Vergessen wir, während wir uns eingesperrt fühlen, nicht jene, die wirklich eingesperrt sind. Zum Beispiel den Lyriker Ashraf Fayadh, der seit fast sechs Jahren in der saudischen Stadt Abha im Gefängnis sitzt.

„Das Zentralgefängnis von Abha mit seinen erstklassigen Anlagen, den Industrie-Werkstätten, den einzigartigen Familienappartements und modernen Gesundheitseinrichtungen unterstreicht die Unterstützung und die Sorge, die den Gefangenen vonseiten der saudischen Behörden angedacht wird, damit sie sich rehabilitieren und gute Bürger werden.“

Ashraf Fayadh wird in den Augen der saudischen Behörden nie ein guter Bürger werden. Weil er sich vom muslimischen Glauben abgewandt hat. Weil durch ihn zerstörerische Gedanken in Umlauf gekommen sind. Weil er Gott gelästert hat.

Aber selbst wenn alles anders gewesen wäre und Ashraf Fayadh nichts davon getan hätte: Man kann kein guter Bürger werden, wenn man gar kein Bürger ist.

Ashraf Fayadh ist ein Staatenloser. Zwar wurde er, der Sohn eines palästinensischen Flüchtlings, 1980 in Saudi Arabien geboren. Die Staatsangehörigkeit und die dazugehörigen Bürgerrechte aber haben ihm die saudischen Behörden niemals gegeben. Stattdessen haben sie nur genommen. Erst sein künstlerisches Renommee und dann seine Freiheit.

2013 hat Ashraf Fayadh den saudischen Pavillon auf der Biennale in Venedig gestaltet. Rhizoma hieß die Ausstellung. Es sollte ein symbolkräftiger Name sein. Rhizome wuchern unterirdisch. Es sind horizontal wachsende Wurzelgeflechte, deren Triebe es nach oben zieht, raus aus der Erde.

Rhizoma – der Name sollte für eine junge Generation aufstrebender saudischer Künstler stehen. Ashraf Fayadh war einer von ihnen. Er, das Mitglied des arabisch-britischen Künstlerkollektivs Edge of Arabia.

Er, der Lyriker und Kurator zahlreicher Ausstellungen. Er, der mitgeholfen hat, moderne Kunst aus dem arabischen Raum in Europa bekannt zu machen. Er wurde verhaftet, nur wenige Wochen, nachdem der Pavillon in Venedig fertiggestellt war.

Vielleicht war das Rhizom doppelt gedacht. Vielleicht war es in Wahrheit ein Symbol für den saudischen Gottesstaat mit seinen Sonnenkönigen, Sittenwächtern und Spitzeln. Das Rhizom als Sinnbild für eine sich zunehmend modern gebende Monarchie, deren menschenverachtende Maschinerie unterirdisch aber weiterwuchert und deren Schergen es immer dann an die Oberfläche zieht, wenn sie sich einen von denjenigen holen, die sich dem Machtapparat widersetzen. Dann ziehen sie ihn runter. In die Folterkeller. In die Gefängnisse. In die Erinnerungslosigkeit.

Zum ersten Mal wurde Ashraf Fayadh im August 2013 verhaftet. Er kam auf Bewährung frei, wurde aber im Mai 2014 erneut in Gewahrsam genommen und schließlich vor Gericht gestellt. Fayadh, so hieß es in der Anklageschrift, habe in den sozialen Netzwerken blasphemische Gedanken verbreitet, den Propheten Mohammed und Saudi-Arabien beschimpft und in seinem Gedichtband „at-Ta’limat bi-d-dakhil“ („Gebrauchsanweisungen anbei“) Gotteslästerei betrieben.

Das Buch war bereits 2007 in Beirut erschienen. Aber die Religionspolizei hat ihre Augen überall – und sie vergisst nie. Ihre Aufgabe ist es, andere vergessen zu machen. So auch Ashraf Fayadh, der wegen seiner Kritik am Islam und seinem Abfall vom muslimischen Glauben zu vier Jahren Gefängnis und 800 Peitschenhieben verurteilt wurde.

Fayadh legte Revision ein. Sein Fall wurde daraufhin neu verhandelt.

Am 17. November 2015 wurde Ashraf Fayadh wegen Blasphemie zum Tode verurteilt.

