Es ist schon verblüffend: Drei Jahre lang waren wir ziemlich allein mit unserem Nachdenken über unsere Gesellschaft, ihre Verwerfungen und psychologischen Irrfahrten. Fast alle großen Medien waren auf den Narrentanz der Neuen Rechten hereingefallen und schürten Emotionen, egal welche. Immer drauf. Und nun tauchen auf einmal nachdenkliche Beiträge auf, die daran erinnern, dass Menschsein doch ein bisschen komplexer ist, als es uns Karrieristen aller Art weiszumachen versuchen.

Angefangen bei einem schönen kleinen Kommentar von Hannes Schrader auf „Zeit Campus“, der sich die neuerlich von CDU-Granden vorgetragene Wiedereinführung von Wehrpflicht oder einem zivilen Pflichtjahr für alle jungen Leute hat durch den Kopf gehen lassen. Er stolpert nicht umsonst über die Tatsache, dass diese Vorschläge ausgerechnet von alten Leuten kommen, die ihre letzten politischen Jahre zumeist auf nichts anderes verwendet haben, als Zwietracht, Streit und Verachtung zu säen, den Zusammenhalt unserer Gesellschaft also massiv zu stören, stellenweise auch zu zerstören, um nur die alten Redenschwinger aus der AfD zu nennen.

Natürlich hat das mit Medien zu tun – mit deren Gebrauch und Missbrauch und mit der Art, wie Politik heute inszeniert wird. Und wie sie konsumiert wird. Medien sind ein Teil des Problems – worauf jemand anders einging. Darauf kommen wir noch zurück. Aber wie unverschämt die Forderungen dieser Politiker sind, die auch noch behaupten, so ein Pflichtjahr würde den „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ stärken, hat Schrader sehr schön auf den Punkt gebracht.

Denn gerade den jungen Leuten, die sich sowieso schon durch mies bezahlte Praktika, befristete Anstellungen, Zeitverträge aller Art und die ganzen  Zumutungen einer unverschämten Arbeitspolitik quälen müssen, um dann nach zehn Jahren endlich so weit zu sein, eine leidlich feste Anstellung mit einer Familiengründung verbinden zu können, jetzt auch noch von Staats wegen zu einem sozialen oder militärischen Pflichtjahr „für die Gesellschaft“ zu verdonnern, das ist anmaßend. Vorlaut sowieso.

Logisch, dass Schrader sauer ist: „Und zwar die Menschen im Alter von Annegret Kramp-Karrenbauer, von Horst Seehofer, Markus Söder und Beatrix von Storch. Der Zusammenhalt wird gefährdet von der Generation der mächtigen Alten, die mit ihren Sprüchen um die Stimmen der anderen Alten kämpfen. Um die Stimmen jener, die sich den gesellschaftlichen Zusammenhalt zurückwünschen, für dessen Verschwinden sie mitverantwortlich sind. Denn erstens ist das, was sie jetzt in Deutschland vermissen, nicht wegen der Jungen verschwunden.“

Recht hat er.

Wenn man seinen Gedanken noch ein wenig weiterdreht, merkt man, dass es gerade die sowieso schon existierenden Zumutungen für die jungen Menschen sind, die das Vertrauen in das, was die alten Talkshow-Besucher „Gesellschaft“ nennen, zerfressen haben. Und die völlig wirklichkeitsfremden Vorschläge, mit denen die deutschen Vorplapperer wieder um Aufmerksamkeit buhlen, erzählen natürlich eine Menge darüber, wie sehr Politik in Deutschland Placebo- und Schein-Politik geworden ist. Die wirklich wichtigen Probleme werden seit Jahren immerfort vertagt und ausgesessen.

Leider – das stellt der Politikwissenschaftler Thomas Kliche in Interview mit Bernhard Honnigfort in der „Frankfurter Rundschau“ fest – sind wir nicht ganz schuldlos daran. Wir in diesem Sinne als Wähler. Wir haben das gewählt, was uns jetzt so schäbig behandelt.

Und viele von uns bestätigen und bestärken das auch noch. Denn sie konsumieren natürlich immer noch Medien. Aber sehr ausgewählt. Es ist der größte Selbstbetrug der Medienmacher, wenn sie so tun, als würden sie für alle Leute schreiben. Das steckt übrigens hinter der verlogenen Anhimmelung der „Reichweite“.

Was ja jeder selbst weiß, der noch versucht, anspruchsvolle Sendeformate, Reportagen, Hintergrundberichte und Analysen im deutschen TV zu finden: Er sucht sich dumm und dämlich und findet sehr wenig auf versteckten Sendeplätzen.

