Aufgrund des Alkoholrausches waren die Steuerungsfähigkeiten des Angeklagten beschränkt. Das erstellte psychiatrische Gutachten sah den Anlass hauptsächlich im Alkoholrausch begründet.

Somit kam die Kammer letztendlich zum Schluss, Julian G. zu zwei Jahren auf Bewährung zu verurteilen. Das Gericht trug damit auch den fünf Monaten Untersuchungshaft Rechnung, die der 28-Jährige bereits verbüßt hatte. Die nächsten drei Jahre darf sich G. nichts weiter zuschulden kommen lassen. Weiter muss er sich wegen seinen alkoholischen als auch psychischen Problemen in Behandlung begeben.

Er selbst und Verteidiger Engel verzichteten auf die Einlegung von Rechtsmitteln. „Die Begründung des Urteils muss man abwarten“, teile Staatsanwalt Müller mit. Sollte bei der Prüfung ein formaljuristischer Mangel festgestellt werden, könnte die Staatsanwaltschaft noch in Revision gehen, ansonsten wäre das Urteil rechtskräftig.

Julian G., der noch zur Verhandlung in Handschellen in den Saal geführt wurde, durfte das Gericht als freier Mann verlassen.

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Es gibt 5 Kommentare

Das nenne ich mal sauber durchargumentiert, Kollege Böhm 😉 Ja, juristisch passt es wirklich. Menschlich ist es ein Problem, weil natürlich die Auswirkung keine kleine für die Geschädigte ist. Und aus dieser Perspektive betrachten Leser auch zurecht die Fälle. Genau das ist das Problem bei Berichten über Gerichtsverhandlungen.

Mich würde jetzt gern die politische Ausrichtung interessieren, die sie mir attestieren, wenn ich versuche die Gedankengänge des Gerichts nachzuvollziehen. Dem zu Folge wäre die 1. Strafkammer und der von der Staatsanwaltschaft bestellte Gutachter der gleichen juristisch unbegründeten Überzeugung, wie sie es mir vorwerfen … naja, man wird ja nicht einfach so Gutachter oder Richter, aber egal.

Die Argumente des Verteidigers wurden der Anklage gegenüber gestellt. Sie können sich gerne die vorherigen Artikel durchlesen, in denen das widersprüchliche Verhalten des Angeklagten in der Tatnacht dargestellt wurde.

Wenn sie die U-Bahn-Fälle zitieren, dann müssen sie diese auch in den entsprechenden Kontext setzten. Vor Gericht stand hier nämlich nicht irgendein Berufsschläger sondern ein junger Mann, dessen Schuldfähigkeit in einem Maß gemindert wurde, was sich im Urteil widerspiegelte.

Wie in meinen vorherigen Kommentar bereits erwähnt: Es geht um die Schuldfähigkeit und nicht um die Tat selbst, weswegen Herr Jagenlauf auch das Wort an die Geschädigte richtete.

Wenn sie als neutrale Berichterstattung erwarten, dass ich hier Skandal schreie, dann hat dies auch nichts mit Objektivität zu tun. Bereits zur Hälfte der Beweisaufnahme wurde für den Beobachter deutlich, dass die Staatsanwaltschaft den angeklagten Tatbestand nicht wirklich beweisen konnte. Jedem Angeklagten muss eine konkrete Tat nachgewiesen werden. Ein Totschlag wurde nicht nachgewiesen.

Wenn sie von physischen Unversehrtheit sprechen, die nicht geachtet wird in Leipzig, wie schätzen sie dann den Fall des paranoider Schizophrenen Peter K. (http://www.l-iz.de/leben/faelle-unfaelle/2015/06/47-jaehriger-wegen-versuchten-totschlags-auf-der-anklagebank-95394) ein, dem die Staatsanwalt bereits in ihrer Anklage Schuldunfähigkeit attestiert. Vertritt die Staatanwältin Minkus ebenfalls eine verquere Meinung?

Ein Verbrechen ist eben nicht so einfach zu bewerten, wie dieser Fall zeigte.

Auch wenn es “nur” eine gefährliche Körperverletzung gewesen sein sollte und kein versuchter Totschlag: für eine gefährliche Körperverletzung kann man bis zu 10 Jahre Freiheitsstrafe verhängen. Selbst wenn man eine irgendwie geartete eingeschränkte Schuldunfähigkeit zugunsten des Angeklagten annimmt, ist nicht nachvollziehbar, dass das Urteil so milde ausgefallen ist. Man tritt einfach keine Person mehrfach gegen den Kopf. Der Angeklagte und das Opfer haben verdammt viel Glück gehabt, dass nichts Schlimmeres passiert ist. Und das ist wirklich Glück und nicht dem Angeklagten anzurechnen. Man denke etwa an die U-Bahn-Fälle aus München. Traurig, wie wenig die körperliche Unversehrtheit scheinbar hier in Leipzig geachtet wird. Ist ja alles nicht so schlimm. Der arme Täter. Nicht nachvollziehbar und höchst ärgerlich finde ich, dass der Autor des Artikels nicht objektiv berichtet. Man sollte besser “Kommentar” oder “Meinung” oder dergleichen über den Artikel schreiben. Dann würde ich von vornherein keine neutrale Berichterstattung erwarten. Aber es ist leider nicht der erste Artikel, den ich heute hier lese, bei dem deutlich die Meinung und politische Ausrichtung des Schreiberlings durchschimmert. Das ist schade, denn zuallererst erwarte ich von einer Zeitung Neutralität in ihrer Berichterstattung.

Was Frau K. geschehen ist, stellte im Gerichtssaal niemand in Abrede. Wer der Angeklagte, noch das Gericht, noch die Verteidigung. Allerdings wurde eben nicht nachgewiesen, dass G. die Frau töten wollte.
Dazu muss man noch bemerken, dass die Tat eine sehr außergewöhnliche für den Angeklagten war.

Zur Bewertung der Schuld wird im deutschen Rechtssystem die Schuldfähigkeit herangezogen. Weil die Kammer offenbar die Argumente von Herrn Engel über den psychische Verfassung seines Mandanten nicht außer Acht lassen konnte, kam sie zu dem an der Tat gemessenen milden Urteil.

Als wesentlich frappierender stellte sich für mich die Arbeit der Staatsanwaltschaft heraus, die her Engel meiner Meinung nach in der Deutlichkeit angreifen musste. Wer bei einer Beweisführung einen Totschlagversuch nachweisen will, muss dies auch anhand der Fakten entsprechend beweisen können.

Und was ist mit dem Opfer?
Mir bleibt die Spucke weg, bei diesem Urteil.
Jeder Mensch hat mal Schwierigkeiten in seinem Leben und muss sich selber mit dem Schopf wieder rausziehen, deshalb hat man noch lange nicht das Recht, andere zu misshandeln. Es gibt auch genug Menschen, die keine gute Kindheit hatten und aus denen trotzdem was geworden ist und die trotzdem nicht kriminell werden!!!!!!!!!!!!!!

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