LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug aus Ausgabe 29Es ist schon ein Dauerthema. Die „nicht gebildete“ Bildung an unseren Schulen. Abbrecher, Angsthasen, Armutszeugnisse – trotz hervorragender Noten. Gymnasien rühmen sich mit Abtiturbestehensquoten um die 100 % und alle – Schüler, Eltern, Erzeuger, Pädagogen und nicht zuletzt „die Wirtschaft“ – sind dennoch unzufrieden. Alles jammert, alles verzweifelt, alles weiß Bescheid, wie es besser sein sollte.

Mehr von dem, weniger von dem mittleren oder doch lieber wieder konventionell? Mehr Medien, mehr Kompetenzen, mehr Lebensnähe? (Als ob die Schule einem fernen, unbekannten Planetensystem gliche.) Erst kürzlich beklagte der bekannte Hirnforscher und Lernpsychologe Gerald Hüther die sinkende Qualität der schulischen Ausbildung, eine schlechte Studienförderung und den Notstand in den Führungsetagen der deutschen Industrie. Und meint, die Schüler lernten „Schrott, weil sie Schrott kaufen [sollen].“ Eine nackte, brutale Botschaft. Sein Schluss. Radikal.

Ähnlich donnernd kommt das neue Werk des ehemaligen HBG-Professors Christoph Türcke daher. Türcke zeichnet eine Apokalypse des bestehenden Bildungssystems, sieht den Kollaps desselben voraus. „Lehrer? Deren Zeit ist vorbei.“ Die ersten zwei Sätze des Buches entwaffnen jeden Widerspruch, lassen aber auch die gedanklich ausgestreckte Hand erwarten, sodass man sich fragt: Und dann? Was ist die Lösung? „Rückbesinnung auf den Lehrer“ heißt dann auch das abschließende dritte Kapitel.

Ja, nur drei Kapitel umfasst diese Streitschrift, die sich liest, als sollte sie in den hitzigen Gassen des vorrevolutionären Paris 1789 verteilt werden. Vernichtend die Urteile über den strukturpolitischen Super-GAU an unseren Schulen: „Kompetenzwahn“ und „Inklusionswahn“ – so überschreibt Türcke die zwei vorangehenden Kritikfelder. Und dem ausgeführten „Wahnsinn“ legt er zwei von zehn Fingern tatsächlich in klaffende Wunden. Und zeigt dabei die Verschränkung beider Probleme. Kompetenzen sollen sie zeigen, die „modernen“ Lehrer, und Schüler natürlich auch. „Freiheit als Zustand und Prozess der Selbstorganisation“ – so lautet das neoliberale Mantra, das den „Lernlaboren“, zu denen die Schulen sich „perfektionieren“ sollen, abverlangt wird. Mit Blick auf die in „modernen“ Schulen so vielbeschworenen Kompetenzen verweist Türcke auf die Entlehnung „competere“ = lat. „zusammen zugreifen“; will die Entfremdung des Begriffes zeigen, verdeutlichen, dass Kompetenz gründlich angeeigneten Sachverstandes bedarf.

Foto: CH Beck
Foto: CH Beck

Dieser Prozess, so Türcke, braucht Zeit. Beide Begriffe müssen mit Inhalt gefüllt werden. „Sachverstand“ kann nur derjenige zeigen, der von „der Sache viel versteht“. Nur wie soll das funktionieren – mit zurechtgeschnittenen Arbeitsblättern, Kopiervorlagen, welche der im Durchschnitt 53-jährige Lehrer zwischen Pausenbrot und Klassenfahrtabrechnung zusammenschustert, zurechtschnippelt und dann austeilt? Wie soll das funktionieren in gestressten, überalterten Kollegien, in denen Lehrer darum kämpfen müssen, die Sinnhaftigkeit ihrer Beschäftigungs-, pardon, Lehrinhalte irgendwie zu vermitteln?

