Wer die Dinge falsch interpretiert, kommt zu falschen Ergebnissen. Das ist auch im aktuellen „Kinder- und Jugendreport 2015“ der Stadt Leipzig nachzulesen. Samt falscher Interpretationen. Mitarbeiter der Offenen Kinder- und Jugendarbeit haben einige Aussagen des Reports jetzt deutlich kritisiert. Denn wer Jugendarbeit nur als Konflikttherapie betrachtet, hat etwas gründlich falsch verstanden.

Dass Leipzig sich oft genug als Reparaturwerkstatt für politischen und gesellschaftlichen Murks sieht, das ist mittlerweile Grundkonsens der Stadtpolitik. Mit Millionen finanziert die Stadt überall dort, wo sie hofft, die gesellschaftlichen Fehlentwicklungen wenigstens puffern zu können: bei Hilfen zur Erziehung, in Kindertagesstätten, bei Jugendsozialarbeit … Alles Kostenberge, die permanent wachsen.

Und genauso hat die Stadtpolitik bislang wohl auch die Offenen Jugendtreffs betrachtet: quasi als Hilfsangebote für Jugendliche in Problemlagen. Aber wenn die OFTs nur als Problem-Hilfspunkte betrachtet werden, denkt irgendjemand falsch, kritisieren die Mitarbeiter der Jugendtreffs jetzt – nicht nur in einer deutlichen Pressemitteilung – sondern auch in einer inhaltlichen Stellungnahme.

Denn wenn die Verwaltung glaubt, Jugendtreffs würden nur an einigen besonderen Brennpunkten im Stadtgebiet gebraucht, dann muss sie sich nicht wundern, wenn überhaupt nur ein geringer Teil der Jugendlichen diese Treffs nutzt (jeder Elfte). Dann weist das Angebot sichtlich Lücken auf.

In den letzten zwei Jahren hat in Leipzig ein Treff geschlossen, ein zweiter wird mittlerweile „umgenutzt“, resümiert der Stadtjugendring Leipzig. Der Umfang der von der Stadt bezahlten Personalstunden für Fachkräfte sinkt stetig und damit auch die Anzahl der Öffnungszeiten, sowie die Anzahl der interessenspezifischen Projekte, die begleitend stattfinden.

„Dabei geht es nicht einfach nur um den Erhalt von Arbeitsplätzen. Wer uns das vorwirft, der denkt viel zu kurz“, erklärt Matthias Stock, Vorsitzender des Deutschen Berufsverbands für Soziale Arbeit (DBSH) Sachsen. „Vielmehr geht es darum, dass sich Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter auch als Anwälte für die Interessen von Kindern und Jugendlichen verstehen und sich für diese einsetzen. Deshalb ist es notwendig, endlich an die Öffentlichkeit zu gehen, um den schleichenden Abbau zu stoppen und Orte zu sichern, in denen sich junge Menschen frei entfalten und ihre eigenen Interessen einbringen können.“

Gerade sei in Dortmund der Bundeskongress für Kinder- und Jugendarbeit zu Ende gegangen, auf dem diese zentrale Bedeutung von Jugendtreffs noch einmal ausdrücklich hervorgehoben wurde.

Dafür brauche es jedoch auch konkrete Orte. Leipzig sei faktisch ausverkauft, titelte unlängst eine Zeitung und meinte den Immobilienmarkt, der boomt und die Grundstücks- und Mietpreise in die Höhe schnellen lässt.

Da wird auch der Raum für außerschulische Jugendarbeit knapp und unbezahlbar. So war man in den letzten fünfzehn Jahren in Leipzig durchschnittlich drei Jahre auf der Suche nach einem Alternativstandort, wenn man einen neuen Jugendtreff suchte. Einige wurden ersatzlos gestrichen und der letzte Neubau liegt über zehn Jahre zurück.

„Wird dieses Thema bei der Stadtplanung jetzt nicht mitgedacht, werden zukünftig kaum Optionen bleiben oder es wird richtig teuer“, warnt Corinna Graf, Geschäftsführerin des Stadtjugendring Leipzig e. V.

Das Problem, das der Jugendreport deutlich macht, ist ein Verwaltungsdenken, das die Notwendigkeit von Offenen Freizeittreffs vor allem mit Jugendlichen in sozialen Problemlagen in Beziehung setzt. Aber so funktioniert das nicht, stellen die Mitarbeiter der OFTs aus ihrer Arbeit fest.

