Seit nunmehr knapp 1.000 Tagen füttert Francis Nenik sein Tagebuch über die Präsidentschaft Donald Trumps, das „Tagebuch eines Hilflosen“. Das gar nicht so hilflos ist, weil Nenik in seinem Online-Tagebuch all das, was unter Trumps Präsidentschaft passiert, mit vielen authentischen Quellen und Analysen unterlegt. Nur die Links will er nicht mit hineinpacken – aus ästhetischen Gründen. Deshalb erscheinen einige der Tagebuchbeiträge jetzt in der L-IZ – mit den Links auf die zumeist englischsprachigen Original-Quellen.

Tagebuch eines Hilfosen, 23-09-2019

Francis Nenik

Wie liest man ein Land? Wie kann man ein Land überhaupt lesen? Vielleicht indem man sich anschaut, was in ihm fehlt. Was es braucht. Was es sich von außerhalb reinholen muss.

Normalerweise fallen diese Lücken nicht auf, denn der große globale Warenstrom schließt sie beständig, füllt die Regale und Lager immer wieder neu auf, befriedigt die Wünsche und weckt dabei gleich die nächsten, um weiterrotieren zu können. Aber jetzt, wo Donald Trump den Wärter der Zollschranken spielt, haben sich die Dinge geändert. Jetzt, wo sich Amerika abzuschotten beginnt, treten die inneren Lücken zutage. Sie zu finden ist nicht schwer. Es reicht, einen Blick in die Liste der Ausnahmeanträge zu werfen, die all jene Firmen stellen, die mit ihren Importen aus China von Trumps Strafzöllen betroffen sind.

Die Liste ist öffentlich zugänglich, und Stand heute sind exakt 16.992 [inzwischen sind es schon 17.548] solcher Anträge beim Executive Office des Präsidenten eingereicht worden. In den hiesigen Nachrichten aber liest man höchstens von einer Firma, die zu den Antragsstellern gehört: Apple.

Apple hat insgesamt fünfzehn Anträge gestellt, um zollfrei Computerbauteile aus China einführen zu können. Zehn dieser Anträge hat die Firma genehmigt bekommen. Zum Dank für die Hilfe aus Washington baut Apple seine 6.000 Dollar teuren Mac Pro Rechner jetzt weiter in Texas zusammen.

Wer dagegen die Hürden der öffentlichen Bedeutungsbemessung nicht überspringt und im Gegensatz zu Apple-Chef Tim Cook auch nicht zum Mittagessen ins Weiße Haus eingeladen wird, hat Pech. Zumal niemand weiß, was in den Ausnahmegenehmigungen überhaupt zu beantragen ist. Braucht jedes Teil, das aus China kommt, einen eigenen Antrag? Oder reicht es, das Produkt zu benennen, das aus diesen Teilen besteht? Und kann man einzelne Produkte vielleicht sogar zu Produktgruppen zusammenfassen?

All das ist nirgends spezifiziert, weshalb ein ganzes Heer aus Anwälten und Beratern seit Monaten nichts anderes mehr macht, als zahlungskräftige Firmen durch den Dschungel der Ausnahmeregeln zu geleiten. Das heißt: es versucht. Denn es ist bezeichnend, dass sich sogar die sonst so siegessicher strahlenden Anwälte diesmal eher kleinlaut geben.

„Wenn ich das geheime Rezept kennen würde, das erklärt, wie die Zustimmung zu Ausnahmeanträgen entsteht, würde ich mit ihnen vom Strand aus sprechen“, teilte einer von ihnen dem Wall Street Journal mit und dampfte sogleich weiter in sein Büro, wo schon der nächste verzweifelte Firmenvertreter auf ihn wartete.

Wer sich dagegen keine teuren Anwälte leisten kann, muss seine Mitarbeiter von der Arbeit abziehen und sie zum Anträge schreiben verdonnern. Oder, wenn er keine hat, die Sache selbst übernehmen.

„Jede kleine Muffe, jedes Anschlussstück und jedes Rohr, das für die Herstellung eines unserer Produkte gebraucht wird, muss bei der Ausnahmegenehmigung angegeben werden“, erklärte die Controllerin einer Firma, die Bewässerungsanlagen baut, derweil ihre Kollegen dabei waren, das nächste Einzelteil auszumessen, es zu wiegen und so genau als möglich zu beschreiben versuchten, in der Hoffnung, dass zumindest dieses eine nicht zu den 60 % gehört, die abgelehnt werden.

Wobei die Gründe für die Ablehnung vollkommen schwammig sind und auch mit anwaltlicher Unterstützung nicht handfester werden, denn in den Ablehnungsschreiben wird den Firmen lediglich mitgeteilt: „Der Antrag hat es nicht geschafft zu zeigen, dass die Auferlegung zusätzlicher Zinsen auf das Produkt zu einem ernsthaften ökonomischen Schaden für Sie oder andere US-Interessen führt.“

Was freilich alles und nichts heißen kann – und angesichts einer 16.992 Anträge breiten Produktpalette auch alles und nichts heißt. Denn eines ist klar: Es gibt fast nichts, was amerikanische Firmen nicht aus China beziehen. Allein die erste Seite der Liste mit den Ausnahmeanträgen liest sich wie ein Onlinekatalog für alles Mögliche … aufblasbare Kanus, Baseballkappen, geflochtene Körbe, ein kerosinbetriebener Lufterwärmer, Siliziumscheiben, sogar ein komplett vorgefertiges Haus aus Holz ist dabei. Und natürlich werden in dunklen Zeiten wie diesen auch Lichtmaschinen aus China geholt.

Die Firma, die den entsprechenden Antrag gestellt hat, nennt sich Arrowhead und handelt mit Ersatzteilen für Autos, Rasenmäher und alles, was sonst noch so fährt. Arrowhead allein hat über 10.000 Ausnahmeanträge gestellt. Die Genehmigungsquote liegt bei 35 %. Auf den Rest muss nach wie vor Zoll bezahlt werden. Aktuell sind es 25 %. Ab dem 15. Oktober dann nochmal 5 % mehr.

Auch für den Import von Anlassern hat Arrowhead eine Ausnahmegenehmigung beantragt. Entschieden ist darüber noch nicht. Nur eines ist für den Geschäftsführer von Arrowhead klar. „Anlasser werden in den USA seit 20 Jahren gar nicht mehr gebaut“, berichtet er, und vielleicht sagt das mehr über den Zustand eines Landes aus, als der Mann, der an der Schranke sitzt, jemals verstehen wird.

Mal wieder im Tagebuch von Francis Nenik gelesen und (leider) Straßenbahn am Sonntag gefahren

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