Es war ein Besuch im Leipziger Museum für Völkerkunde, der Mathias Brodkorb dazu veranlasste, am Ende dieses Buch zu schreiben. Ein Buch, das im Grunde eine Streitschrift ist. Aber gerade das liegt ihm. Ganz ähnlich hat er sich schon den Verfassungsschutz und die deutsche Bildungspolitik vorgeknöpft. Und im Grunde geht es jedes Mal um ein grundlegendes Thema: rationales Denken. Da stört natürlich, wenn Menschen sich in ihre Narrative einspinnen. Statt die Welt zu beschreiben, wie sie ist, stülpen sie ihre Wunscherzählungen über die Welt. Das betrifft auch die Völkerkunde.
Also eigentlich das, was in den Völkerkundemuseen Deutschlands und Österreichs zu sehen sein sollte, wenn man sich als Besucher mal dahin verirrt. Was man dort aber immer weniger zu sehen bekommt, weil die Museumsmacher lieber moralische Narrative über die Sammlungen und die Ausstellungsgestaltungen kippen.
Auch in Leipzig, wo man sich sogar einen Brocken „Skrupel“ am Automaten kaufen kann, damit ein halber Gesteinsbrocken für 40.000 Euro auf den Kilimandscharo zurückgebracht werden kann. Den hatte einst einer der bekanntesten Leipziger Naturforscher mitgebracht, Hans Meyer, der den Gipfel des Kilimandscharo 1889 zusammen mit Ludwig Purtscheller erstmals bestieg.
Das war auch die Zeit, als Deutschland kurzzeitig zur Kolonialmacht aufstieg, ein Zeitabschnitt, der offiziell von 1884 bis 1919 dauerte, als Deutschland seine Kolonien in Afrika und Ozeanien dann an seine alliierten Gegner verlor. Eine recht kurze Zeit, die jahrzehntelang regelrecht verdrängt war. In den Fokus rückte die deutsche Kolonialgeschichte erst in den letzten Jahren. Und das auch nicht aus eigener Befindlichkeit, sondern weil aus den USA die Theorien des Postkolonialismus auch nach Europa kamen. Theorien, die eigentlich die ethnografische Forschung bereichern könnten.
Denn zuvor boten die ethnografischen Museen in der Regel den längst überholten exotischen Blick auf die einst kolonisierten Völker. Es war der Blick der Kolonisatoren auf die einst als primitiv definierten „Eingeborenen”. Ein Blick, der beim Publikum nach und nach sowohl an Interesse als auch an Zustimmung verlor.
Überlebt der Kolonialismus im Postkolonialismus?
Und die Kritik wurde natürlich laut – nicht nur an den alten Narrativen von den moralisch und technisch so überlegenen Europäern, sondern auch an den Herkunftsgeschichten der ausgestellten Objekte, die fast nie miterzählt wurde. Und daran knüpfte dann die postkoloniale Debatte an, die natürlich viel größer ist als das, was in den Völkerkundemuseen gezeigt wird.
Sie rückte auch die Sklaverei der Kolonialmächte ins Bild und beleuchtet auch den heutigen, den postkolonialen Umgang der einstigen Kolonialmächte mit den einst kolonisierten Ländern. Sind das nicht eigentlich immer noch die alten Machtungleichgewichte? Nur eben neue Arten der Ausbeutung, Ausnutzung und Nötigung, die dafür sorgen, dass „der Westen“ noch heute vom einstigen Kolonialsystem profitiert?
Alles berechtigte Fragen. Und es könnten spannende Ausstellungen sein in den Völkerkundemuseen Berlins, Wiens, Hamburgs und Leipzigs. Wenn das denn tatsächlich wissenschaftlich aufgearbeitet werden würde.
Genauso übrigens wie die Herkunftsgeschichte der ausgestellten Objekte. Denn natürlich erzählen diese Objekte Geschichten. Viel mehr Geschichten, als meistens mit etwas blumigen Hinweisen auf die geheimnisvollen Kulte der Völker an den Vitrinen erzählt werden. Aber genau das passiert nicht. Brodkorb hat alle vier Völkerkundemuseen besucht – Berlin, Hamburg, Leipzig und Wien. Er hat mit den Museumsleiter/-innen intensive Gespräche geführt.
