Wir werden ihn nicht mehr genauer kennenlernen. Der siebzehnjährige Nachwuchs-Skirennfahrer aus Garmisch-Partenkirchen hat vor wenigen Tagen einen Sturz während eines Trainings in Kanada nicht überlebt. Und obwohl der Umstand, dass hier ein sehr junger Mensch, der noch nicht einmal die Hälfte seines Lebens gelebt haben dürfte, ein viel zu frühes Ende gefunden hat, schon schrecklich genug wäre, ertappt man sich sogar im Bruchteil einer ersten Erschütterungssekunde dabei, zu denken, dass dieses Unglück vielleicht vermeidbar gewesen wäre.

Gott sei Dank sind kleinliche Gedanken dazu da, auch gefälligst ordentlich zurückgepfiffen zu werden. Ganz ehrlich – natürlich habe ich es gedacht: Warum müssen sich junge Männer mit hundert Sachen, die sie aber nicht am Leibe tragen, sondern lediglich ein Helmchen und ein dünnes Stöffchen, rituell im Ringen um die Ersparnis von Hundertstelsekunden diese wahnsinnigen Schneehänge runterstürzen? Warum nur? …

Aber im zweiten Anlauf glaube ich, dass wir diese Frage nicht zu stellen haben.

Ich möchte zur Erklärung dessen an den Schweizer Extremsportler Ueli Steck erinnern, der Ende April dieses Jahres zu Tode gekommen war. Bei irgendeiner Aktion, die wohl als typische oder auch besonders wagemutige für die Spezies „Extremsportler“ gilt.

Ehrlich gesagt, ich hatte auch von Ueli Steck bis zu dessen Tode gar keine Kenntnis gehabt. Es mag daran liegen, dass mich Extremsportler nicht sonderlich streifen in dem Ausschnitt des Lebens, der mir gegeben ist, einigermaßen zu überschauen oder den die Taschenlampe meiner Kerninteressen im Lichtkegel einzufangen pflegt.

Nun aber habe ich Kenntnis von diesem Unglücksfall. Darüber hinaus vom Werdegang dieses Schweizer Sportlers und von dessen Privatleben. Zumindest in Maßen. Ich dachte damals über die mich schon länger beschäftigende Frage nach, ob viele Extremsportler vielleicht als eine Art besonders verzweifelter Depressiver in einer dauermanischen Phase angesehen werden können und damit – jenseits einer medial verlogenen bewundernden Sichtweise – eines besonders mitmenschlichen Blickes bedürfen. Man wird dies vermutlich sehr individuell zu klären haben.

Kommen wir zum Tagesgeschäft des schnelllebigen Journalismus’: Wir sahen die Reaktionen auf diesen medial ausgeschlachteten Tod eines Vierzigjährigen. Der sich, ja, wissentlich in Gefahr begeben hat. Wieder und wieder. Und damit wohl auch in Kauf genommen hat, dass das Unaussprechliche irgendwann passiert.

Bis es passierte.

Hat er aber damit den Freifahrtsschein ausgestellt für uns alle, seinen Tod zu beurteilen, zu werten oder gar abzuwerten, im Sinne von „selber schuld“, „Er hat’s nicht anders verdient“?

Ich glaube nicht. Das was ein Mensch zu Lebzeiten preisgibt mit seinen Worten, mit seinen Taten, mit seinen Einblicken in sein Lebensmosaik – das ist eine Seite der Medaille. Die andere Seite, die sich erst zeigt, wenn es düster wird, egal wodurch, haben wir schweigend anzusehen. Oder in Dankbarkeit und Milde zu kommentieren.

Nicht mehr. Nicht weniger.

Und trotzdem weiß ich um Menschen, die krank sind und um alles in der Welt leben wollen. Gesund werden wollen. Jedes weitere Jahr, jeden Monat als Bonus empfinden. Vielleicht wollen wir das alle: leben. Unterschiedlich lang. Unterschiedlich intensiv. Jeder für sich. Aber in Frieden mit dem Mitmenschen. Zumindest halbwegs.

Wäre das nicht eine Möglichkeit, die es in Betracht zu ziehen verdient hätte? Eigentlich ein schöner und tröstlicher Adventsgedanke.

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