Im Interview: eine junge Frau, die 2011 im Alter von 19 Jahren wegen des Krieges aus Libyen flieht und zu ihrer Tante will, die schon viele Jahre in Dortmund lebt. Nach mehreren Monaten in verschiedenen Heimen wird ihr in einer Gemeinschaftsunterkunft im Landkreis Leipzig ein Platz zugewiesen. Sie spricht über ihre Erlebnisse bei der Ankunft und ihr jetziges Leben in Angst. - Genauso unterschiedlich, wie "wir Deutschen" sind, genauso unterschiedlich sind auch "die Flüchtlinge", die immer nur als eine Masse gesehen werden. Ein Blick in das Leben einzelner Asylsuchender, in ihre Erlebnisse, ihre Ängste, ihre Sorgen.

Könntest du deinen Alltag beschreiben?

Als ich nach Deutschland kam, konnte ich kein Wort Deutsch. Ich habe gar nicht daran gedacht, Asyl zu beantragen. Ich habe nur gehofft, dass es mir besser geht und ich wieder zurück nach Hause gehen kann oder wenn ich in einem anderen Land leben muss, dann in einem, wo Englisch gesprochen wird. Also habe ich ein oder zwei Monate hier gelebt, ohne irgendwas zu beantragen. Meine Tante, sie ist schon lange hier, aber in Dortmund. Also den ersten Tag wusste sie nicht, dass ich ohne Papiere hier bin und sie sagte, ich muss Asyl beantragen, denn sonst bin ich illegal hier. Ich wurde dann in eine Unterkunft in Dortmund gebracht.

Aber ich bin nicht dort geblieben, ich blieb bei meiner Tante und dann kamen sie und sagten, ich muss nach Chemnitz. Als ich da hin kam, das war der schlimmste Tag in meinem Leben. Es war wie ein Gefängnis – überall waren Mauern und Zäune, wenn du irgendwo hin wolltest, kam jemand mit dem Schlüssel und musste dir die Tür aufmachen. Jedes mal, wenn das so war, hast du dich noch mehr wie in einem Gefängnis gefühlt. Und dort waren so schlimme Leute – Leute, die aus dem Gefängnis ausgebrochen sind zusammen mit Familien, mit Kindern und allem. Das Heim hier (Anm. d. Red.: im Landkreis Leipzig) ist Luxus im Vergleich dazu. Aber es gibt kein Badezimmer – es gibt nur ein Loch im Boden und das ist die Dusche und es stinkt, du kannst da nicht hin. Die Leute klopfen die ganze Nacht an deine Tür, sie sind betrunken, ich bin damals erst 19 geworden – es war schrecklich.

Und du hattest dort keine Freunde oder Bekannte?

Nein, es war schrecklich. Alle essen am selben Ort, sie tun Medizin in das Essen, damit die verrückten Leute ruhig sind. Immer, wenn du gegessen hast, hast du erst mal geschlafen.

Also hast du nichts gegessen?

Nein, ich habe mir Obst und Gemüse gekauft. Als ich hier ankam, dachte ich “Okay, was ist das?”. Von außen sieht es nicht schlimm aus, aber das ist ein Trick. Von außen sieht es wie ein normales Haus aus, mit Garten und du denkst “Es ist okay.” Und dann kam ich rein und es stinkt, der Boden ist dreckig. Das Kochgeschirr ist dreckig und benutzt und auch beschädigt. Es ist alles verbrannt, wie 100 Jahre alt. Du kriegst einen Metallschrank und dann gehst du ins Badezimmer, wo noch mehr Chaos herrscht. Zwei Leute müssen sich ein kleines Zimmer teilen.

Also musstest du dein Zimmer mit jemanden teilen, den du nicht kanntest?

Ja, und vielleicht ist die andere Person nicht wie du, er will nicht schlafen, sondern die ganze Nacht aufbleiben, aber du willst schlafen. Oder er ist einfach ein lauter Mensch – du hast kein Privatleben. Du lebst also mit einer anderen Person zusammen – vielleicht ist sie sauber, vielleicht aber auch nicht. Du hast keine Chance, du musst einfach mit ihr leben. Aller 15 Tage darfst du deine Bettwäsche wechseln. Sie hat Löcher und ist – wie immer – dreckig. Ich hatte ein Loch in meinem Fenster und mein Rollo war auch kaputt, also habe ich den Hausmeister gebeten, es zu reparieren. Es war kalt, denn es war im Winter. Und er hat gelacht. Er hat es nicht repariert. Er hat nur gelacht, weil ich gesagt habe, dass es kalt ist. Ich habe es dann selber mit Papier dicht gemacht, damit der kalte Wind nicht rein zieht – es hat geschneit. Er macht gar nichts. Es ist wie: »Du musst nicht hier leben, also geh.«

Hast du eine Idee, warum er es nicht getan hat?

Wenn er das nicht macht, musst du zur Ausländerbehörde. Aber die Ausländerbehörde ist noch schlimmer als er. Er weiß also, wenn er es nicht macht, kommt auch niemand anderes und fragt, warum er das nicht macht, weil es sie nicht interessiert. Wenn du frierst oder dich schlecht fühlst, ist es ihnen egal. Ich dachte, ich kann noch jemand anderes fragen.

