Sie ist ein Politikum. Sie war es zu ihren Lebzeiten als Königliche Gemahlin an der Seite Echnatons. Sie war es nach Auffinden ihrer Büste im Jahr 1912 und deren ziemlich heimlicher Verbringung nach Deutschland. Und sie war es erst recht, nachdem die Büste 1924 erstmals in Berlin öffentlich ausgestellt wurde. Aber sie ist es heute auch, weil sie längst zur Ikone geworden ist. Und damit auch Symbol für lauter moderne Emanzipationsbewegungen, die mit ihr selbst gar nichts mehr zu tun haben.

Dabei wissen wir nicht einmal, wie Nofretete tatsächlich aussah. Weder wurde ihr Grab bislang gefunden, noch ihre Mumie. Die berühmte Büste, die im Nordkuppelsaal des Neuen Museums auf der Museumsinsel in Berlin ausgestellt ist, wurde auch nicht in einer Grabkammer gefunden, sondern 1912 in der Werkstatt des Bildhauers Thutmosis, die unter Leitung des deutschen Ägyptologen Ludwig Borchardt ausgegraben wurde.

Wikipedia meint zwar immer noch, dass Borchardt selbst die Büste gefunden hat. Aber Sebastian Conrad geht in seinem Buch auch ausführlich auf die Fundgeschichte dieser heute weltbekannten Büste ein und benennt auch den eigentlichen Finder Muhammad Ahmad al-Sanusi.

Eigentlich hatte der Professor für Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin anfangs nur eine kurze Studie zur Rezeption Nofretetes im Sinn. Aber dann entwickelte sich das Thema ganz von allein zu einer Expedition durch die moderne Welt der Ikonen, Schönheitsideale, Projektionen und Abgründe. Denn nicht zufällig gehören auch Kolonialismus und Postkolonialismus zu den Forschungsschwerpunkten Conrads.

Die Plünderung der Welt

Und da kann man einfach nicht mehr ausblenden, dass auch Fundgeschichte und Aneignung der Nofretete-Büste eine zutiefst koloniale Geschichte sind, Teil jener noch viel größeren Geschichte, in der die Kolonialmächte Europas die Fundstätten Afrikas regelrecht plünderten, um daheim die eigenen Museen mit Schätzen zu füllen – angefangen bei Napoleons Zugriff auf die Schätze Ägyptens eben bis zu den deutschen Expeditionen zu den Ruinen der einst gewaltigen Reiche der Antike.

Zwar war das deutsche Kaiserreich selbst in Ägypten keine Kolonialmacht. Aber Conrad erzählt eben auch kenntnisreich, wie der koloniale Zugriff der Europäer um 1900 auf Ägypten funktionierte und warum es die Franzosen waren, die entscheiden konnten, wer im Lande Grabungen durchführen konnte und welchen Anteil der Grabungsbeute die Ausgräber mitnehmen durften.

Eine Konstellation, die schon wenige Jahre später so nicht mehr funktionierte. Aber Conrad macht sichtbar, dass die Grabung unter Leitung von Borchardt ohne diese kolonialen Rahmenbedingungen so nicht hätte stattfinden können. Ganz zu schweigen davon, dass Borchardt die Funde aus der Werkstatt von Thutmosis einfach so hätte in Kisten verpacken und mit nach Berlin nehmen können.

Eine Geschichte, die bis heute offen ist. Denn bis heute gibt es immer wieder Anfragen aus Ägypten, dass die Büste von Nofretete zurückgegeben werden soll. Durchaus unterschiedlich ideologisch konnotiert. Conrad erwähnt auch die moderne Legitimationsgeschichte der ägyptischen Machthaber, die ihre Herrschaftsgeschichte eben auch mit dem Rückgriff auf die Pharaonengeschichte des Alten Ägypten begründen.

Was es dann wieder deutschen Akteuren – Politikern genauso wie Museumsdirektoren – leicht macht, die Restitution genau aus diesem Grund abzulehnen.

Während längst europaweit das Bewusstsein dafür gewachsen ist, dass sich hinter solchen Haltungen noch immer (post-)koloniales Denken verbirgt, das selbstverständliche Beharren auf Verträgen und Aneignungen aus einer Zeit, als Europas „führende Nationen“ keine Skrupel kannten, sich die Kulturschätze der kolonialisierten Länder einfach anzueignen.

