Häuptling Mareale war ein afrikanischer Sklavenhändler. Er lebte am Fuße des Kilimandscharo im heutigen Tansania. Als er gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf einem Liegestuhl sitzt und selbstbewusst dreinblickt, steht auf der anderen Seite der Kamera der Afrikaforscher und Verleger Hans Meyer. Er drückt im richtigen Moment auf den Auslöser. Der Leipziger Familie Meyer verdankt Deutschland das „Meyersche Konversationslexikon“, den Brockhaus des Ostens.
Mareale und Meyer waren Freunde. Der Afrikaner half dem Deutschen einst dabei, den höchsten Berg Afrikas zu besteigen. Mehrere Jahre später reiste Meyer erneut zu seinem Freund. Der war inzwischen damit beschäftigt, ein zweistöckiges Steinhaus nach dem Vorbild der deutschen Kolonialisten zu errichten. Aber der Bau war ins Stocken geraten. Die Deutschen hatten den Sklavenhandel eingeschränkt und Mareale deshalb kein Geld mehr.
In den Museen für Völkerkunde werden seit ungefähr zehn Jahren ganz andere Geschichten über den deutschen Kolonialismus in Afrika erzählt: Weiße sollen ausschließlich Täter sein und Schwarze unschuldige Opfer. Es wird an postkolonialen Mythen gestrickt. Das wahrscheinlich wichtigste Projekt des Leipziger Völkerkundemuseums Grassi stammt dabei gar nicht von ihm. Es trägt den Namen „Berge versetzen“ und wurde von der Künstlergruppe PARA ersonnen.
Die Aktionisten wurden irgendwann darauf aufmerksam, dass in einem österreichischen Antiquariat der Nachlass Hans Meyers zur Versteigerung steht. Noch im Frühjahr 2025 konnte man dort für 140.000 Euro 124 seiner Privatbriefe erstehen. Meyer war nicht nur Verleger und Afrikaforscher, sondern auch Förderer des Leipziger Museums. Ihm hat es die meisten seiner berühmten Benin-Bronzen zu verdanken.
Im Jahr 1889 absolvierte er die Erstbesteigung des Kilimandscharo im heutigen Tansania. Bis zum Jahre 1964 trug der Berg deshalb den Namen Kaiser-Wilhelm-Spitze. Meyer brachte von dieser Expedition etwas mit: einen Stein, etwa so groß wie eine geballte Frauenfaust. Direkt entwendet von der Spitze des afrikanischen Berges.
Der Stein wird später in zwei Hälften zersägt. Die eine schenkt Meyer Kaiser Wilhelm II. Sie gilt heute als verschollen. Die andere verwendet er über viele Jahre hinweg als Briefbeschwerer. Und nun befindet sie sich im Besitz des österreichischen Antiquars Kainbacher in Baden bei Wien.
Die Künstlergruppe will den Verkauf verhindern und nimmt Kontakt zum Antiquar auf. Ein Verkaufspreis von 250.000 Euro stand ursprünglich zur Diskussion. Sogar der Bergsteiger Reinhold Messner soll sich für ihn interessiert haben. Letztlich kommt es zu einer Vereinbarung: Der Antiquar ist bereit, die Steinhälfte zum Einkaufspreis von 40.000 Euro an die Künstlergruppe abzutreten. Sie soll dann zurück auf den Kilimandscharo, um die Integrität des Berges wiederherzustellen. So berichtet es die ehemalige Direktorin des Grassi-Museums für Völkerkunde, Léontine Meijer-van Mensch.
Für das Projekt hat sie extra zwei große Ausstellungsräume freiräumen lassen. In dem einen steht eine Produktionsstrecke. Dort werden kleine Gesteinsstücke in einem Mixer zu Staub zermahlen, mit Ton versetzt, gepresst, geprägt, gebrannt und anschließend für je 20 Euro im Museum als postkoloniale SKRUPEL verkauft. Die Form, in die die Staub-Ton-Masse in Leipzig gepresst wird, ist ein exaktes 3-D-Abbild der Steinhälfte aus Baden bei Wien.