Ein paar Monate später eröffnete der Direktor des Gefängnisses von Abha eine Ausstellung, in der die Arbeiten und Produkte der Häftlinge gezeigt wurden. Die saudischen Staatsmedien berichteten darüber. Die Gefängniswerkstätten, so hieß es, hätten es tatsächlich geschafft, aus Sträflingen Staatsbürger zu machen.

Ashraf Fayadh saß derweil in seiner Zelle und wartete auf die Hinrichtung. Ihm sollte der Kopf abgeschlagen werden. Er wusste, wie das Prozedere läuft. Der Henker hatte in aller Öffentlichkeit über seine Arbeit erzählt. Er sei äußerst geübt darin, sagte er. Er habe schon Hunderten den Kopf abgeschlagen.

Der Henker war stolz auf seine Arbeit. Er glaubte, Gottes Werk zu verrichten, und wollte, dass andere die Arbeit genauso gut machen wie er. Also gab er sein Wissen weiter. An neue Scharfrichter. Und an seine Kinder, die sein Schwert nach der Hinrichtung säuberten.

Doch Ashraf Fayadh wurde nicht hingerichtet, denn außerhalb Saudi-Arabiens fingen die Menschen an, Proteste zu organisieren. Es gab Demonstrationen, Solidaritätslesungen, Unterschriftenaktionen. Und der internationale Druck wirkte. Zumindest wurde aus dem Todesurteil Anfang 2016 eine Haftstrafe gemacht. Acht Jahre Gefängnis für ein Bändchen mit Lyrik.

Das war es, was Ashraf Fayadh schlussendlich bekam. Dafür musste er aber noch ein paar Zeilen schreiben. Ashraf Fayadh wurde gezwungen, in den staatlichen saudischen Medien einen Widerruf zu veröffentlichen. Seitdem gibt es nur noch wenige Lebenszeichen von ihm.

Seine Mutter besucht ihn zwei Mal pro Woche im Gefängnis. Sie kommt allein. Der Vater ist im November 2015 gestorben. Das Todesurteil gegen seinen Sohn, so heißt es, habe ihm derart zugesetzt, dass sein Herz versagt hat.

„Was nützt es schon, am Leben zu sein, während andere aus Kummer über dich sterben?“, schrieb Ashraf Fayadh kurz nach dem Tod seines Vaters. Es war das erste Gedicht seit seiner Inhaftierung. Es war das Einzige, was er tun konnte. Die Teilnahme an der Beerdigung hatten ihm die Behörden verweigert. Ashraf Fayadh blieb nur seine Lyrik. Und eine Mitteilung, die er einem Freund zukommen ließ, damit er sie weiterverbreite.

„Ich hoffe einfach nur, dass ich überleben werde und dass sich die Menschen weiter an mich erinnern. Ich habe Angst davor, vergessen zu werden.“

Die Angst ist mehr als berechtigt. Denn obwohl es 2015 und 2016 weltweit Protestaktionen für Fayadhs Freilassung gab und seine Werke öffentlich vorgetragen wurden, sind die Solidaritätsbekundungen mit der Zeit immer weniger geworden und in den letzten Jahren fast völlig verstummt. Über Ashraf Fayadh wird kaum noch berichtet. Man hat sich, so scheint’s, mit dem Urteil arrangiert.

Dabei steht Fayadhs Schicksal geradezu exemplarisch für ein Land, dessen Regierung sich nach außen zwar zunehmend reformerisch gibt, tatsächlich aber Andersdenkende nach wie vor systematisch einsperrt, sie misshandelt und Jahr für Jahr Dutzende Menschen wegen angeblicher Gotteslästerung, Homosexualität oder der Teilnahme an regierungskritischen Protesten exekutiert.

Ausländische Künstler werden dagegen zunehmend hofiert und länderübergreifende Partnerschaften geschmiedet. Die globale Kunstelite soll sich wohlfühlen im Wüstenstaat und ihre Werke erblühen im Sand. Nur den Herrschaftsanspruch von Kronprinz Mohammed und seiner Mörderbande herausfordern, das soll die globale Kunstelite nicht. Avantgarde statt Apostasie lautet das unausgesprochene Motto.

Und es gibt genug, die mitspielen. Die Scheichs stellen aber nicht nur das Spielfeld, sie bestimmen auch die Regeln.