„Wenn die Studie ‚Jugend in Leipzig 2015‘ zu der Einschätzung gelangt, dass Jugendtreffs Orte seien, an denen bevorzugt Jugendliche mit besonderen Problemlagen betreut würden, zeigt sich darin eine unzulässige Verkürzung dieses Ansatzes. Ohne auf die zweifellos holprige Herleitung des Begründungszusammenhangs in der Studie an dieser Stelle eingehen zu können, lässt sich in dieser Aussage ein fragwürdiges und aus fachlicher Sicht zurückzuweisendes Verständnis des Arbeitsfeldes erkennen. Offene Kinder- und Jugendarbeit darf nicht dauerhaft auf einzelne Gruppen beschränkt werden, wenn sie sich nicht gleichzeitig ihres gesetzlichen Auftrages entledigen will. Ihre Angebote stehen generell allen jungen Menschen offen, auch wenn sie sich in konkreten Situationen zwangsläufig an bestimmte NutzerInnen richten muss.“

Wenn die Verwaltung wirklich so denkt, dann praktiziert sie durch ihr Handeln selbst Ausgrenzung und negiert, dass auch Jugendliche aus Nicht-Problem-Umfeldern gern solche Treffs besuchen und ebenfalls genug Probleme, Sorgen, Fragen haben, für die sie die Angebote der Betreuer gern in Anspruch nehmen. Denn unter Leistungsdruck stehen sie alle – in einem straff auf Auslese getrimmten Bildungssystem und einer Markterwartung, die sie mit Schulabschluss gleich als einsatzfähige Leistungskräfte rekrutieren will. Da bleibt oft selbst im Familienkreis kaum noch Raum für Persönliches.

Fazit der Sozialarbeiter: „Offene Freizeittreffs wirken gesellschaftlicher Benachteiligung also nicht dadurch entgegen, dass sie sich spezifisch auf normative Kategorien wie ‚Benachteiligung‘ oder ‚besondere Problemlagen‘ in ihren jeweiligen Ausrichtungen beziehen, sondern indem sie prinzipiell allen jungen Menschen Chancen eröffnen, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, sich selbst zu verwirklichen und an gesellschaftlichen respektive sozialen Aushandlungsprozessen teilzuhaben. Dies setzt einen Blick auf junge Menschen als eigensinnige Subjekte mit Stärken, Fähigkeiten und Kompetenzen voraus, der auch dann nicht getrübt wird, wenn Experimente scheitern, Erfolg vorübergehend ausbleibt oder ein Risiko sich nicht auszahlt. Konflikte stellen dann in sozialen Aushandlungsprozessen auch nicht länger Probleme dar, die es zu verhindern, sondern Bildungsanlässe, die es zu begleiten und für die persönliche Weiterentwicklung nutzbar zu machen gilt.“

Und das hat auch nichts mit einer Dauermitgliedschaft zu tun. In bestimmten Lebensphasen werden die Treffs für junge Menschen wichtig, später nabeln sie sich wieder ab. Warum die Stadt hier eine höhere Nutzungsquote erwartet, erschließe sich aus dem Report einfach nicht.

„Wie die NutzerInnenbefragung zeigt, ist es besonders der Anteil der NutzerInnen im Alter unter 10 Jahren, der derzeit steigt, während sich vor allem Jugendliche zeitweise von pädagogisch geprägten Orten der Freizeitgestaltung lösen und ganz eigene Formen des Freizeithandelns ausprobieren. Aus diesem Grund lässt sich erkennen, dass es sich in der aktuellen Leipziger Jugendstudie um eine zu kurz gegriffene Interpretation handelt, jungen Menschen eine prinzipielle Interesselosigkeit an den Angeboten von Jugendtreffs zu unterstellen und das Mobilisierungspotential bisheriger NichtnutzerInnen als gering einzuschätzen. Möglicherweise differenziert sich das Freizeitverhalten von Jugendlichen als der befragten TeilnutzerInnengruppe entwicklungsgemäß einfach aus.“

Sonst freuen sich die Politiker ja immer, wenn Jugendliche lernen, selbstständiger zu sein. Die Offenen Jugendtreffs helfen augenscheinlich dabei. Davon auszugehen, dass die Jugendlichen dann einfach hängen bleiben, bis sie 18 sind, ist augenscheinlich völlig falsch gedacht.

Die Stadt wäre aus Sicht der Jugendbetreuer gut beraten, im ganzen Stadtgebiet genügend Offene Jugendtreffs vorzuhalten und vor allem auch personell gut auszustatten. Eben weil es niedrigschwellige Angebote für alle Jugendlichen sind, um auch einmal losgelöst von Elternhaus oder Schule Rat und Hilfe zu finden. Sie erfüllen auch etwas, was sich die Stadt selbst eigentlich von Jugendangeboten immer erwartet: „dass non-formale und informelle Bildung als Lernform neben dem formalen Lernen gleichwertig behandelt wird“.

Wenn man die Stellungnahme weiterdenkt, bekommt man das Bild einer Stadt, die ihre Angebote integrativ für alle denkt. Das ist augenscheinlich schwer, weil nach wie vor das problemzentrierte Denken dominiert, das (junge) Menschen vor allem als Problemfälle denkt, die alle einzeln für sich „gelöst“ werden müssen.

Da muss man sich dann nicht wundern, dass man eine völlig zersplitterte Stadtgesellschaft bekommt, in der Gemeinschaft und Solidarität nur noch als Benefiz gedacht werden und nicht – der Stadtjugendring spricht es deutlich an – als Grundlage der Stadtplanung.

Die Pressemitteilung des Stadtjugendrings.

Die Stellungnahme der Fachkräfte der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in Leipzig.

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