Mal mit purer Gewalt – wie bei den Benin-Bronzen -, mal mit Verträgen, bei denen die Einheimischen ganz selbstverständlich übergangen wurden – so wie bei der Nofretete-Büste.

Postkoloniales Denken

Und es fällt auch hier deutschen Politikern und Museumschefs schwer, das bis heute virulente koloniale Denken hinter diesen Vorgängen zu verstehen. Mal ganz zu schweigen, dass es der ganzen Gesellschaft schwerfällt, die koloniale Vergangenheit Deutschlands überhaupt wahrzunehmen, die aufs engste verquickt ist mit der imperialistischen Vergangenheit. Beides steckt nach wie vor im Denken vieler Deutscher über die Welt und die Menschen „da unten“.

Was auch mit der jahrhundertelang geübten Geschichtsschreibung zu tun hat, die auch die antike Geschichte einer dominierenden europäische Geschichte untergeordnet hat. Auch diesen Strang der Ägypten-Wahrnehmung erzählt Conrad, ein Erzählstrang, der das Alte Ägypten geradezu zur Ursprungsregion für das heutige Europa erklärte, Ägypten quasi herauslöste aus Afrika und über die griechische und römische Antike in den europäischen Ursprungskanon einbaute.

Eine Geschichtssicht, die bis heute viele Geschichtsschreibungen dominiert, während der „Rest“ von Afrika einfach abgeschnitten und ignoriert und damit quasi zu einem geschichtslosen Kontinent gemacht wird. Was dann natürlich mit der Selbstwahrnehmung afrikanischer Historiker kollidiert, die diese europäische Überheblichkeit und Ignoranz mit bestem Recht kritisieren. Weder ist „der Rest von Afrika“ ein Kontinent ohne Geschichte, noch ist Ägypten aus dieser Geschichte herausdividierbar – auch wenn das einige Ideologen in Ägypten selbst nur zu gern versuchen.

Man begegnet in dieser Geschichte also auch den ganzen Wirrnissen und Überhöhungen des modernen Nationalismus, in dem das radikale Staatendenken der Gegenwart in die Geschichte projiziert wird und sich Staatsideologen jene Herkunftsgeschichte zurechtbiegen, die zu ihrer exklusiven Selbstsicht am besten passt. Ein Phänomen, das man ja auch aus der deutschen Geschichte kennt.

Die erste moderne Ikone

Aber Nofretete ist auch in einer anderen Beziehung ein Phänomen. Denn ihren Ruhm verdankt sie den modernen Medien, die ihr Konterfei schon in den 1920er Jahren in alle Welt verbreiteten. Sofort wurde sie zu einem Diskussionsgegenstand in der Kunst der Moderne und in Mode und Marketing. Weshalb Conrad ganze Kapitel auch der Frage nach „zeitloser Schönheit“ widmen kann und ob denn nun Nofretetes Schönheit tatsächlich zeitlos ist oder nur zufällig dem Modegeschmack der Moderne entsprach.

Wobei natürlich erwähnt werden muss, dass auch der Versuch vieler Dichter und Künstler, jetzt ausgerechnet in der Amarna-Epoche die frühe Blüte eines modernen Kunstverständnisses finden zu wollen, schlicht scheitern muss an der Tatsache, dass es keine Belege dafür gibt, dass die Büste auch tatsächlich das Antlitz der echten Nofretete zeigt. Vieles deutet darauf hin, dass es ein Idealbild ist, das der für die Pharaonen tätige Bildhauer Thutmosis so schuf, wie man sich damals das Idealbild einer Königin vorstellte. Die Frau, die uns da scheinbar so lebensecht anschaut, muss keinerlei Ähnlichkeit mit der echten Nofretete haben.

Und trotzdem gelang Thutmosis damit das Bild einer Frau, die nicht nur die Menschen der 1920er Jahre als lebensecht und „zeitlos schön“ empfanden. Ob nun mit dem ganzen Interpretations-Inventar von Kunst und Marketing, das auch damals schon von vollmundigen Zeitungsschreibern verwendet wurde – oder ganz ohne. Obwohl das kaum möglich ist.

Conrad zeigt sehr eindrucksvoll, dass unser Bild von Nofretete ganz überwiegend durch ihre mediale Vermarktung geprägt ist. Womit sie praktisch zur ersten und bis heute berühmtesten Ikone der modernen Medienwelt wurde.