Am Ende der Produktionsstrecke findet sich ein Snackautomat, wie man ihn sonst nur von Bahnhöfen kennt. Im Museum für Völkerkunde zu Leipzig spuckt er stattdessen SKRUPEL aus. Auf dem Automaten steht geschrieben: „Erleichtert Euer Gewissen!“ Das erinnert an eine moderne Form des Ablasshandels.
Insgesamt 2.000 SKRUPEL müssen produziert und verkauft werden, damit der Stein von der Größe einer halben Frauenfaust wieder zurück kann auf den afrikanischen Berg. Anfang 2025 sind davon fast zwei Drittel geschafft. Die Rückkehr der Steinhälfte soll eine Form der Wiedergutmachung deutscher kolonialer Schuld sein. Die Museumsdirektorin spricht gar von einem Beitrag zur „historische Gerechtigkeit“. Die alles entscheidende Frage ist: Stimmt die Erzählung des Museums?
Meyer reiste mehrfach zum Kilimandscharo. Erst bei seinem dritten Versuch gelang dessen Besteigung. Meyer brachte von dort allerlei mit: Gesteinsproben, Daten, Artefakte. Aber wurde all das tatsächlich kolonialistisch „geraubt“?
Meyer pflegte zu Häuptling Mareale vom Volk der Dschagga beste Kontakte. Bei ihm schlug er zur Vorbereitung der Gipfelbesteigung nicht nur sein Lager auf, sondern dessen Leute versorgten die Expedition auch zuverlässig mit Nahrung und Ausrüstungsgegenständen. Meyer berichtet in einem seiner Bücher von „wirklicher Freundschaft“ beider. Mareale hatte fünfzehn Frauen.
Bereits im Jahre 1892 wurde eine Sammlung von Briefen Mareales an Meyer aus dem Suaheli ins Deutsche übersetzt und in einem Buch veröffentlicht. Die Briefe Mareales an Meyer begannen stets mit den üblichen Höflichkeitsformeln: „An seine Wohlgeboren den geliebten, den sehr geehrten, den hohen, den bei uns theuern Deutschen, meinen Freund. Es leite ihn Gott der allerhöchste, wenn Gott will.“
Mareale bedankte sich für von Meyer empfangene Geschenke und kündigte eine Erwiderung an. Aber er teilte dem Deutschen auch mit, dass er „sehr böse“ auf ihn sei. Der Grund: Meyer unterhielt ähnliche Kontakte auch zu Häuptling Mandara, einem örtlichen Konkurrenten Mareales. Meyers Freund war damals deshalb so erbost, weil sich unter den Geschenken an Mandara auch ein Gewehr befand. Mandara war bekannt dafür, bei der Versklavung von Afrikanern im Auftrage arabischer Sklavenhändler für zwei Dollar je Person ganz besonders eifrig zu sein und europäische Afrikaforscher auszurauben.
Auch für Mareale war die Waffenlieferung daher eine Bedrohung. Sein nächster Brief an Meyer ließ nicht lange auf sich warten: „Nimm in Empfang deine drei Speere, und zwei sind Geschenke für dich, der kleine und der grosse, und vier Schilde. (…) Ich höre, bei euch giebt es Gewehre mit fünfundzwanzig Schüssen; wenn solch eines da ist, so wünsche ich es mit Verlangen.“

In einem Buch veröffentlichte Meyer eine Liste jener Geschenke, die er Mareale einst überbracht hatte. Darunter: Stoffe, Perlen, Draht zur Produktion von Speeren, Gewehre, Revolverpatronen, Schießpulver, Messer, Schnupftabak, Mundharmonikas, Zucker und Salz – und zwei Flaschen Champagners. „Als Gegengabe erhielt ich vor allem die Erlaubnis zur Bergbesteigung“, behauptet Meyer. Möglicherweise gibt es heute also gar nichts wiedergutzumachen.