Ich ging zur Ausländerbehörde wegen der Schule. Denn wir dürfen nicht zur Schule gehen. Aber ich bin erst 19. In meiner Schule war ich gerade im 1. Semester. Ich ging zur Ausländerbehörde und fragte: »Wir sind hier in Deutschland, ihr wollt mit uns nicht in Englisch oder anderen Sprachen reden und ihr wollt nicht, dass wir irgendwo die Sprache lernen. Was sollen wir also machen?« Und sie sagte nur: »Das ist nicht unsere Angelegenheit, das muss das Schulamt machen« und dann musst du warten, bis eine Antwort kommt. Ich fragte, wann meine Antwort kommt – für gewöhnlich nach drei Monaten. Ich kenne Leute, die seit zwei Monaten da sind und sie haben nie eine Antwort bekommen. Es gibt Leute, die seit 9, 10 Jahren hier sind und kein Wort deutsch sprechen. Du bist zwar in Deutschland, aber es ist, als ob du nicht mit anderen Leuten in Kontakt kommen darfst. Du bleibst einfach separiert und erst wenn gesagt wird, dass du raus gehen darfst, gehst du raus. Wir sagen nichts, wir haben keine Verbindungen zu anderen Leuten. Nicht in meinem Alter, keine Freunde, niemand.

Die Leute haben Depressionen. Sie werden psychisch krank. Manche töten sich selbst. Und manche sind so gewalttätig, weil sie gefangen sind in diesem »Wald«, weißt du? Es ist so weit weg. Und sie ärgern sich so sehr über solche Kleinigkeiten. Als ich dort war, habe ich versucht, zu kochen – ich weiß nicht, wie man kocht. Ich habe noch nie gekocht, ich war Einzelkind und musste nicht kochen, nicht putzen, nichts. Als ich in Thräna war, hatte ich Hunger, also musste ich kochen, aber ich habe das Essen verbrannt. Und da war eine türkische Frau, die anfing zu schreien. Ich habe sie nicht verstanden, weil ich mich immer wieder entschuldigt habe und gesagt habe, dass es keine Absicht war. Sie regte sich auf, dass der Rauch in ihr Zimmer zog und ich sagte immer wieder, dass ich das nicht wollte. Ich habe sie nicht verstanden, man wird einfach verrückt mit der Zeit – es passiert etwas und man explodiert.

Das einzige, was sie aus Spaß machen, ist wenn sie Volleyball spielen. Dann kommen sie aus ihrem Alltag raus – man sitzt nur da, isst und trinkt und wartet auf den nächsten Tag und tut dann genau dasselbe. Aber du solltest reden können, du solltest zur Ausländerbehörde gehen können und nach etwas fragen können. Denn du weißt nichts – du bist hier, du kennst die Gesetze nicht, du hast keine Ahnung, was du machen darfst und was nicht. Denn jedes Land hat sein eigenes Gesetz, also musst du wissen, was zu respektieren ist. Aber niemand redet mit dir. Die Leute sprechen Englisch und sie verstehen dich. Aber sie sprechen nicht mit dir. Sie sagen, wir sind hier in Deutschland und wir müssen deutsch sprechen.

Es gibt Leute, der Vater, die Mutter und das Baby müssen zusammen in einem sehr kleinen Raum leben. Da werden die drei Betten zusammen geschoben und was von dem Raum übrig bleibt, ist ein schmaler Gang, wo noch eine Sitzmöglichkeit hingestellt wird. Ich meine, zeige mir einen Menschen, der den ganzen Tag nur schläft…Wenn ich durch die Straßen gehe, habe ich immer Angst. Die Polizei gibt dir das Gefühl, dass du eine Kriminelle bist. Ich mache gar nichts, ich laufe einfach nur durch die Straße und du fühlst dich, also ob du jemanden ermordet hast. Dabei habe ich nie irgendwas getan in meinem Leben – nichts, ich habe nicht geklaut, nichts. Aber ich habe Angst. Selbst jetzt noch.

Wenn irgendwas nicht stimmt und irgendwas in der Umgebung passiert, sieht dich jeder an. So wie: »Hm, sie war’s!« Und ich denke dann immer: »Okay Leute, ich habe gar nichts gemacht.« Es ist, als ob immer, wenn irgendwas Schlimmes passiert, es deine Schuld ist. Egal ob du es warst, oder nicht – es war deine Schuld.