Junge, internationale Kunst, das ist es, was die mächtigen Herren in Saudi-Arabien zu sehen wünschen. Hippe Hanswürste, das ist, was sie bekommen. Aber damit kennen sie sich aus. Denn hip wollen sie sein, die jungen Wilden rund um Kronprinz Mohammed. Tatsächlich aber sind sie nichts anderes als hypermoderne Reaktionäre, bis ins Mark korrumpiert von zu viel Macht, zu viel Öl und zu viel internationaler Katzbuckelei. Denn wo die Waffenexporte regieren, haben die Sanktionen zu schweigen.

Und Ashraf Fayadh? Der sitzt seit nunmehr fast sechs Jahren in Isolationshaft. Alles, was er hat, ist seine Lyrik, wohl wissend, dass sich die saudischen Machthaber in Wahrheit einen Dreck um seine Gedichtzeilen scheren. Aber warum sollten sie auch? Für den Kronprinzen und seine Lakaien ist die Kunst nur ein Spiegel der eigenen Verklärung. Zeigt der Spiegel aber ihr wahres Gesicht, offenbart er die Bigotterie und die hässliche Fratze der Macht, so gehört die Kunst samt ihres Erschaffers verdammt und vertilgt.

Wer dagegen schön artig ist (und sich obendrein auch recht „arty“ gibt), der wird belohnt. Kunst zahlt sich aus in Saudi-Arabien. Und ein ganz klein wenig „Kritik“ wird auch akzeptiert. Sie verleiht den saudischen Totengräbern den Anschein von Toleranz. Und bringt den Künstlern die nötige Authentizität. Zumindest solange sie in homöopathischen Dosen daherkommt und gut verpackt ist – in den avantgardistischen Werken oder den dazugehörigen Theorie-Elaboraten.

Es lohnt sich jedenfalls, in Saudi-Arabien dabei zu sein und Teil der von Kronprinz Mohammed initiierten „Vision 2030“ zu werden. Und es zahlt sich auch aus. Nicht nur für die Künstler, sondern auch für die global agierenden Kulturmanager, Projektmacher und Architekten, die mit der heißen Luft, die sie in Saudi-Arabien ummanteln, hübsche Sümmchen verdienen und den Daheimgebliebenen so ganz nebenbei noch erzählen, sie täten mit ihren Werken etwas für die Öffnung des Landes.

Am meisten aber lohnt es sich für die saudischen Machthaber selbst, für die die Kunst ein willkommenes Herrschaftsinstrument ist. Sie ist der schöne Schein auf ihren Leichentüchern. Ein weicher Standortfaktor, wenn die harten Öldollars weniger werden.

Offiziell aber ist es alles ganz anders. Offiziell ist der Kronprinz Mohammed ein Kunstliebhaber. Das ist das Bild, das vermittelt werden soll. Denn: „Kultur“, so sagen die Verantwortlichen in Saudi-Arabien, „hat mit Politik nichts zu tun.“

In Wahrheit aber ist der Mäzen nichts als ein Mörder, und der Philanthrop ein Menschenverächter. Als solcher hat er den gesamten Staatsapparat fest in der Hand und lässt jeden ins Gefängnis stecken, der sich ihm und seinem absoluten Machtanspruch widersetzt.

Ashraf Fayadh kannte die Lage in Saudi-Arabien. Er wusste, worüber er schrieb. Und auch wenn seine Gedichte noch aus der Zeit stammen, bevor Mohammed bin Salman die Macht im Staat übernahm, so hat sich an dem, wovon Ashraf Fayadhs Zeilen handeln, im Grunde nichts geändert. Die alten Werte regieren noch immer, nur ihre Vertreter sind neu. Sie haben die Verpackung ein wenig aufgehübscht und oberflächlich für eine Öffnung des Landes gesorgt.

Tatsächlich aber gilt noch immer, was Ashraf Fayadh bereits 2007 feststellte, als er schrieb: „Die Propheten sind alle in Rente gegangen / und glaubt ja nicht, dass wegen euch ein neuer Prophet kommt. / Wegen euch liefern die Spitzel ihre täglichen Berichte / und werden dafür gut entlohnt. / Wie wichtig doch Geld ist / für ein Leben in Würde!“

Es war unter anderem dieses Gedicht, das zu seiner Verhaftung und dem anschließenden Urteil geführt hat. Es sei – als Zeichen der Solidarität mit Ashraf Fayadh, aber auch mit Blick auf die derzeitige Lage in Europa und unsere eigenen Befindlichkeiten – an dieser Stelle in der deutschen Erstübersetzung vollständig wiedergegeben.