Er hat Akten studiert, sich auch in die Kaufbelege und Expeditionsberichte des 19. Jahrhunderts gestürzt, die davon erzählen, wie die enormen Sammlungen in allen Häusern zustande kamen. Und natürlich wollte er wissen, warum die Ausstellungen sich in den letzten Jahren immer mehr zu Ausstellungen entwickelt haben, die vor allem die Schuld der Europäer thematisieren, die Unrechtmäßigkeit der Erwerbungen behaupten und selbst den Besuchern das Gefühl geben, sie müssten auf einmal Buße tun für das über 100 Jahre zurückliegende Kapitel der deutschen Kolonialgeschichte.
„Skrupel“ statt Wissenschaft
Eine zentrale Rolle spielt dabei die Theorie des Postkolonialismus, die in allen besuchten Häusern mittlerweile zur unhinterfragten Arbeitsgrundlage geworden ist. Mit drastischen Folgen nicht nur für die Ausstellungsgestaltung, sondern auch für die „Rückgabe“ der Sammlungsstücke an die heutigen Länder, aus deren Bereich die Stücke ursprünglich stammten. Nur waren die meisten Stücke weder Raubgut noch Kriegsbeute, sondern wurden – wie auch die meisten Stücke in der Leipziger Sammlung – oft direkt von Händlern vor Ort gekauft.
Brodkorb analysiert mehrere Fälle solcher Erwerbungen, die sogar recht gut belegt sind. Und trotzdem sind Museumsleitungen und Politiker bemüht, die Stücke unbedingt „zurückzugeben“. Und das nicht, weil sich bei der Recherche der Herkunft ergeben hätte, dass sie gestohlen oder auf andere unrechtmäßige Weise in den Fundus gekommen wären, sondern schlicht aus moralischen Gründen.
Es geht um moralische Kategorien, ein Schuldempfinden, aus dem heraus selbst renommierte Museumsleiter/-innen agieren. Der „Skrupel“-Automat im Leipziger Völkerkundemuseum steht geradezu exemplarisch dafür.
Aber mit Wissenschaft hat das nichts zu tun. Auch nicht mit der Aufgabe, die Brodkorb tatsächlich für eine Erneuerung der Völkerkundemuseen sieht. „Es soll nicht bestritten werden: Das koloniale Narrativ vom Ende des 19. Jahrhunderts bildete nicht die historische Wirklichkeit ab und bedurfte der Korrektur – auch in den Museen. Die Idee der weißen kulturellen Überlegenheit schloss erstens Deutungsmuster der ‚indigenen‘ Bevölkerungen über ihre eigenen Kulturen mitunter aus. Zweitens waren auch Museumsmitarbeiter und Professoren vor 150 Jahren in das koloniale System verstrickt …“
Was ebenfalls zu erzählen wäre. Aber eben nicht plakativ, sondern detailgenau. Beispiel: Karl Weule, der nicht nur Direktor des Leipziger Museums für Völkerkunde war, sondern auch zum Reichtum der Sammlung beigetragen hat – freilich auch mit Methoden, die heute hinterfragt werden müssen. Dessen Büste aber nun vom Sockel geholt wurde. Und der Sockel wurde zermahlen, um daraus die käuflichen „Skrupel“-Steine zu gießen.
Flüchtige Geschichte
Das hat aber nichts mehr mit wissenschaftlicher Aufarbeitung zu tun. Aber viel mit moralischer Korrekturwut, die Brodkorb in allen besuchten Museen wiederfinden kann. Als sollte das koloniale Kapitel der Museen einfach rigoros ausgelöscht werden, als hätte es das nie gegeben. Als würde man die Welt dadurch besser machen, dass man sich für die Geschichte immerfort entschuldigt, statt zu zeigen, wie sie wirklich ablief. Das bringt nicht nur Brodkorb ins Grübeln.
Denn wenn man Geschichte so säuberlich bereinigt, verschwindet sie ja nicht wirklich. Sie wird nur unsichtbar. Und den Museumsbesuchern nicht mehr zugemutet. Da scheint es zwar naheliegend, die Menschen aus jenen Regionen zu befragten und in die Ausstellungsgestaltung einzubeziehen, aus denen die Sammlungsstücke ursprünglich stammten.
