"Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, dass ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen. Ich kann nicht verstehen, dass man mit ihr bis heute so wenig sich abgegeben hat. Sie zu begründen hätte etwas Ungeheuerliches angesichts des Ungeheuerlichen, das sich zutrug." Das waren die Worte von Theodor Wiesengrund Adorno.

Die Zeilen, die seinem Aufsatz Erziehung zur Mündigkeit entnommen sind, transformieren den kategorischen Imperativ Kants vor dem Hintergrund des Scheitern der Aufklärung. Damit sich das Ungeheuerliche nicht wiederholt, ist es notwendig dem Ungeheuerlichen nachzugehen. Den Millionen durch die Nationalsozialisten ermordeten Juden, die Geschichte zu geben, die versucht wurde ihnen zu nehmen, dafür ist Begegnung unumgänglich.

Seit 1992 lädt die Stadt Leipzig ehemalige jüdische Einwohner und ihre Nachfahren zu einem mehrtägigen Besuch in die Messestadt ein. In diesem Jahr werden insgesamt 22 Gäste aus Israel, USA und Großbritannien erwartet. Eva Sandrof aus den USA und Channa Gildoni aus Israel sind zwei von ihnen. Gestern Vormittag durften sich beide im Goldenen Buch der Stadt, das gar nicht golden, sondern schwarz ummantelt ist, verewigen. Oberbürgermeister Burkhardt Jung begrüßte in einer Eröffnungsrede die Gäste und betonte gleich zu Beginn die lange jüdische Tradition, die in der Messestadt beheimatet war und allmählich wieder ansässig wird.
Mit 1.300 Mitgliedern ist die Leipziger Gemeinde heute die größte in Sachsen. Vor den Deportationswellen und der geplanten industriellen Vernichtung war die Leipziger Gemeinde mit 16.000 Mitgliedern die sechstgrößte in Deutschland. Nach dem Krieg waren es gerade mal noch 200. Jung verwies auf die entscheidende Rolle der ehemaligen jüdischen Einwohner Leipzigs bei der Stadtentwicklung. Ohne deren Hilfe wäre die Stadt nicht das, was sie jetzt ist. An die Ungerechtigkeit, so Jung, die diesen Menschen widerfahren ist, muss erinnert werden. Und es müssen “Bedingungen geschaffen werden, damit sich ein solches Verbrechen nicht nochmal geschehen kann”, appelliert Jung.

Dass diese Bedingungen immer wieder bedroht werden, zeigt die Statistik: Laut einer Studie der Ebert-Stiftung von 2012, so ein Artikel bei Zeit-Online, ist der “sekundäre Antisemitismus”, also die Relativierung des Holocausts und Judenfeindlichkeit in Reaktion auf den Holocaust, bei knapp 24 Prozent der Deutschen verbreitet. Das ist beinahe ein viertel der Gesamtbevölkerung. Die Klischees, die sich über Jahrhunderte im kollektiven Bewusstsein sedimentiert haben, werden oft gar nicht als antisemitische erkannt, sondern als normale Äußerung abgetan. “Der Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden”, schreibt Adorno in Minima Moralia.

Um die Gerüchte zu entkräften, muss man den Überlebenden zuhören. Channa Gildoni sprach in ihrer kurzen Rede, die sie in deutscher Sprache abhielt, über ihre Geburtsstadt, die allerdings nicht mehr ihre Heimat ist, weil man sie und ihre Familie vertrieben hat. 1953 gründete sie den Verband ehemaliger Leipziger der heute 600 Mitglieder hat. Gildoni lobt das Engagement Leipzig, die ihre ehemaligen jüdischen Mitbürger nicht vergessen hat und fordert, dass der gegenseitige Austausch auch über die Generationen hinweg fortgeführt werden muss. Die Geschichte der Familien muss für die Zukunft aufbewahrt werden, auch wenn die Zeitzeugen allmählich weniger werden.

Für alle Interessierten, die selbst mit der jüdischen Geschichte Leipzigs in Berührung kommen wollen, gibt es am 8. Juli um 9:30 Uhr ein Treffen mit Leipziger Schülern im Ariowitsch-Haus, zu dem auch interessierte Leipziger willkommen sind. Zwei Söhne von inzwischen verstorbenen ehemaligen jüdischen Leipzigern stellen dort ihre Familiengeschichte vor. Auch das Theater der Jungen Welt zeigt am Sonntag um 19 Uhr im Ariowitsch-Haus ihr Stück “Das glickliche Haus”. Das Ariowitsch-Haus beherbergt seit 2009 das Zentrum für jüdische Kultur. In einer szenischen Begehung wird dem Besucher die ereignisreiche Geschichte des Hauses präsentiert.

Auch ohne Austauschprogramm kann in Leipzig das Erbe der jüdischen Kultur erlebt werden. Der alte jüdische Friedhof in der Berliner Straße, die vielen Stolpersteine oder der Gedenkort in der Josephstraße 7 sind Fixpunkte dessen, was nicht vergessen werden darf.

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