Zum Beispiel, wenn du in den Supermarkt gehst: Okay, es gibt Leute, die dort klauen, das weiß ich. Aber auf der ganzen Welt gibt es Leute, die klauen. Aber wenn sie dich sehen, geht der Sicherheitsdienst immer hinter dir. Wo immer du hingehst, der Sicherheitsdienst geht hinter dir, um zu schauen. Es gibt viele Leute, die klauen. Ich meine, es gibt Kameras, man kann mich sehen. Wenn du zu Rossmann gehst, und zum Beispiel Vitamine kaufst, öffnet die Verkäuferin alles, um zu sehen, dass du nichts geklaut hast. Und nach dir ist jemand dran und sie öffnet nichts. Ich meine, wenn sie das machen, dann respektiere ich das, aber dann bei allen Leuten und nicht nur bei mir. Nur weil du eine dunklere Hautfarbe hast, bist du es immer. Und mit der Zeit wirst du sauer. Du fragst dich: »Warum immer ich? Was habe ich Falsches getan?«

Du hast also oft das Gefühl, dass du eine Kriminelle bist, nur weil du nicht wie jeder andere auf der Straße aussiehst?

Ja, nur weil ich keine blauen Augen habe. Im Heim ist es so, dass sich alle die Haare blond färben. Alle. Alle ausländischen Frauen – nach zwei oder drei Monaten gehen sie sich ihre Haare blond färben. Als ob sie sich verstecken. So: »Jetzt sehe ich ein bisschen mehr so aus.« Es ist so lächerlich. Manchmal beobachte ich Leute – zum Beispiel Leute aus dem Kosovo, also osteuropäisch, sie sehen wie deutsche Menschen aus, also sind sie total glücklich. Denn niemand sieht sie an, weißt du?

Und wenn jemand kriminell ist, warum steckt man ihn mit uns zusammen? Wir sind auch Menschen. Wir wollen nichts Gefährliches um uns herum. Nein, sie schicken jeden da hin. Da war ein Mann aus dem Iran. Er war für fünf Jahre im Gefängnis, hier, nicht im Iran. Sie haben ihn einfach zu uns geschickt und er war psychisch krank, er war fünf Jahre lang im Gefängnis, was kann man erwarten? Er war immer betrunken, saß immer am Fenster mit den Beinen draußen und er hat alle angestarrt. Er guckt auf deine Brüste, deinen Hintern, auf so eine sexuelle Art. Er sagte schlimme Dinge: »Lass uns Sex haben, lass uns ficken.« Was zur Hölle, ich mein, es ist sexueller Missbrauch, wenn er dich so anschaut und schlimme Dinge sagt. Du darfst nicht sagen »Okay, ich will das nicht.« Du musst damit leben.

Hast du ein paar Freunde gefunden?

Hier? Nein. Denn selbst in der Schule ist die ganze Klasse mit Ausländern, weil es ein Deutschkurs ist. Hier ist es schwer, Freunde zu finden, denn ich bin alleine hier, ohne Familie oder irgendwas. Zum Beispiel, wenn du im Bus sitzt – niemand redet mit dir. Oder auch im Zug – niemand redet mit dir. Wenn du ins Kino gehst – niemand redet mit dir. Wenn du in die Stadt gehst – niemand redet mit dir. Es kann einfach nicht passieren…

Was denkst du, warum die Leute nicht mit dir reden?

Ich kann die Antwort nicht finden. Vielleicht weil, ich weiß nicht, normalerweise, wenn man Leute von irgendwo her sieht, hat man dieses Bild von ihnen, das ist normal. Es gibt Leute, die sehen dich auf eine schöne Art und Weise an. Sie lächeln oder sie machen gar nichts, keinen Schaden, weißt du? Aber es gibt Leute, die kennen dich nicht, sie sehen dich nur in der Straße und sie beginnen, schlimme Dinge zu sagen, zu gucken. Und man hört zu, denn am Anfang weiß man nicht, was er sagen wird, oder sie. Aber du fühlst, dass er schlimme Dinge sagt. Der Ausdruck lässt dich merken, dass er wütend ist, dass du hier bist. Aber was er gesagt hat, verstehst du nicht.

Was wünschst du dir für die Zukunft?

Ich möchte meine Aufenthaltsgenehmigung und einen deutschen Pass. Außerdem will ich gerne als Freiwillige in Kriegsgebieten arbeiten. Es gibt so viele Menschen, die Hilfe brauchen, aber niemand kümmert sich. Dabei wäre das so wichtig. Aber erst mal sollte man mit jemandem reden können, man sollte zur Ausländerbehörde gehen und nach etwas fragen können – einfach ein Mensch sein!

Information zum Interview: Dieses hier in leicht gekürzter Form wiedergegebene Interview wurde im August 2012 mit einer Asylsuchenden, die in einer Gemeinschaftsunterkunft im Landkreis Leipzig untergebracht ist, auf Deutsch von ehrenamtlichen Mitarbeitern des Bon Courage e.V. geführt. Trotz der Angst der Asylsuchenden vor späteren Konsequenzen waren diese bereit, die Gespräche zu führen und stimmten einer anonymisierten Veröffentlichung zu. An der Lebenssituation der Flüchtlinge hat sich seitdem nicht viel geändert. Das Thema ist genauso aktuell wie vor zwei Jahren. Das vollständige Interview mit dieser und vielen weiteren Asylsuchenden finden Sie in der Broschüre “Von außen sieht es nicht so schlimm aus …” des Bornaer Bon Courage e.V.

Hier ist die Broschüre erhältlich: www.boncourage.de/index.php5?go=856

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