Nachdem ich am 1. des Monats nachmittags scherzhaft in die Abiturwirren des aktuellen Abschlussjahrgangs geschickt wurde, wurden mir nicht nur die Zunahme organisatorischer Arbeit bewusst – es war ja erstmal nur ein Scherz – nein, es kam ein diffuses Gefühl von Alltags-Bewältigungsangst in mir auf. Gefährlich, wenn dieses Gefühl dann auch noch auf der politischen Makroebene verstärkt wird. Die Bildungsverhandlungen der neuen großen-kleinen Koalition der zukunftsoptimistischen bürgerlichen Mitte hatten so etwas Streberhaftes an sich, mit gespielter Verantwortungsdemut das Wahlvolk Huschelndes …
Am Ende wurde gelächelt. Und schnell verschwunden. Zum Vorglühen des Wirtschaftsmotors, der zukunftssicher im Hintergrund unruhig schon zu tuckern beginnt. Dann war ich einigermaßen beruhigt. Und die internationalen Wirtschaftsmärkte werden es bestimmt auch bald wieder sein.
Ganz sicher, Herr Merz. Optimismus brauchen wir, Vertrauen in unsere Leistungsfähigkeit – da muss sich jeder und jede mal ein bisschen zusammenreißen, wenn die „Welt aus den Fugen“ zu gerät, weil überall plötzlich Autokraten und Diktatoren auftauchen und den ganzen „Laden“ durcheinanderbringen. Wenn schon Protektionismus, dann aber bitte zu unseren Bedingungen.
Was ist nur in den letzten Jahren geschehen, dass „die Welt“ nicht mehr dieselbe ist wie vor 20 oder 30 Jahren? Oder ist es – in alternativer Shakespeare-Übertragung – die Zeit, die „aus den Fugen“ geraten ist, eine Zeit, in der Gratwanderungen politisch gefärbter Kommunikation immer mehr zum Balance-Akt sozialer Akzeptanz und Integration werden? (Bisweilen entsteht im gesellschaftlichen Diskurs der Eindruck, wir sind schon „kriegstüchtig“.)
Nihilisten und Bewegungsstatiker aller Art würden antworten: „Das war schon immer so.“ Die Physiker würden vermutlich mit dem Energieerhaltungssatz kommen. Auf der Suche nach klaren Antworten. Ganz zum Schluss lassen wir es uns von der künstlichen Intelligenz besorgen. „Bitte erkläre mir: Was ist das Wesen des Menschen?“ Sicher ist sicher.
Dieser April ist für mich ein „Shakespeare-Monat“. Nicht nur, weil der englische Dramenkönig mit den Königsdramen das postum zweifelhafte Privileg des gleichen Geburts- und Sterbetags (23.4.1564–1616) besitzt. Eher, weil er sich als historisches Rätsel ohne Lösungsteil im Anhang erweist, seine Dramenmotive und -konflikte „Spannungsfelder erzeugen“, neudeutsch formuliert. (Hat auch immer so einen zukunftsoptimistischen Beiklang, finden Sie nicht auch?)
Mal schauen, was man von diesem „Psychologie-Uropa Hoch 20“ lernen kann, sind ja alles tragische Figuren in seinen Tragödien. Hamlet weiß doch gar nicht, wo vorne und hinten ist, leicht beeinflussbar, hört Stimmen, unsicher, wer er sein soll. Ja, das Elend der Menschen konnte er gut beschreiben, das Rätsel menschlicher Unvernunft, dieses Mysterium William Shakespeare, Dichter von Elisabeths Gnaden, der er selbst heimlich feindlich gegenüberstand, wie ihr vom Staatssicherheits-Chef Francis Walsingham zugetragen wurde.
Shakespeares Helden sind, so banal es klingen mag, Helden mit menschlichem Antlitz. Es war ein „reziproker Romantiker“, der sich einen Hamlet so zurechtdichtete, dass er wie eine Antithese zur „Vernunftfigur“ der Aufklärung wirkte. Da ist so viel an menschlicher Unvollkommenheit (Der auch noch die Unzurechnungsfähigkeit spielt!), dass es fast schon grotesk wirkt – oder eben wie „Sturm und Drang“ – wenn man die privilegierte Herkunft des jungen Burschen Hamlet (Eintragung im Personalausweis: Prinz) beziehungsweise Studienort (Masterabschluss in Wittenberg) bedenkt.
Was ist dann bloß aus so einem gebildeten Menschen geworden? Denkt nur an finstere Rache, dieser Kleingeist. Angesichts der dynastischen Zukunftschancen und des drohenden Klimawandels in der europäischen und Welt-Politik eine Katastrophe. (Die Kolonialmächte Spanien und Portugal teilen gerade die Welt unter sich auf.) Da hat der nichts anderes im Kopf als sein Ego, seine persönliche Ehre und ähnlichen „Old-School“-Wertekram des Spätmittelalters. Und weil der Schussel im Schlussakt die Degen verwechselt vor dem alles entscheidenden Abschlussduell, stirbt er dann. Verrückt-logisch.
