Vor der Leipziger Stadtbibliothek am Wilhelm-Leuschner-Platz herrscht geschäftiges Treiben. Mit Wissensdurst rein, mit Büchern wieder rauskommen. Doch auch das Gebäude selbst birgt eine interessante Geschichte. Denn das, was heutzutage die Stadtbibliothek ist, war früher das Museum für Völkerkunde, und auch heute noch finden sich an der Fassade Überbleibsel der kolonialen Vergangenheit.

Auf diese Überbleibsel in der Stadt will die Arbeitsgemeinschaft Leipzig Postkolonial des Vereins Engagierte Wissenschaft auf ihren Stadtrundgängen hinweisen. In anderthalb bis zwei Stunden führen ehrenamtliche Mitglieder der AG durch Leipzig und zeigen an unterschiedlichen Orten koloniale Vergangenheit und Gegenwart auf.

Am gestrigen Montagnachmittag führen Jona, Michelle und Linda von Leipzig Postkolonial Teilnehmer/-innen durch Leipzig, die sich vorher online angemeldet haben. Aufgrund der Corona-Präventionsmaßnahmen ist die Gruppenstärke auf 25 Personen beschränkt. Eine Studentin sagt, sie habe von den Stadtrundgängen bei einer Veranstaltung gehört und wolle „sich das mal anschauen“.

In Jahren ohne Pandemie versucht Leipzig Postkolonial monatlich Veranstaltungen zu organisieren. Im Moment liegt der Fokus wieder mehr auf den Führungen und auch der Überarbeitung. Denn die Themen Rassismus und (Post-)Kolonialismus haben laut Jona Krützfeld der AG in letzter Zeit sehr viel mehr Aufmerksamkeit erfahren. Da sei es für die ehrenamtliche AG, ohne fest bezahlte Stelle, oft schwer, allen Anfragen gerecht zu werden.

Dass auch bei der heutigen Gruppe schon ein gewisses Vorwissen da ist, merkt man an Fragen wie „Was ist denn der Orient und wo liegt er?“, auf die jemand ganz sicher zu antworten weiß: „Der Orient ist alles was der Westen denkt, das der Orient ist.“ Auch eine andere Teilnehmerin, Momo, hat sich ganz bewusst für den Rundgang entschieden. Sie erzählt, dass sie so etwas schon mal in Berlin gemacht habe und nun die Kolonialgeschichte von Leipzig erfahren möchte.

Am Anfang der Führung erklärt AG-Mitglied Linda Schädlich, was Postkolonialismus eigentlich ist: „Postkolonialismus bedeutet nicht nur ‚nach‘ dem Kolonialismus, sondern auch ‚infolge von‘. Diese Strukturen bestehen bis heute, weil sie nicht aktiv abgebaut wurden.“ Das zeigt sich bis heute an strukturellem Rassismus in der Gesellschaft, aber auch im Stadtbild.

So stellen die Figuren an der Fassade der heutigen Stadtbibliothek stereotyp die Kontinente dar. Wobei Europa alle Statuen auf der rechten Seite bekommt und auf der linken jeweils eine für Asien, Ozeanien, Amerika und Afrika steht und somit Machthierarchien und rassistisches Denken reproduzieren.

Die nächste Station bildet das Orientalische Institut der Universität Leipzig, wo sich schon im Namen die Kontroverse finden lässt. Während Orient früher lediglich als Richtungsangabe genutzt wurde, dient der Begriff bis heute als Sammelbegriff für eine ganze Reihe von Ländern und Kulturen, die sich im Raum des Mittleren Ostens verorten lassen. Darauf folgt ein Stopp an der Nikolaikirche, die aber eher Kirche und Missionierung im Allgemeinen repräsentieren soll.

Hier zeigt sich auch, wie kompliziert der Umgang mit der Vergangenheit sein kann. Denn auf der einen Seite versuchten Missionar/-innen in den Kolonien Menschen zum christlichen Glauben zu konvertieren, auf der anderen Seite haben sie auch Sprachen überliefert und Kritik an der Gewalt von Kolonialherren geübt. Diese Ambivalenz zeigt sich bis heute, denn das Leipziger Missionswerk sei auf Leipzig Postkolonial zugegangen und widme sich der eigenen Vergangenheit.

Immer wieder fließen Fragen der zum größten Teil studentischen Führungsteilnehmer/-innen ein. Es entsteht ein Austausch, der die Führung ein wenig in Verzug bringt, aber auch einen Mehrwert darstellt gegenüber einer Recherche zu Hause vor dem Laptop.

Als nächstes geht es zum Kaffeehaus Riquet. Das Haus im Schuhmachergäßchen ist geziert von großen Elefantenköpfen, in den Schaufenstern findet man noch Reklame für sogenannte Kolonialwaren. Reihenweise werden rassistische Stereotype reproduziert.

Jona und Linda berichten, dass sie versucht hätten mit dem Café ins Gespräch zu kommen, aber diese würden den Rassismus hinter der Werbung und ihren Postkarten nicht sehen wollen. Auch auf den Stadtrundgängen würden immer wieder Leute sagen, dass das ja nicht so schlimm sei. Dafür dienen die Rundgänge und der Austausch zwischen den Stationen.

Jona Krützfeld vor der Station am Kaffeehaus Riquet. Foto: Pia Benthin
Jona Krützfeld vor der Station am Kaffeehaus Riquet. Foto: Pia Benthin

Der vorletzte Halt ist am Gedenkstein für Kamal K. nahe des Leipziger Hauptbahnhofs und steht stellvertretend für Gedenken und Erinnerungskultur. Denn: „Rassismus ist nicht nur ein Thema von Rechtsradikalen“, sagt Linda hier.

Wem und was gedacht wird habe etwas mit Macht zu tun und sei sehr umkämpft in der Stadt. So hat es lange gedauert, bis der Stein, als Alternative zu dem Entwurf von Kamals Mutter, genehmigt wurde. Die Platte darauf ist heute aus Metall, denn die Glasplatte vorher wurde zu oft zerstört.

Thematisch endet der Rundgang beim Zoo. Hier geht es um die sogenannten Völkerschauen die in Leipzig stattgefunden haben, aber auch um die ungenügende Auseinandersetzung und Aufarbeitung seitens des Zoos selbst. Linda berichtet von Abendveranstaltungen, die im Zoo bis heute stattfinden und rassistische und schlichtweg falsche Bilder befeuern. Ähnlich wie beim Café Riquet sei auch hier die Kontaktaufnahme der AG bisher unerfolgreich.

Ausführlichere Informationen finden sich auch auf dem virtuellen Stadtplan der Arbeitsgemeinschaft Leipzig Postkolonial. Damit kann ein solcher Rundgang auch alleine absolviert werden. Der nächste geführte Stadtrundgang findet am Mittwoch, 30. September 2020 von 10–12 Uhr statt. Voranmeldung unter: http://www.leipzig-postkolonial.de/.

Interview: „Der Kolonialismus in Leipzig ist kein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte“

Interview: „Der Kolonialismus in Leipzig ist kein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte“

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