Aber da erlebt auch Leipzig das eigentlich nicht Überraschende: Dass die heutigen Menschen aus diesen Regionen oft selbst nicht mehr wissen, welche Bedeutung die Sammlungsstücke einmal hatten. Die Welt hat sich auch dort weitergedreht.
„Wonach das Leipziger Museum in der Ursprungsgemeinschaft sucht, hat sich längst verflüchtigt“, schreibt Brodkorb. „Man jagt einer Fata Morgana einer ominösen ‚historischen Gerechtigkeit‘ nach.“
Oder eben einem statischen Bild von Geschichte, das eigentlich jeder Erfahrung widerspricht. Einerseits geht man felsenfest davon aus, dass der Kolonialismus massiv in die Gefüge der Länder im Süden eingegriffen hat. Andererseits tut man aber so, als hätte sich im Alltag, im Glauben und religiösen Verhalten der Menschen dort nichts geändert.
Ein Punkt, den Brodkorb mehrfach anspricht, weil darin eigentlich immer noch der nunmehr runderneuerte Hochmut des Westens zum Ausdruck kommt. Man wäscht sich moralisch rein, indem man die Ausstellungen säubert und Sammlungsstücke zurückgibt, beweist damit aber wieder einmal eine „überlegene Moral“. Man bereut ja und betreibt Wiedergutmachung.
Widersprüchliche Geschichte(n)
Nur: Mit Forschung und einer komplexen Darstellung der tatsächlichen Kolonialgeschichte (und die Vor-Geschichte der kolonisierten Länder) hat das nichts zu tun. Und zwar der ganzen Kolonialgeschichte, die Brodkorb in seiner Streitschrift deutlich ausführlicher erzählt, als das in den Museen passiert. Denn hinter dem Narrativ vom Postkolonialismus steht auch die – falsche – Annahme, nur Weiße hätten in der Geschichte Schwarze versklavt und fremde Länder ausgebeutet.
Obwohl die Archive genauso vom innerafrikanischen Sklavenhandel erzählen, in dem neben afrikanischen Herrschern auch arabische Sklavenhändler eine zentrale Rolle spielten. Und zwar schon Jahrhunderte, bevor die europäischen Staaten ihre Kolonien in Afrika eroberten.
Und Brodkorb nennt auch genug Beispiele, wie gerade die Kolonisatoren versuchten, den Sklavenhandel einzudämmen. Dahinter standen durchaus für das 19. Jahrhundert moderne Vorstellungen von Menschenwürde – aber natürlich auch wirtschaftliche Interessen. Und mit gutem Grund kritisiert Brodkorb auch all die postkolonialen Behauptungen, ausgerechnet Kant, Aufklärung um Humanismus seien für Rassismus und Sklaverei verantwortlich.
Das hat mit den historischen Fakten nun einmal nichts zu tun. Genauso wenig wie die ebenfalls von postkolonialen Theoretiker/-innen aufgestellte Behauptung, die Migration aus dem Süden in die reichen Staaten des Nordens sei so eine Art Wiedergutmachung für die Kolonisation. So werden komplexe Zusammenhänge einfach ignoriert und simple Vorstellungen vom Agieren der Menschen konstruiert, die die tatsächlich meist widersprüchliche Geschichte einfach unsichtbar machen.
So unsichtbar, wie sie in der aufgeräumten Ausstellungsräumen der Völkerkundemuseen nun ist. Gerade die wirklich lehrreichen Geschichten findet man dort nicht. Einige davon erzählt Brodkorb, weil sie deutlich machen, wie Deutschland tatsächlich mit den Menschen in den vom Deutsche Reich in Anspruch genommenen „Schutzgebieten“ umging. Geschichten, die auch zeigen, wie radikal sich in den knapp 35 Jahren die Sicht der Deutschen auf ihre Kolonien und die dort lebenden Menschen veränderte.
Denn es war gleichzeitig die Zeit, in der der deutsche Antisemitismus und der moderne Rassismus immer mehr Bedeutung in der politischen Auseinandersetzung gewannen. Rassisten und Nationalisten dominierten immer stärker die politische Bühne. Was auch den Umgang mit den Völkern in den Kolonien veränderte, auch skrupelloser machte. Denn wie wir über Menschen denken, so gehen wir mit ihnen auch um.
