Heiner Geißler hat in seiner Streitschrift „Kann man noch Christ sein, wenn man an Gott zweifeln muss?“ so einige Sätze geschrieben, über die man stolpern muss. Auch als ganz und gar ungläubiger Thomas. Zum Beispiel den hier: „Wenn Gott existiert, dann kann man die grundlegenden Fragen der Menschheit, ‚Wer sind wir? Woher kommen wir? Und wohin gehen wir?‘, einfach besser beantworten.“ Ojemine.

Und das von einem so gewieften Logiker. Das ist schon erstaunlich. Und es ist so verflixt gegenwärtig. Denn es beschreibt ja das Dilemma, in dem heute viele Menschen stecken. Es ist ein Dilemma des Trostes, der Einsamkeit, der Orientierungslosigkeit. Auch eins der Gerechtigkeit. Ein ganz weiter Bogen.

Aber fangen wir mit der Ratlosigkeit an. Denn wer als Mensch so langsam zum Bewusstsein seiner selbst erwacht ist (bei manchen dauert das drei Jahre, manche schaffen es auch nie), der steht irgendwann vor dem großen Faszinosum unseres Kosmos: Er sieht eine Welt, die „wie für den Menschen gemacht“ ist, einen blauen Planeten voller Leben, der um eine lebensspendende Sonne kreist. Dazu ein gigantisches Weltall mit Trillionen von Sternen, unendlichen Weiten.

Eine Welt, eigentlich so reich, dass unsere Vorfahren fast zwangsläufig über die Frage stolpern mussten: Wozu ist das da? Und welche Rolle spielen wir darin? Kann das sein, dass das alles FÜR UNS GEMACHT ist? Und wenn: Von WEM ist es für uns gemacht?

Das sind ganz frühe Fragen. Die auch etwas beschreiben, was wohl nur der Mensch als Problem hat – oder als Gabe. Es kommt ja immer auf die Betrachtungsweise an. Denn augenscheinlich gibt es sonst kein weiteres Lebewesen auf der Erde, dessen Gehirn so weit entwickelt ist, dass es zur Erkenntnis seiner selbst in der Lage wäre – und damit auch zum Wundern über das eigene Dasein. Die anderen Tiere werden wahrscheinlich alle einfach nur da sein. Zumindest gibt es bis jetzt noch keinen Nachweis darüber, dass sie ihr Da-Sein irgendwie reflektieren und über Dinge nachdenken wie „Woher komme ich?“ und „Was kommt danach?“.

Dazu braucht man ein Gehirn, das abstrahieren kann und Phantasie entwickelt, das sich Dinge vorstellen kann, die jetzt nicht sind – aber sein könnten. Vielleicht auch wirklich so kommen.

Es war ein riesiger evolutionärer Vorteil, dass das menschliche Gehirn die Fähigkeit entwickelte, Dinge vorweg zu denken, in die Zukunft zu denken und zu planen.

Ein Vorteil und – ein kleines Problem. Denn wenn man so in der Lage ist, auch das Noch-Nicht-Seiende zu denken, dann kommen die Märchen ins Spiel. Dann erwacht die Lust am Erfinden von Geschichten. Geschichten, die die Welt erklären. Oder eine Erklärung liefern, die die Welt scheinbar logisch erklärt. Also irgendwie „stimmt“.

Das ist die Stelle, an der Menschen der Welt einen Sinn zu geben versuchen.

Was ein paar Jahrtausende scheinbar ganz gut funktioniert hat. Man hat eine große Erklärung erfunden, die scheinbar alles begründet. Da muss es also eine Art ganz großen Menschen geben, der das alles einmal gemacht hat. So, wie der Mensch selbst Dinge macht. Man erklärt sich die Welt, indem man sie vermenschlicht – deswegen haben fast alle Götter Menschengestalt und treten als Schöpfer auf, als Dinge schaffende große Wesen. Ganz, ganz große Wesen. Unfasslich groß.

Man erklärt sich die ganze gigantische Welt nicht nur aus menschlicher Perspektive mit einem menschenähnlichen Schöpfer. Die großen Mythen gehen auch davon aus, dass dieser große Schöpfer alles gemacht hat für uns, die Menschen. Die kleinen, ängstlichen Wesen, für die das alles wie gemacht scheint. Muss ja dann so sein, oder?

Den Zweifel an dieser Geschichte haben die Wissenschaftler in die Welt gebracht. Beharrlich haben sie nun seit über 300 Jahren geforscht. Über einen irgendwie nachweisbaren Schöpfer sind sie dabei nicht gestolpert. Deswegen kommt er in den wissenschaftlichen Theorien zum Funktionieren der Welt auch nicht vor.

Und deswegen stimmt Heiner Geißlers hübsche Feststellung auch nicht, dass die Existenz eines Gottes die Frage besser beantworten würde „Woher kommen wir?“.

