Sagt es niemand, nur den Weisen, Weil die Menge gleich verhöhnet: Das Lebendge will ich preisen, Das nach Flammentod sich sehnet. / In der Liebesnächte Kühlung, Die dich zeugte, wo du zeugtest, Überfällt dich fremde Fühlung, Wenn die stille Kerze leuchtet. / Nicht mehr bleibest du umfangen, In der Finsternis Beschattung, Und dich reißet neu Verlangen Auf zu höherer Begattung. / Keine Ferne macht dich schwierig, Kommst geflogen und gebannt, Und zuletzt, des Lichts begierig, Bist du, Schmetterling, verbrannt. / Und solang du das nicht hast, Dieses: Stirb und werde! Bist du nur ein trüber Gast Auf der dunklen Erde. Johann Wolfgang v. Goethe – Selige Sehnsucht (1817)
Goethe schrieb diese Zeilen als Hymne auf die Wandlung – auf die Notwendigkeit, sich im Feuer der Erfahrung zu verzehren, um daraus erneuert hervorzugehen. Doch was, wenn die Flamme nicht wärmt, sondern verbrennt? Was, wenn das „Werden“ kein Reifungsprozess, sondern eine administrative Umstellung ist? Wenn Lehrkräfte nicht aus innerem Streben, sondern aus äußerem Druck entwurzelt werden? In sächsischen Lehrerzimmern breitete sich in den letzten Wochen und Tagen eine Stimmung aus, die sich mit einem Wort beschreiben lässt: Verunsicherung.
Nicht die produktive, kreative Art, wie sie dem Anfang jeder Veränderung innewohnt, sondern eine strukturelle, kalte Verunsicherung, die aus knappen Kassen, ökonomisch motivierten Verwaltungsentscheidungen und dem Fehlen verlässlicher Perspektiven erwächst. Das Schlagwort „Zeitenwende“ steht für eine historische Zäsur. Doch in seiner praktischen Ausgestaltung wird es für viele Lehrkräfte zum Menetekel.
Seitdem Milliarden in Rüstung und Verteidigung fließen, schrumpfen die Handlungsspielräume in anderen Bereichen drastisch. Die Bildungspolitik trifft das besonders hart: Einst geplante Schulneubauten werden verschoben, dringend benötigte Sozialarbeiterstellen nicht besetzt, Fortbildungen gestrichen. Wichtiger aber noch: Junge Lehrkräfte, oft mit Herzblut und Idealismus in ihren Beruf gestartet, werden ohne große Vorwarnung versetzt, aus ihren gewachsenen Kollegien gerissen und an andere Schulen oder gar andere Regionen beordert – nicht aus pädagogischen Überlegungen, sondern um Löcher zu stopfen.
Das Resultat ist eine doppelte Erosion: die der gewachsenen sozialen Gefüge an Schulen – und die der Motivation junger Lehrerinnen und Lehrer, die sich plötzlich als verschiebbare Verwaltungsmasse erleben. Wer Jahre in den Aufbau von Beziehungsarbeit, in Schulprojekte, Vertrauensverhältnisse zu Schülerinnen und Schülern investiert hat, weiß, dass Kontinuität ein entscheidender Faktor für Bildungserfolg ist. Diese Kontinuität lässt sich nicht durch Personalrotation ersetzen.
Ein Lehrer oder eine Lehrerin ist kein Modul, das man beliebig in ein System einsetzen kann. Bildung ist keine Planstelle mit Bezeichnung „Lehrkraft XYZ“, sondern ein zwischenmenschlicher Prozess, der auf Vertrauen, Verlässlichkeit und Erfahrung basiert. Wenn junge Kollegen aus ihren Schulen abgezogen werden, obwohl sie dort gebraucht, geschätzt und etabliert sind, dann zeugt das von einer Prioritätensetzung, die den Bildungsauftrag nur noch technokratisch verwaltet.