Es kommt kein „Deus ex Machina“ vorbei oder vom Himmel, kein lenkender „Gott aus der Maschine“, der die Geschichte geradebiegt, die Katastrophe verhindert. Tragische Helden bei Shakespeare sind ganz in ihren inneren Konflikten gefangen, sind nicht „konsistent“ in ihrer Haltung, die Welt zu verbessern – Hamlet spricht großspurig vom „Einrichten“ – sie zeigen überdeutlich die nicht wegzuleugnende Natur des Menschen.
Sein Sein oder Nicht-Sein. Krieg oder Frieden. Das Friedfertige ist bei ihm extrem unfertig, Andere sollen für ihre Untaten büßen, man muss sie fertigmachen. Wozu gibt es eine Gerechtigkeit? Man spürt nur Selbstwirksamkeit durch aktives Handeln gegen die Feinde, die sich jede menschliche Schwäche zunutze machen würden, böte sich ihnen nur der glückliche Moment, ihren falschen Charakter zu zeigen, deswegen muss man ihnen rechtzeitig in den Arm fallen, zum Degen greifen oder durch ihn fallen.
Shakespeare, ein Meister der „self-fulfilling-prophecy“. Der Mensch ist eben ganz NATUR, wie es später der 22-jährige Goethe bewundernd ausrufen wird; praktische Religiosität zeigt sich zunächst in der Suche nach der eigenen Menschlichkeit. Ziemlich dünne das Ganze, deswegen wird das ja auch nichts mit dem Dänenprinzen. Goethes Faust versucht es später mit leichten Drogen und halbherziger „Osterspaziergang-Wokeness“.
Bevor er der teuflischen Zaubermephisto empfängt. Beide Intellektuelle und Kopfmenschen – Hamlet und Faust – merken aber schmerzlich, dass die Welt nicht auf sie gewartet hat, dass sie nur durch humanes, friedfertiges Handeln zu verbessern wäre. Und stürzen eskapistisch ins Ego, sich andererseits für den Nabel der Welt haltend, verspotten die Alten und Nicht-Weisen. (Auch nicht ganz zu Unrecht.) Aber sie helfen niemandem in ihrer Wut, nur sich. Beim schnelleren Untergang. Oder enden wie im zweiten Teil der Goethe-Tragödie als grün- und sozialgewaschener Grundbesitzer. Der Sümpfe austrocknet.
Was bei den Shakespeare- und Goethe-Haupthelden so erschreckt, ist der Rigorismus im Denken und Handeln. „Radikal“ würden manche vielleicht dazu sagen. Dabei ist es nicht die Radikalität im progressiven Sinn, die beide verkörpern. An die Wurzel (Radix) des Übels zu gehen, heißt nicht die Frucht oberhalb des Bodens abzureißen, um dann zu sagen, dass die Erde nun „clean“ ist. Denn es gilt das tieferliegende Denken zu überwinden, welches die Trägerinnen und Träger beherrscht. Und das scheint nicht so einfach zu sein.
Schauen wir uns deshalb als letzten alten „Kronzeugen“ humanistischen Denkens, Fühlens und Handelns (naja, auch nicht immer) den „Goethe-Bro“ Friedrich Schiller an. Wie passt (s)ein „Besorgtsein“ hinsichtlich sozialer Ausgrenzung, Benachteiligung, oder gar Ausbeutung zu einem aufgeklärten Konzept, das Belastungen wie ökonomischen Zwängen standhält und Krisenzeiten überstehen lässt? Schillers zentrales Thema ist die Freiheit des Menschen – politisch, moralisch und ästhetisch. Seine Dramen wie Wilhelm Tell, Die Räuber oder Don Karlos zeigen Individuen, die gegen Unterdrückung kämpfen, für Gerechtigkeit eintreten und sich aus inneren wie äußeren Fesseln befreien.
Gleichzeitig war er sehr skeptisch gegenüber Dogmatismus, Fanatismus und blinder Empörung. Hiermit ist viel gesagt, zeigen sie doch die Ambivalenzen zwischen Erdulden und Erleiden, ja geradezu eine Dialektik zwischen Zielen und Mitteln in der politischen Auseinandersetzung. Ausgrenzungskritik, die mit praktischer Ausgrenzung (dem „Canceln“) operiert, ist eben nicht oder nur dogmatisch überzeugend. Das bessere Modell einer gleichen Berechtigung muss sich dann auch in der Praxis bewähren.
Und da sind wir am Ende alle nur Menschen, die nicht vergessen dürfen, dass auch ein Hamlet und ein Faust – eben „zwei Seelen“ in der Brust wohnen. Die am Ende nur geliebt werden wollen. Ob nun von Ophelia oder Gretchen. (Ganz heteronormativ. Oldschool eben.)
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