Eigentlich weiß es Geißler besser. Er liest nachweislich jede Menge Literatur über moderne Forschungen. Den Biologen Richard Dawkins zitiert er sogar in seinem Büchlein. Im Anhang verweist er auf Dawkins’ Buch „Der Gotteswahn“, ein Buch, auf das auch die EKD heftig und ablehnend reagierte. Und auch wenig differenziert. Dawkins hatte wirklich eine der ganz wunden Stellen erwischt – in den USA erst recht. Den Denkfehler machte die EKD in ihrer Stellungnahme mehr als deutlich: „Den Sinn der Religion, sagt Dawkins, könne man mit den Mitteln des empirischen Arguments nicht beweisen. In der Welt, die man mit den Methoden der Wissenschaften sichtbar macht, lässt sich Gott nicht finden. Ja, das ist wahr. Nur kann er dann auch nicht mit den Mitteln der sinnlichen Erfahrung widerlegt werden.“

Womit die Kirchenverwalter mehr als deutlich machen, dass sie die Konsequenz wissenschaftlichen Denkens nicht begriffen haben und immer wieder Wissen mit Glauben vermengen.

Denn was ist das für ein Objekt, das „auch nicht mit den Mitteln der sinnlichen Erfahrung widerlegt werden“ kann?

Wissenschaftlich existiert es einfach nicht. Es wird auch nicht gebraucht, auch nicht als ursächlicher Grund. Auch dann nicht, wenn unser Verstand in reines Entsetzen flüchten will vor der gewaltigen Dimension unseres Weltalls. Denn diese schiere Größe zeigt ja nur, wie klein wir sind. Und was für ein seltener Glücksfall die Existenz unseres wunderbaren Planeten ist. Obwohl Glücksfall wieder das falsche Wort an dieser Stelle ist. Denn zu den Gesetzlichkeiten dieses Kosmos gehört augenscheinlich auch die Tatsache, dass er zu Komplexität neigt und bei Vorhandensein wichtiger Voraussetzungen selbst die Entstehung von Leben fast zwangsläufig ist. Voraussetzung sind natürlich riesige Zeiträume.

Biologen und artverwandte Wissenschaftler können mittlerweile sehr gut erklären, woher wir kommen. Wobei Geißler ja mit dem „wir“ eher nicht uns Menschen als Spezies zu meinen scheint, sondern dieses Dingsda im Kopf, das wir meist Bewusstsein nennen. Die Gläubigen nennen es Seele. Das, was in uns denkt und irgendwie unser Ich zu sein scheint. Ein herrliches Forschungsfeld, auf dem sich vor allem Kognitions- und Neurowissenschaftler herumtreiben. Die spannende Frage lautet ja: Was ist das eigentlich, Denken? Was passiert da in unserem Gehirn, diesem genialen Speichermedium, das aber gleichzeitig auch noch ein Emotionsgenerator, Hormonsteuerer, Dichter, Träumer, Lösungssuchender ist?

Bestehen wir wirklich nur aus lauter Prozessen und Erregungsschauern in diesem Gehirn? Ist das unser Ich? Eine ununterbrochene Produktion von Daten und Signalen und Bildern und Frames und deren Verwandlung in Sprache, formulierbare Gedanken?

Wer in diese Welten eintaucht, ist erst recht fasziniert. Gerade weil man da nicht einfach einen kleinen bläulichen Nebel findet, der dann als „Seele“ in ein Fläschchen gefüllt werden kann. Sondern weil das, was in unserem Gehirn abläuft, erstaunlich dem ähnelt, was wir derzeit mit Künstlichen Intelligenzen anstellen.

Man merkt es schon beim Betreten dieser Welt: Die Antworten, die die heutige Wissenschaft auf die von Geißler zitierten Fragen gibt, sind viel komplexer, faszinierender und überzeugender als die, in denen ein Gott für alles verantwortlich ist. Die angenommene Existenz eines Gottes beantwortet die grundlegenden Fragen nicht besser. Nur scheinbar endgültiger. Scheinbar deshalb, weil es eigentlich keine Antwort ist, nur eine Art Trost für alle, die sich mit der faszinierenden Unfassbarkeit unserer Welt gar nicht erst gründlicher beschäftigen wollen.

Wissenschaftler geben in der Regel keine end-gültigen Antworten, weil sie darum wissen, dass jede neue Theorie die Phänomene zwar besser beschreibt. Aber jede Theorie ist nur wieder eine bessere Geschichte, ein „Märchen für Erwachsene“, wie es Ian Stewart und Jock Cohen in der schönen Serie „Die Gelehrten der Scheibenwelt“ nennen. Wo sie auch sehr schön auseinanderklamüsern, was Glauben von Wissen, Religion von Wissenschaft grundsätzlich unterscheidet. Und was auch nicht vermengt werden darf.

Und werden wir nun trostloser, wenn wir die Welt ganz ohne großen Schöpfer begreifen? Wird sie dadurch sinnlos?

Da wird es nämlich erst richtig spannend: Wer gibt unserem Leben einen Sinn?

Und weil das gerade die großen Alphamännchen verwirrt und in Panik versetzt, machen wir damit im nächsten „Nachdenken über …“-Beitrag schnurstracks weiter.

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