Denn da die Senderchefs alle Sendungen auf „Reichweite“ abklopfen und jeden Morgen auf die Zuschauerzahlen vom Abend starren wie das Kaninchen auf die Schlange, ist eben das Angebot nicht nur mainstreamiger und flacher geworden – man bedient auch nur noch die größtmögliche Zuschauergruppe. Aber das sind nun einmal nicht die Anspruchsvollen und Wissbegierigen. Leider nicht.

Die größte Gruppe sind immer die Anspruchslosesten.

Kliche sagt dazu: „Die Menschen wissen auch, dass sie Medien, besonders Fernsehen, zur Steuerung ihrer Gefühle einsetzen: Sie wählen Sendungen und Formate, die ihnen ziemlich berechenbar bestimmte Stimmungen und eine Bestätigung ihrer Sichtweisen verschaffen. Wer seine Ruhe haben will, schaut Köche, Volksmusik oder Schmalzfilme. Wer die Welt vor lauter künstlicher Aufregung vergessen will, schaut Horror und Weltuntergang.

Wer seine eigenen abgedrehten Ansichten bestätigen möchte, taucht unter Gleichgesinnte ins Internet ab, etwa in das Netz der Populisten. Die anstrengenden Einzelheiten der Wirtschaftspolitik zum Beispiel interessieren kaum jemanden, aber alle haben hohe Erwartungen und eine Meinung dazu. Die Verachtung für Politik und Medien hat also bei vielen Menschen auch mit der eigenen Faulheit und Wirklichkeitsvermeidung zu tun.“

Was auch bedeutet: All die Leute, die ständig über Politik und Medien schimpfen, haben ganz und gar nicht abgeschaltet. Sie konsumieren noch immer. Aber immer dasselbe, jeden Tag: das Reichweiten-Fastfood. Das, was beratungsresistente Sender tagtäglich dafür produzieren, damit die reichweitenstärkste Gruppe gefüttert wird. So sieht das deutsche Fernsehen nun mal aus.

Und sage mir keiner, dass die Sender dafür irgendein moralisches Recht haben, Gebühren zu verlangen. Warum denn? Sie sorgen ja mit ihrer Fastfood-Mentalität gerade dafür, dass unsere Gesellschaft immer undurchschaubarer zu sein scheint, in Häppchen verpackt, oberflächlich wie ein Boxkampf. Alles nur noch Inszenierung. Und die Macher dieser Sendungen wissen es. Wenn sie etwas anderes behaupten, lügen sie. Sie wissen, dass sie nur den Streit schüren, wenn sie die schlimmsten Dampfköpfe in die Talkshows setzen und Politik als Hahnenkampf inszenieren. Sie nennen das dann „kontrovers“.

Da verschwindet natürlich all das, was scheinbar „zu schwer ist zu verstehen“ hinter Gebrabbel, Zoff und Inszenierung.

Und das ist ja nicht im TV geblieben. Diese Verflachung und zunehmende Theaterinszenierung ist längst auch zum Arbeitsprinzip in vielen Zeitungsredaktionen geworden. Denn natürlich spielen die, seit ihnen die Leser verloren gehen, auch das Reichweite-Spiel, setzen immer noch einen drauf, inszenieren Gewalt, Bedrohung und Politiker-Bashing. Und sie malen den Lesern ein Bild ihrer Gesellschaft, das Einfachheit vortäuscht, wo keine ist.

Was übrigens gerade der Spruch „Merkel muss weg“, den die Pegida-Narren so emsig über die Straßen trugen, am augenfälligsten zeigte: Es ist die Zuspitzung einer Politikerwartung, die davon ausgeht, man müsse Politiker oder Politikerinnen einfach verschwinden lassen, und schon wird alles gut, zieht irgendwie ein besserer Wind ein.

Legida läuft so vor sich hin - Jung muss weg, Medien müssen weg, Merkel muss weg, Abschieben, Abschieben - alle müssen weg, irgendwie. Foto: L-IZ.de
Legida läuft so vor sich hin – Jung muss weg, Medien müssen weg, Merkel muss weg, Abschieben, Abschieben – alle müssen weg, irgendwie. Foto: L-IZ.de

Und dann wählen doch ein Haufen Leute wieder das Bequeme, Gewohnte und Unveränderliche.

Kliche: „Durch Feigheit, Kurzsichtigkeit und Betriebsamkeit. Sie haben den Menschen die grundlegenden Steuerungsprobleme der Gesellschaftsordnung schöngeredet, sie haben sich von Krise zu Krise gehangelt und sie haben bis heute einfach weitergemacht, als hätte niemand die Erdstöße gespürt. Aber alle wissen inzwischen halb und halb bewusst: So geht es nicht weiter.