Eine Ikone, die gerade durch ihre Präsenz auch Interpretationsmöglichkeiten bietet, mit denen sich völlig verschiedene Gruppierungen, Staaten und Bewegungen ihre eigene Nofretete-Figur geschaffen haben. So spielt die schöne Königin nicht nur für das ägyptische Selbstbewusstsein eine Rolle, sondern längst auch für die Sicht afrikanischer Historiker auf afrikanische Geschichte, für die Emanzipation der Frauen genauso wie für die afroamerikanische Community, für die die dunkelhäutige Königin geradezu zum Symbol von Selbstbehauptung und Selbstbewusstsein geworden ist.

Und gleichzeitig Ansatzpunkt für heftige Kritik. Womit dann auch die modernen Debatten um race ins Bild kommen.

Moderne Debatten der Abwertung

Debatten, die es zu Nofretetes Zeit ganz bestimmt nicht gab. Auch daran muss Conrad erst einmal erinnern, dass der Rassismus und die Abwertung von Menschen über ihre Hautfarbe ganz moderne Erfindungen sind, Erfindungen, die aufs engste korrespondieren mit den zeitgleich entstandenen Konzepten von Kolonialismus und Imperialismus.

Womit sich der Kreis letztlich schließt und man als Leser merkt, wie sehr man diese faszinierende Büste nach wie vor durch die imperiale, postkoloniale Brille betrachtet und auch deshalb nur zu geneigt ist, all die Kampagnen zu verstehen, mit denen der Verbleib von Nofretete in Berlin immer wieder begründet wird. Oft genug mit Argumenten, die das koloniale Denken bis heute kaum verbergen, wie Conrad feststellt.

Wobei es den vielen Bewegungen, die sich Nofretete ikonisch aneignen, inzwischen fast egal ist, wo die originale Büste nun tatsächlich ausgestellt wird. Sie ist – so scheint es – weltweit präsent, regt Künstler an, Graffiti-Sprayer und Sängerinnen wie Beyoncé.

Die echte Königin, von deren Leben wir nur wenige wirklich verlässliche Daten kennen, verschwindet dahinter geradezu. Aber das war schon in den 1920er Jahren so, als Romanautoren sich rund um Nofretete und Echnaton ihr eigenes Ägypten imaginierten. Mit Opern und Verfilmungen ging das im 20. Jahrhundert so weiter – zumindest bis die Diskussionen um die Hautfarbe der schönen Nofretete auf einmal klarmachten, dass selbst die Rollenbesetzung hoch politisch ist und es immer die dissonante Gegenwart ist, die sich ihre Sicht auf Geschichte zurechtschneidert.

Die koloniale Brille

Während auch Museumsdirektoren so langsam lernen, dass ihre Schätze in großen Teilen eben nicht mit rechten Dingen in ihr Haus gekommen sind und Restitution auch die „besten Stücke“ betreffen kann, die bis heute die Magneten der großen Museen sind. Und Conrad merkt durchaus an, dass viele Argumente, die auch die deutsche Regierung in der Vergangenheit bemühte, um den Verbleib Nofretetes in Deutschland zu begründen, ihre Kraft und ihren Glanz verloren haben.

Was auch eine gute Botschaft ist. Denn damit wird auch die Sicht frei auf die eigene koloniale Geschichte und damit die Verzerrungen in der eigenen Geschichtsoptik. Die auch mit dem bis heute virulenten Nationalismus zu tun hat, wie Conrad feststellt: „Eine Sollbruchstelle in dieser Diskussion bleibt die unübersehbare Rolle des Nationalstaats.

Historisch gesehen waren die modernen Museen Teil der Nationalstaatsgründung, ebenso unverzichtbar wie eine Flagge, ein nationaler Feiertag und eine Nationalhymne. Museen waren ‘Schreine der nationalen Kultur’.“

Und so haben sie eben auch meist bis in die jüngste Gegenwart die nationale Sicht auf die „exotische“ Welt der Anderen präsentiert. Was eben leider auch Folgen hat für die Sicht der Deutschen auf die Welt da draußen, eine Sicht, die nach wie vor tief geprägt ist von einem für selbstverständlich gehaltenen Postkolonialismus, der auch tief in Wirtschaftsdenken und Politik steckt.

Man muss es nur sehen wollen. Und Sebastian Conrad demonstriert in seinem vielfarbigen Buch, dass man mit dem Bild Nofretetes sehr viel davon zu entdecken vermag.

Sebastian Conrad „Die Königin. Nofretetes globale Karriere“ Propyläen, Berlin 2024, 29 Euro.

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