„Denk daran, das Abitur ist wichtig!“ Das bleibt als pragmatische „Allzweckwaffe“ oftmals nur übrig, wenn es gilt, den ganzen müden Laden zu motivieren. Der einem selbst als Lehrer den letzten Funken Idealismus auszutreiben scheint. Und das Abitur ist auch nicht mehr das, was es einst war. „Reife“, „Studierfähigkeit“. Die bescheinigen wir heute rund der Hälfte unserer Heranwachsenden. „Abiturkompetenz“ müsste es wohl laut Türckes Kritik an den Vorschriften von Ministerien, Verordnungen und Konferenzen konsequenterweise heißen. „Abiturinflation“ ist seiner Meinung nach das passendere Wort für den jahrelang schleichenden Prozess und sprachlich aufgemotzten Begriff des eigentlichen Bildungsverfalls an deutschen Schulen. Auch das mühsam von vielen Lehrern zusätzlich gestemmte und teilweise widerwillig, weil sinnleer unterrichtete „Das Lernen lernen“ fällt unter diese Rubrik der parteichinesisch formulierten „Bildungsrichtlinien“.

Fachübergreifende Inhalte wie Humanismus, Gerechtigkeit, Einsatz für Schwache, Wecken der Neugier, Bereitschaft, sich in einen Zustand des Lernen-Wollens zu versetzen? Fehlanzeige. Stattdessen „Kompetenz“, „Flexibilität“, „Ehrgeiz“, „Zielbewusstheit“. Das soll die „Elite“ stattdessen zeigen, an deutschen Gymnasien. Grundlagen späteren Gehorsams und sozial haltungsloser Muster – Ursachen für den demokratisch unmündigen Bürger? Was soll denn dann ein Lehrer seinen Schülern heute noch vormachen, zeigen, vorleben? Fragt sich Türcke. Und er fragt zu Recht. Das Ranking steht vor unseren Rackern wie eine Einlassschranke ins Konsumentenleben. Überall werden sie verglichen, vermessen, ver(ur)teilt. Dies erschwert das Sich-Vertiefen in Denk- und Identifikationsprozesse. Nachhaltigkeit sieht anders aus. Mahnt Türcke.

Das wissen wir schon. Sparen dürfen wir deshalb nicht mit fundamentaler Kritik. Das meint Türcke nachdrücklich. Mit harten Seitenhieben auf Behavioristen und leichten auf die „Neo-Rousseauisten“ – der Mensch braucht auch die rechte Einstellung zum Ler-nen, er tut dies nicht automatisch (natürlich), muss sich und der Welt immer wieder neu beweisen, dass er in Bildungsinhalte eintauchen will. Und kann. Deswegen brauchen wir engagierte, aufgeklärte, junge, neue Pädagogen – mit der Gesellschaft verbunden, ohne die Geschöpfe einer „Bildungsökonomie“ zu sein. Die nicht hinterfragt, nur ausführt. Und Arbeitsblätter kopiert. Und „inkludieren“ soll. Alles, was irgendwie nicht mitkommen kann, soll der Lehrer „einschließen“.

Gut gedacht, schlecht gemacht. Nach dem zwanghaften „Einschluss“ aller – klar, man muss ja ans „Ranken“ denken – folgt dann bei permanenter Nichterfüllung der konsequente Ausschluss. Logisch nach der Denkweise einer „Leistungsgesellschaft“, die nur sieht, was sie sieht (Behaviorismus). Umfassender Blick auf die Menschen, und dabei fachliche und überfachliche Fertigkeiten differenziert fördern? Beschämend, wenn sich so mancher Pädagoge vorschnell zum Sachwalter unausgegorener und oberflächlicher Förderungsmentalität und folgender -resignation aufspielt. „Ja, mehr als anbieten kann ich es nicht …“ Inklusion „Zurückgebliebener“ und das Mindern eines Selektionsdrucks, wie ja eigentlich von allen Bildungsgipfeln vehement gefordert? Wieder Fehlanzeige. (Welche Fähigkeiten werden da eigentlich beurteilt, oder sind es wieder schnell ange-
eignete „Kompetenzen“?)

Zwei wesentliche Stolpersteine, sich vertiefende Gräben leuchtet Türcke aus. Sensibilisiert den Leser. Verortet die Ursachen im System, in einer Struktur. Das hat einen Hauch Revolution an sich. Wie im vorrevolutionären Paris 1789. Nur: Damals hungerten die Menschen. Was tun wir heute? Viele Lehrer spüren den Druck der bürokratischen Formatierung, den alltäglichen Stress der „Kompetenzvermittlung“. Wissen oft nicht, worin die Alternative besteht. Suchen den Ausgang.

Daher: „F… you, Gleichschritt!“ Für eine „Lehrerdämmerung“.

Dieser Artikel erschien am 11.03.16 in Ausgabe 29 der LEIPZIGER ZEITUNG. Hier zum Nachlesen für die Mitglieder in unserem Leserclub.

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