Ashraf Fayadh

Die letzten Nachkommen der Flüchtlinge

Du verursachst der Welt Verdauungsstörungen und ein paar andere Probleme.
Bringe die Erde nicht zum Erbrechen,
Bleib nah bei ihr, ganz nah.
Du bist der Bruch, der sich nicht mehr zusammenfügen lässt.
Du gehörst zu einer Gruppe, die man nicht greifen oder mit anderen Zahlen in eins rechnen kann.
Du verursachst Verwirrung in der internationalen Statistik.

Ein Flüchtling zu sein bedeutet, am Ende der Reihe zu stehen,
Um eine Scheibe Heimat abzubekommen.
In einer Reihe stehen ist etwas, das dein Großvater schon getan hat, ohne zu wissen, warum.
Diese Scheibe, diese abgeschnittene Stück aber, bist du!

Die Heimat: ein Ausweis, den du zusammen mit deinem Geld in deine Brieftasche steckst.
Das Geld: Papierstücke, auf die die Bilder von Führern gemalt sind.
Die Bilder: sie vertreten dich, bis du zurückkehrst.
Die Rückkehr: ein mythisches Wesen, das in den Geschichten deines Großvaters vorkommt.

Die erste Lektion ist hiermit beendet.
Ich aber richte mich an dich, damit du nun auch die zweite Lektion lernen kannst. Sie lautet: „Was bedeutest du?“

Am Tag des Jüngsten Gerichts, dem Tag des großen Gedränges, sind alle nackt,
Und ihr – ihr schwimmt im Dreckwasser der zerbrochenen Abwasserrohre.
Barfuß – das ist gut für die Füße,
aber schlecht für die Erde.

Für euch werden wir Rednertribünen aufstellen und Konferenzen abhalten,
Und die Zeitungen werden angemessen über euch schreiben.
Ein neues Mittel wurde entwickelt, um den besonders hartnäckigen Dreck aus dem Wasser zu filtern
Zur Hälfte des bisherigen Preises.
Also beeilt euch, so viel als möglich davon aufzukaufen,
denn die Wasserkrise ist akut.

Es sind gerade ernsthafte Verhandlungen im Gange,
dich mit kostenloser Asche zu versorgen, damit du nicht ersticken musst,
und das Recht der Bäume auf Leben verletzt.
Lerne, wie du die Asche, die dir zugewiesen ist, nicht auf einmal verbrauchst.

Sie haben dich gelehrt, wie du deinen Kopf hebst,
damit du den Dreck auf der Erde nicht siehst.
Sie haben dich gelehrt, dass die Erde deine Mutter ist.
Aber wer ist dein Vater?
Du suchst nach ihm, um dir deiner Herkunft sicher zu sein.
Sie haben dich gelehrt, dass deine Tränen einen unnötigen Wasserverbrauch darstellen.
Und wie das mit dem Wasser ist… Also, das weißt du doch selbst!

Der morgige Tag,
er wäre besser daran, sich deiner zu entledigen,
denn das Gesicht der Erde wäre schöner ohne dich.

Kinder sind wie Spatzen,
nur dass sie sich in toten Bäumen keine Nester bauen.
Und die Hohe Kommission ist nicht dafür verantwortlich, Bäume zu pflanzen

Nutze dich selbst als Trumpfkarte,
als ein Stück Papier mit einem Gedichtchen drauf – ein Stück Klopapier,
ein Stück Papier, mit dem deine Mutter den Ofen anzünden kann,
um darin ein paar Brote zu backen.

Die Wettervorhersage:
Die Sonne liegt mit Fieber im Bett.

Die Knochen sind mit Fleisch und Haut überzogen.
Aber die Haut wird dreckig und fängt an zu stinken.
Oder sie verbrennt und wird von monströsen Kräften in Mitleidenschaft gezogen.
Schau dich an – du bist das beste Beispiel dafür.

Aber ihr dürft die Hoffnung nicht aufgeben.
Fasst euch ein Herz und schöpft Mut aus dem Exil, aus dem ihr gerade entflieht!
Das hier ist das Training für das Leben in der Hölle
und für die harten Bedingungen, unter denen ihr darbt.
Mein Gott – befindet sich die Hölle etwa auf Erden?

Die Propheten sind alle in Rente gegangen,
und glaubt ja nicht, dass wegen euch ein neuer Prophet kommt.
Wegen euch liefern die Spitzel ihre täglichen Berichte
und werden dafür gut entlohnt.
Wie wichtig doch Geld ist
für ein Leben in Würde!