Die Pole schmelzen, Plastik vergiftet die Ozeane, Hormone und Gülle verpesten das Trinkwasser, Industriestaaten sind überschuldet, Dieselbetrüger oder Banken oder Digitalkonzerne machen sich über den Rechtsstaat lustig, unsere Klamotten kommen aus Kinderarbeit, unsere Waffenexporte erzeugen Flüchtlinge. Diesen Tiefenbeben ist das Klein-Klein in Medien und Politik offenkundig nicht gewachsen.“

Man merkt schon: Die meisten Deutschen betrachten Demokratie wie eine Art Konsum-Politik. Einmal alle vier oder fünf Jahre geht man los, bestellt das Essen, das man immer bestellt hat und erwartet dann, dass die, die dann seltsamerweise schon wieder die Mehrheit gekriegt haben, genau das tun, das man bei der Bestellung erwartet hat. Politikimitation also als großer Lieferdienst. Das passt schon zur Zeit. Amazon holt die deutschen Faulpelze genau an dieser Stelle ab, bei ihrem Nichtwissenwollen, was ihre Bestellung eigentlich auslöst.

Dieselbetrug, Klimaerhitzung, Insektensterben usw. Ehrlich: Das alles ist Ergebnis bequemer Politikerwartungen. Frei nach dem Motto: Aber ich hab doch etwas anderes bestellt! Warum machen die nicht …

Auch das gehört zur Konsumentenhaltung, die unsere großen Medien so lange und so hochnäsig gepäppelt haben. Sie haben auch auf allen Kanälen suggeriert, dass der einzelne kleine Wähler „ja doch nichts ändern kann“. Wie oft haben Sie diesen beknackten Spruch in letzter Zeit schon gehört?

Sind Sie wütend geworden?

Ich ja. Weil das eine kindische Lüge ist. Und die Sprecher wissen es selbst.

Auch wenn unsere Möglichkeiten begrenzt sind. Keiner von uns kann einfach auf einen Knopf drücken und die Dinge ändern sich sofort zum Besseren.

Aber tun können wir alle etwas. Und tatsächlich ist es bewundernswert, wie einige unter uns beharrlich gegen Missstände ankämpfen, wissend, dass es ein zäher und langwieriger Kampf ist. Aber ihre Gegner sind gar nicht die bräsigen Politiker, die die Missstände dulden, sondern all die Bequemen unter uns, die diese Politiker immer wieder wählen und dann behaupten: „Ich kann ja doch nichts ändern.“

Davon leben Politiker, die gar nicht gewillt sind, ihr Amt wirklich für wichtige Weichenstellungen zu nutzen. Davon leben Sender und Zeitungen, die ihre Nutzer jeden Tag mit Fix-Stoff versorgen und deren Redakteure sich schon am Nachmittag darüber kringeln, „wie blöd doch die Leute sind, die diesen ganzen Schrott tagtäglich in sich reinziehen“.

Was für Kliche dann auch ein Erklärungsansatz dafür ist, dass Typen wie Trump, Macron oder die italienische Fünf-Sterne-Bewegung auf einmal für politische Erdrutsche sorgen können: Sie bedienen das Erwartungselement, „dass mal einer aufräumt in dem Saustall“. Denn Menschen halten es nicht wirklich aus, wenn die offenkundigen Probleme über Jahre einfach nicht gelöst werden. Auch wenn sie selbst jahrelang immer die bequemste Lösung gesucht haben. Sie erwarten tatsächlich Lösungsangebote von den von ihnen gewählten Politikern.

Und die Politiker brauchen Medien, um ihre Wähler mitnehmen zu können, erklären zu können, was sie da tun und warum. Medien sind nicht die „vierte Macht“, aber sie sind deshalb wirkungsvoll, weil ihre Art zu berichten darüber entscheidet, ob die Leser (oder Zuschauer) verstehen, was passiert. Oder gar nicht verstehen sollen.

Logisch, dass Thomas Kliche feststellt: „Medien mögen also Vertrauen bei manchen verlieren, aber sie gewinnen an Gewicht als selbstverständliche Grundlage unserer gesellschaftlichen Verständigung.“

Das ist ein hoher Maßstab. Und da muss man sich auch entscheiden, ob man nun für die Junkies auf Reichweitenjagd geht (und den an ihrem Smartphone hängenden geplagten Seelen noch mehr Stress mit noch mehr völlig überflüssigen Alarmmeldungen macht) oder auf diesen Wahnsinn verzichtet und wieder versucht, handfeste Arbeit abzuliefern und unbequem zu sein – für alle drei Seiten: die Politik, die Leser und – sich selbst.

Natürlich sind das Zumutungen. Für alle Seiten.

Aber genau darum geht es. Wer keine Zumutungen will, landet bei den Heuchlern und Schönfärbern und bekommt genau das, was uns jetzt alles beschert wird: eine von faulen Junkies zerstörte Welt.

Das Interview mit Kliche ist natürlich noch länger. Die Fragen sind gut. Es lohnt sich, es selbst zu lesen. Der Link ist unterm Text zu finden.

Die Serie „Nachdenken über …“

 

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