Diese Entwicklung hat Folgen: nicht nur für die betroffenen Lehrkräfte, sondern auch für Lernende, denen Bezugspersonen verloren gehen. Für Schulen, die sich mit Mühe eine Gemeinschaftskultur aufgebaut haben. Für Eltern, die um Stabilität in schwierigen Zeiten ringen. Und für eine Gesellschaft, die vorgibt, „Bildung“ zur Chefsache zu machen, aber letztlich nur noch mit dem Rotstift am Haushaltsplan arbeitet.
Was dabei oft übersehen wird: Wir alle zahlen den Preis vernachlässigter Bildung – früher oder später. Ein Bildungssystem, das mit Notlösungen arbeitet, statt mit Visionen, produziert junge Menschen, denen es an Orientierung, Förderung und Vertrauen mangelt. Es sind diese Lücken, die später als gesellschaftliche Kosten wieder auftauchen: in Form von Fachkräftemangel, sozialen Spannungen, politischer Radikalisierung oder auch einfach in der wachsenden Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit.
Bildung ist kein Bonus, den man sich nur in fetten Jahren leisten kann. Sie ist die Bedingung für jedes verantwortbare Morgen. Natürlich: Der Lehrermangel ist real, die Herausforderungen sind groß. Aber gerade deshalb braucht es nachhaltige Konzepte, keine Ad-hoc-Verschiebungen.
Wer junge Lehrkräfte als Ressource behandelt, aber nicht als Menschen in sozialem Gefüge und mit pädagogischem Auftrag wahrnimmt, produziert Fluktuation, Frust und – Ironie der Geschichte – noch mehr Lehrermangel. Denn der schönste Beruf verliert seinen Glanz, wenn man sich darin machtlos fühlt.
Die Öffentlichkeit nimmt davon bislang kaum Notiz. Medien berichten über Streiks und PISA-Studien, aber selten über das stille Verschwinden von Lehrerinnen und Lehrern aus Kontexten, die ihnen wichtig waren. Es sind keine Skandale mit Schlagzeile, sie zeugen eher von stiller Erschöpfung.
Die Verwunderung auf Elternseite wird dann groß, wenn Gewohntes plötzlich nicht mehr gewährleistet werden kann. Nach subjektiven und objektiven Ursachen wird selten gefragt. Die öffentliche Debatte kreist um militärische Schlagkraft und internationale Bündnisse, während die Bildungspolitik in die Rolle des Lückenbüßers gedrängt wird. Das aber ist eine kurzsichtige Strategie. Denn es wird kein stabiles Morgen geben, wenn das Heute in den Schulen bröckelt.
Goethes Appell zum „Stirb und werde“ könnte in diesem Zusammenhang als bittere Ironie gelesen werden. Doch vielleicht birgt er auch einen Hoffnungsschimmer. Vielleicht ist es an der Zeit, Bildung nicht mehr als Kostenfaktor, sondern als Zukunftsbedingung zu betrachten. Vielleicht braucht es eine politische Wandlung, in der nicht nur neue Realitäten beklagt, sondern neue Prioritäten gesetzt werden.
Und vielleicht muss das „Werden“ im Sinne Goethes wieder das heißen, was es einmal bedeutete: Aufbruch durch Einsicht, nicht durch Zwang. Denn wer Bildung will, muss Bindung möglich machen. Und wer Wandel fordert, darf Vertrauen nicht zerstören. Die Schulen sind kein Experimentierfeld, sondern das Fundament der kommenden Gesellschaft.
Wenn dort Verunsicherung herrscht, wird aus dem „trüben Gast“ schnell ein verlorener.
Das Tragische an der Geschichte ist: Es wiederholt sich jährlich nach dem Schuljahresabschluss und vor dem Beginn der Sommerferien. Und es wird von Jahr zu Jahr ein Stück tragischer. Goethes Poesie ist da nur ein schwacher Trost, aber er bleibt nun erst recht Bestandteil des Lehrplans. Vor allem nach dem Sommer und seinen Ferien.
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