Die Falafel von Abu Said laufen Gefahr, verunreinigt zu werden,
und die Krankenhausapotheke teilt mit, dass die Impfkampagne bald endet.
Aber du musst keine Angst haben, dass deine Kinder verseucht werden
solange es die Apotheke gibt.

Weiter nun mit der Liveübertragung vom Schönheitswettbewerb:
Das Mädchen dort sieht gut aus in ihrem Bikini,
aber die andere hat einen ziemlich dicken Hintern.

Breaking News: Plötzlicher Anstieg der Rauchertoten.
Aber die Sonne ist noch immer eine Quelle des Lichts
und die Sterne beobachten dich heimlich, denn dein Dach
hat Löcher.

Ein Streit am Taxi-Stand:
„Wir sind noch nicht genug Leute, um loszufahren.“
„Aber meine Frau liegt in den Wehen.“
„Es ist ihre zehnte Schwangerschaft. Hat sie denn gar nichts gelernt? Es gibt Berichte, die vor einer willkürlichen Bevölkerungsvermehrung warnen.“

Willkür – das ist das Wort, nach dem ich seit Jahren gesucht habe. Wir leben in einer willkürlichen Welt. Wir vermehren uns – und unsere Kinder sind nackt. Wir sind eine Quelle der Inspiration für Filmemacher, für Berichte in den Nachrichten, für Besuche von Delegationen. Wir sind Diskussionsthema am Runden Tisch der G8. Wir sind kleine Leute, aber ohne uns können die Großen nicht leben. Wegen uns sind Gebäude zusammengestürzt, und Stationen der Eisenbahn wurden in die Luft gejagt. Das Eisen rostet.

Wegen uns werden so viele Bildnachrichten verschickt. Wir sind Schauspieler, die nicht bezahlt werden. Unsere Rolle ist es, so nackt zu sein wie an dem Tag, an dem unsere Mütter uns geboren haben. So nackt, als wären wir der Erde entsprungen, als hätten uns die Nachrichtenbulletins zur Welt gebracht, oder die Berichte mit den vielen Seiten, oder die Dörfer, die an die Siedlungen grenzen, oder die Schlüssel, die mein Großvater mit sich herumträgt.

Mein armer Großvater, er wusste nicht, dass die Schlösser in den Türen nicht mehr die alten sind.

Großvater, selbst wenn dich die Türen, die sich nur noch mit Chipkarten öffnen lassen, verfluchen. Selbst wenn dich das Dreckwasser, das an deinem Grab vorbeiläuft, verflucht. Oder der Himmel, der dann keinen Regen mehr schickt. Es ist egal, deine Knochen treiben unten in der Erde sowieso nicht mehr aus, und das ist auch der Grund, warum auch wir nicht mehr aus der Erde heraussprießen werden.

Großvater, ich trete an deine Stelle am Tag des Jüngsten Gerichts, am Tag des großen Gedränges, denn meine Genitalien sind der Kamera bekannt. Aber: Erlauben sie eigentlich Filmaufnahmen an dem Tag, an dem das Urteil gesprochen werden wird?

Großvater, ich stehe hier, nackt, Tag für Tag, ohne Gericht, ohne dass die Engel ins Horn blasen müssen, denn ich bin vorausgeschickt worden. Ich bin das Experiment, das die Hölle am Planeten Erde vollzieht. Die Hölle, die man den Flüchtlingen bereitet.

Aus: at-Ta’limat bi-d-dakhil (Gebrauchsanweisungen anbei), Al-Farabi, Beirut 2007, S. 189–192.
Übersetzt von Abier Bushnaq und Francis Nenik. Als Vorlage diente Abier Bushnaq das arabische Original, während Francis Nenik mit der englischen Übersetzung arbeitete, die Jonathan Wright unter dem Titel „The Last of the Line of Refugees Descendants“ angefertigt hat. Der vorliegende deutsche Text des Gedichts entstand schließlich im gemeinsamen Austausch zwischen Abier Bushnaq und Francis Nenik.

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Der 18. März ist von Libertad! ab 1993 favorisiert worden, weil er an die Berliner Barrikadenschlacht erinnern soll. Am 18. März 1848 kam es nach einer friedlichen Demonstration zu gewaltvollen Auseinandersetzungen, weil die Soldaten Angst vor den Demonstrant*innen hatten, die Präsenz der Soldaten peu a peu erhöht wurde und die friedlichen Demonstrant*innen sich durch die Präsenz der Soldaten bedrängt fühlten.
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