Der Stich traf das Opfer mitten ins Herz: Nach einem tödlichen Messerangriff in der Richard-Lehmann-Straße im September 2023 begann am Freitag vor dem Landgericht der Prozess gegen den mutmaßlichen Täter. Michael O. räumte den äußeren Tatablauf ein, bestand aber darauf, in Notwehr gehandelt zu haben. Bei der Schilderung seiner Sicht und seiner Lebensgeschichte wurde er ausschweifend.

Tödlicher Messerstich in die Brust

Ein kleiner, älterer Mann betritt am Freitagmorgen mit Handschellen den gut besuchten Saal des Leipziger Landgerichts, setzt sich, schlägt die Beine lässig übereinander. Er unternimmt keinerlei Versuch, sein Gesicht vor der neugierigen Öffentlichkeit und den Kameras der Lokalpresse zu verstecken. Der 60 Jahre alte Michael O., bisher ohne Vorstrafen, soll am Nachmittag des 8. September 2023, etwa 15:49 Uhr, seinem Kontrahenten Martin S. bei einer Auseinandersetzung mit einem Obstmesser in die Brust gestochen haben.

Tatort des traurigen Vorfalls, der zu einem größeren Polizeieinsatz führte, war der Hinterhof eines Mehrfamilienhauses in der Richard-Lehmann-Straße. Martin S. verstarb noch vor Ort, er wurde nur 54 Jahre alt. „Der Angeklagte nahm zumindest billigend in Kauf, ihn zu töten“, sagt Staatsanwältin Katharina Thieme in ihrer auf Totschlag lautenden Anklageschrift.

Angeklagter spricht von Bedrohung durch den Getöteten

Michael O.s Verteidiger Andreas Meschkat verliest daraufhin eine Erklärung: Es sei unstrittig, dass der Getötete durch einen Messerstich seines Mandanten ums Leben kam. Aber es habe sich um eine Notwehrsituation gehandelt: „Herr O. hatte nie die Absicht, dass Herr S. durch seine Abwehrhandlung tödlich verletzt wird“, so der Rechtsanwalt.

Spurensicherung am Tator, 8. September 2023t. Foto: LZ
8. September 2023: Polizeikräfte waren bis in die Abendstunden mit der Spurensicherung am Tatort beschäftigt. Foto: LZ

Der Verdächtige selbst ist anschließend bereit, zum Tatvorwurf auszusagen. Demnach sei er kurz vor der Tat vom Einkauf auf dem Weg zu seiner Lebensgefährtin gewesen. In deren Wohnung in der Richard-Lehmann-Straße habe er de facto zuletzt gelebt, auch einen Schlüssel gehabt. Unterwegs habe er Martin S. getroffen: „Er fängt an, mich zu bedrohen, mich anzuschreien“, sagt der Angeklagte.

Keine ungewohnte Situation, wenn man ihm folgen mag: Martin S. habe er seit Jahren gekannt, immer wieder habe der ihn bedroht und ausrauben wollen, zuletzt etwa acht Tage vor dem tödlichen Vorfall, schildert Michael O. seine Version. Ähnlich auch an jenem sonnigen Septembernachmittag, da habe das Opfer aggressiv Geldkarten, Schlüssel und Medikamente von ihm eingefordert. Letztere will Michael O. für seine Partnerin besorgt haben, die lange Jahre opiatabhängig gewesen sei. Sie lebt inzwischen nicht mehr.

Mit dem Getöteten habe sie früher vermutlich mal sexuellen Kontakt gehabt, aber keine feste Beziehung. Auch soll er sich zeitweise mit in ihrer Wohnung aufgehalten haben, zum Unmut des Angeklagten: „Er war mir unangenehm, wenn er da war, bin ich gegangen.“

Apfelstrudel und Messer

Als seine Partnerin am 8. September 2023 den Streit der Männer mitbekommen und aus dem Fenster in etwa „Vertragt euch doch!“ gerufen habe, sei ihm die Hose heruntergerutscht und das Obstmesser herausgefallen – für ihn wegen seiner fehlenden Zähne ein unverzichtbares Utensil beim Zerkleinern von Nahrung, sagt Michael O. aus. Dieses habe er aufgehoben und die Hose wieder hochgezogen. Beim Versuch, die Haustür aufzuschließen, sei Martin S. auf ihn zugekommen.

Mit dem eingekauften Apfelstrudel in der ausgestreckten linken Hand und dem Messer in drei Fingern der rechten habe er sich gegen das aggressive Gebaren verteidigt, wobei es zum Stich gekommen sei, Martin S. brach zusammen. Michael O. selbst wählte den Notruf und wurde in unmittelbarer Nähe an einem Haltestellenhäuschen durch Polizeikräfte gefasst.

Zuweilen wirre Schilderungen

Michael O. spricht klar und ausschweifend, beantwortet bereitwillig alle Rückfragen. Hinsichtlich seiner persönlichen Verhältnisse schildert er, der laut eigener Aussage in Berlin Mathematik studierte, seinen Werdegang. Die Rede ist von einer Gebietsbesetzung mit Kommilitonen, der UN-Charta, Umsiedlungsplänen, alliierten Befragungen, Entführungen und ähnlichem.

Die Erzählung klingt derart konfus, dass Prozessbeteiligte und Zuhörer offenbar zuweilen den Faden verlieren. Mehrfach mahnt die Vorsitzende Richterin Antje Schiller den Angeklagten, bitte einen Bezug zu seiner Biografie herzustellen. Erst zur Mittagspause endet die Befragung von Michael O., der seit etwa 2005 in Leipzig lebt, zuletzt eine Bau- und Montagefirma gehabt haben soll.

Angeklagter gibt diverse Berufe und einen Doktortitel an

Schon zur Abfrage seiner Personalien hatte er mehrere Berufe genannt: Maler und Lackierer, Informatiker, Bezirksbürgermeister. Zudem führe er den Titel „Dr. jur.“ aus DDR-Zeiten, behauptet der Angeklagte, der seine Staatsangehörigkeit mit „deutsch, aber nicht BRD“ angibt.

Der Prozess wird am Dienstag fortgesetzt, es sind zahlreiche Zeugenbefragungen und auch ein psychiatrisches Gutachten geplant. Ein Urteil soll nach jetzigem Stand im April fallen.

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