Für die Versorgung von immer mehr Pflegebedürftigen und eine menschenwürdige Pflege möglichst zu Hause bedürfe es mehr Ressourcen als bisher, sagt die SPD-Sozialexpertin Dagmar Neukirch im L-IZ-Interview. Unbedingt erforderlich ist in Sachsen aus Sicht der Abgeordneten ein Landespflegegesetz, das den Verantwortungsbereich der Kommunen klärt.

Frau Neukirch, Sie sagen “Pflege braucht Pflege”. Wie steht es denn aus Ihrer Sicht um die Lebensbedingungen der Pflegebedürftigen und die Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte in Sachsen?

Die Lebensbedingungen von Pflegebedürftigen sind gut. Das sind sie aus meiner Sicht, weil sich viele Angehörige und fast 50.000 Pflegekräfte jeden Tag für sie engagieren.

Die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten und die Lebensbedingungen für pflegende Angehörige jedoch sind zum Teil katastrophal.

Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?

Sachsen zählt zu den Bundesländern mit den niedrigsten Pflegesätzen. Das heißt, dass sehr wenig Geld in diesen Bereich fließt. Dadurch wiederum arbeitet man in der professionellen Pflege mit vergleichsweise weniger Personal. Das führt dann zu sehr viel Stress und hoher Belastung für die Pflegekräfte.

Leider gibt es eben auch keine grundlegenden Personalbemessungsverfahren. Auch fehlt ein Pflegemonitoring, mit dem man den Einsatz von Fachkräften begleiten und Rückschlüsse auf tatsächliche Bedarfe ziehen könnte. Das betrifft übrigens nicht nur den Bereich der Altenpflege, sondern auch für den Bereich der Kranken- und Kinderkrankenpflege sind valide Aussagen nicht möglich.

Seit Jahren wird nun schon beklagt, dass die Pflegesätze in Sachsen die geringsten in ganz Deutschland sind. Inwieweit sehen Sie hier Chancen einer Besserung?

Die Politik kann sich, wie die Staatsregierung es macht, zurücklehnen und sagen: “Das müssen die Kassen und die Leistungsanbieter miteinander ausmachen.” Die Position blendet aber den Spielraum der Politik aus. Politik setzt den Rahmen, Politik bestimmt die finanziellen Budgets, Politik bestimmt Qualitätsanforderungen und Standards. Und nicht zuletzt muss sich Politik um die Einhaltung dieser Anforderungen kümmern.

Nicht alles dabei ist Bundespolitik. Auch der Freistaat kann hierbei helfen, in dem eben Standards für die Pflege im ambulanten und im stationären Bereich vorgegeben werden. So sind wir beispielsweise bei unserem Entwurf für ein neues Wohn- und Betreuungsgesetz vorgegangen.

Insgesamt muss es darum gehen, den Wert der Arbeit mit Menschen für die Gesellschaft wieder sichtbar zu machen. Dann wäre auch die Diskussion um die Ressourcen, die dafür zur Verfügung gestellt werden, auf eine neue Basis gestellt. Für mich ist völlig klar, dass wir für die Versorgung von immer mehr Pflegebedürftigen und dafür, dass wir eine menschenwürdige Pflege möglichst zu Hause ermöglichen wollen, mehr Ressourcen benötigen als bisher.

Sachsens Regierung sieht durch das im Sommer 2012 verabschiedete neue Heimgesetz die Situation der Pflegebedürftigen verbessert. Inwieweit teilen Sie diese Einschätzung?

Ich teile die Einschätzung überhaupt nicht. Das Sächsische Betreuungs- und Wohnqualitätsgesetz – kurz: SächsBeWoG – basiert auf dem alten Bundesheimgesetz von 1974.

Die damaligen Anforderungen unterscheiden sich vehement von den heutigen Herausforderungen einer alternden Gesellschaft. Damals gab es auch tatsächlich nur die Pflege zuhause oder das klassische Heim. Mittlerweile sind die Wohnformen von Seniorinnen und Senioren so vielfältig wie die Menschen selbst. Und das ist toll.

Das Heimgesetz unterscheidet aber nur in “stationär”, dann fällt eine Einrichtung unter das Gesetz, oder in “nicht-stationär”, dann ist Qualitätskontrolle kaum möglich. Außerdem gibt es keine Antwort auf die neu entstehenden unterschiedlichen Wohn- und Betreuungsformen.
Was ist die Folge?

Viele ältere Menschen haben durchaus Ängste, sich zu entscheiden, weil es ihnen auch Sorgen bereitet, sich in Abhängigkeiten zu begeben.

Unser Gesetzentwurf beinhaltet deshalb ein gestuftes Verfahren: Je höher der Abhängigkeitsgrad des Pflegebedürftigen vom Leistungsanbieter, desto stärker greift der Schutzmechanismus des Gesetzes. Dieses gestufte Verfahren engt nicht ein, sondern schützt da, wo es notwendig ist. Das stärkt den Pflegebedürftigen, weil eindeutige, klare Kriterien vorgegeben werden, und hilft dem Leistungsanbieter, weil es transparent ist.

Die Anzahl älterer Menschen wächst. Die Mehrheit der Senioren möchte möglichst lange in ihrem vertrauten Umfeld leben. Auf der anderen Seite wären die Kommunen überfordert, würde man ausschließlich auf stationäre Pflege setzen. Wie sehen Sie Sachsens Kommunen auf diese demografische und sozialpolitische Herausforderung vorbereitet?

Viele Kommunen unternehmen eine Menge, um den heutigen und noch größeren zukünftigen Herausforderungen gerecht zu werden. Allerdings bewegen sie sich rechtlich im luftleeren Raum.

Was wir unbedingt benötigen ist ein Landespflegegesetz, das die Spielregeln für alle Akteure festlegt. Die Kommunen müssen einen klaren Verantwortungsbereich haben, in dem sie lokale Altenhilfeplanung umsetzen können. Wir wollen nicht von Landesseite den Kommunen vorschreiben, wie was zu machen ist oder gar eine Pflegeplanung des Landes für die Kommunen. Wir wollen aber klare Verantwortlichkeiten für den Freistaat, die Kommunen und die weiteren Akteure definieren.

Zudem bin ich sehr für regional vernetzte Pflegelandschaften. Diese lokalen Pflegenetze benötigen aber Halt und Struktur. Wir haben deshalb im nächsten Doppelhaushalt für die Jahre 2013/2014 regionale Pflegekoordinatoren beantragt. Dieser Antrag wurde leider durch die Regierungskoalition abgelehnt.

Was können Beratungsangebote vor Ort wie die künftigen Seniorenbüros in Leipzig in dieser Situation leisten?

Ich halte lokale Beratungsangebote mit ihren vielfältigen Aufgaben für enorm wichtig. Besonders hervorheben möchte ich jedoch die ganz konkrete, auf die individuelle Situation eingehende Hilfestellung und Anleitung durch das sehr komplexe Hilfesystem. Wer kennt schon die Unterstützungsangebote bei häuslicher Pflege?

Je länger die Information jedoch braucht, um zu den Menschen zu kommen, desto mehr Chancen auf häusliche Pflege werden verspielt, weil dann doch häufig zur vermeintlich einfacheren Hilfe – dann zumeist dem stationären Angebot – zurückgegriffen wird.

Zudem können unabhängige Beratungsangebote auch präventiv wirken, in dem Informationen zum Wohnungsumbau, zu hauswirtschaftlichen oder ehrenamtlichen Helfern gebündelt und zielgerichtet weitergegeben werden können.

Vielen Dank für das Gespräch.

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