Meyer wird seinen Freund Mareale Jahre später erneut besuchen. Der ist inzwischen mit der Errichtung eines zweistöckigen Steinhauses mit Veranda beschäftigt. Aber die Bauarbeiten waren ins Stocken geraten. Als Gründe hierfür gibt Meyer an: Die Baupreise seien gestiegen und der „‚verdienstvolle‘ Sklavenhandel“ sei durch die Deutschen zum Erliegen gekommen. Sklavenhändler Mareale konnte sein Haus nicht fertig bauen, weil er deshalb kein Geld mehr hatte.
Von all dem erfährt man in Leipzig: nichts. Weder über den innerafrikanischen Sklavenhandel noch die Freundschaft zwischen Meyer und Mareale. Und man erfährt auch nichts über die Kultur- oder Kolonialgeschichte des heutigen Tansania. Früher einmal waren Völkerkundemuseen Fenster in die weite Welt. Heute sind sie zu Heimatmuseen der besonderen Art geworden. Ihr Gegenstand: die alleinige Schuld des weißen Mannes am Unbill der Weltgeschichte. Was zu dieser Erzählung nicht passt, wird daher vorsichtshalber ganz weggelassen.
Ausgezahlt hat sich der neue Kurs des Grassi-Museums für Völkerkunde bisher nicht. In den letzten Jahren haben sich dessen Besucherzahlen halbiert. An der Corona-Pandemie allein kann dies nicht liegen. Auch im Jahr 2024 sanken sie erneut: um mehr als 20 Prozent. Und das, obwohl der Eintritt inzwischen sogar frei ist.
In einer Frage haben die Anhänger des Postkolonialismus einen Punkt: Auch in Deutschlands Öffentlichkeit und Bildungsinstitutionen ist dessen koloniale Vergangenheit höchstens ein Randthema. Man kann das aus gutem Grund für einen Mangel oder gar für regelrecht beschämend halten. Sinnvoll korrigieren lässt sich das aber nicht dadurch, dass man es mit der historischen Wahrheit nicht mehr genau nimmt.
Dass die Steinhälfte ihren Weg überhaupt zurückfinden wird auf den Kilimandscharo, ist für die ehemalige Direktorin übrigens nicht einmal ausgemacht. Auch dann nicht, wenn die dafür erforderlichen 40.000 Euro eingesammelt werden konnten: „Es könnte ja auch sein, dass die Nachfahren der Ursprungsgemeinschaft sagen: ‚Behaltet doch einfach Euren halben Stein, wir nehmen stattdessen lieber das Geld.‘“
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Mathias Brodkorb, freier Publizist, war für die SPD Kultus- und Finanzminister von Mecklenburg-Vorpommern. Soeben erschien sein neues Buch „Postkoloniale Mythen“, zu Klampen Verlag, Springe, ISBN: 978-3987370328
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Es gibt 3 Kommentare
Danke, Herr Julke! Einmal nicht regelmäßig Ihre Rezensionen gelesen und schon etwas Wichtiges übersehen 🙂
Wie wäre es damit? https://www.l-iz.de/bildung/buecher/2025/05/postkoloniale-mythen-moralische-belehrung-volkerkundemuseen-ungeniessbar-624552
Brodkorb schreibt schlau, kennt sich aus mit der Materie, hat genau recherchiert und erzählt die Geschichten von unten, statt die Postkoloniale Theorie auf alles draufzustülpen. Sehr erfrischend und lehrreich, das zu lesen. Erschreckend dagegen, was im Grassi und anderen ähnlich gearteten Museen passiert. Selbstanklage statt differenzierter Geschichtsbetrachtung. Und vergessen wir nicht, was Brodkorb hier nur indirekt anreißt: der größte und brutalste Sklavenhandel war nicht der transatlantische, sondern jener der arabischen Sklavenhändler, die in Afrika auf Raubzug gingen. Zusammen mit den Expansionsgelüsten der Arabomuslime haben sie über Jahrhunderte für derartige Grausamkeiten gesorgt, dass wir ihnen nur noch mit (Ver-)schweigen begegnen. Ich bin sehr gespannt, das ganze Buch von Brodkorb zu lesen. Wird es in der LZ eine Rezension dazu geben?