Geraune statt Argumente
Und genau das könnte in den Ausstellungen ebenfalls sichtbar gemacht werden. Sie könnten ganz andere, viel lebendigere Geschichten erzählen und vor allem die Ausstellungstücke besser einordnen – auch in die politische und Kolonialgeschichte der Länder des Nordens. Das wäre ein wissenschaftliches Herangehen, anders als die moralische Wegräumerei, die den heutigen Besuchern Schuldkomplexe machen soll, als wären sie für die Taten ihrer Vorfahren verantwortlich. Brodkorb wird sehr deutlich, was er von dieser Art des Aufräumens hält: „Anstatt zu argumentieren, wird gefühlig geraunt.“
Und das kommt ganz augenscheinlich bei den Museumsbesuchern auch nur als Bevormundung an. Statt in wissenschaftlicher Kompaktheit zu erfahren, wie die Sammlungen entstanden und wie die deutschen Forscher, Konsuln und sonstigen Sammler agierten, wird so getan, als könnte man sich von der Geschichte loskaufen.
Dabei sollten solche Museen eigentlich etwas anderes erzählen. Neben dem Wissen, was die Ethnografen des 19. Jahrhunderts über die besuchten Völker tatsächlich herausgefunden haben. Denn nicht alle waren mit kolonialer Brille unterwegs. Und zur Wahrheit gehört auch, dass genau diese Forschungen und Sammlungen die Basis für die entstehende Ethnografie waren. Dahinter steckte auch damals eine nur zu berechtigte wissenschaftliche Neugier auf die Kulturen der Welt.
Geschichte in all ihrer Widersprüchlichkeit
Dass die Widersprüche dieser Entstehungszeit der ethnografischen Sammlungen eher moralisch inszeniert werden, kann man durchaus Bevormundung der Museumsbesucher nennen, denen die Fähigkeit, mit den Widersprüchen der eigenen Geschichte umzugehen, geradezu abgesprochen wird, indem ausgerechnet das Zwiespältige und Verunsichernde in den Fundus verbannt wird. Es funktioniert auch nicht, dass man sich mit der Restitution der Sammlungsstücke von seiner früheren Schuld loszukaufen meint, stellt Brodkorb fest.
Geschichte wird dadurch nicht anders oder besser. Tatsächlich vergeben sich die Museen damit eine echte Chance, ihren Besuchern wirklich spannende Ausstellungen zu zeigen. „Von dieser Überforderung befreit, könnten sich die Museen wieder ihrem eigentlichen Zweck widmen“, schreibt er.
„Und sie müssten dann die vollständige Geschichte des Kolonialismus nicht mehr beschweigen oder gar verdrehen, um nur dem Schein nach plausible Restitutionsansprüche regelrecht zu erfinden. Sie könnten die Geschichte des Kolonialismus in all ihrer Widersprüchlichkeit und Buntheit erzählen und so durch Stärkung der ‚Ambiguitätstoleranz‘ einen wertvollen Beitrag zur historisch politischen Bildung leisten.“
Es geht eben auch darum auszuhalten, dass die eigene Geschichte nicht eindeutig und eindimensional war. Und Brodkorb benennt auch ein weiteres Phänomen, das entsteht, wenn die Bereinigung der Museen von ihrem kolonialen Erbe einfach als Ventil für heutige Schuldgefühle benutzt wird. Dann wird sie nämlich zum Placebo.
Es gibt jede Menge Geschichten zu erzählen
„Das Postkoloniale Narrativ der völkischen Schuld bleibt nicht ohne Folgen“, schreibt Brodkorb. „Die Abarbeitung an den ‚Untaten‘ der eigenen Vorfahren führt zu einer andauernden Selbstbeschäftigung und zugleich zur Abwendung von der Welt. Auch wenn das gar nicht die Aufgabe echter Völkerkundemuseen wäre, könnten sie sich ja immerhin mit der Frage beschäftigen, wie sehr der Westen bis heute Verantwortung in der ganzen Welt trägt für Ausbeutung, Umweltzerstörung und – nach heutigen Maßstäben – für ungerechte Welthandelsregime. Hieran etwas zu ändern, könnte die Welt dann tatsächlich zum Besseren verändern.“
Das ist schon sehr konkret. Und genau das ist die Stelle, an der die Völkerkundemuseen tatsächlich mit jenen Ländern und deren Museen kooperieren könnten, aus denen die Sammlungsstücke stammen. Dann wird nämlich auch die heutige Realität dieser Länder und ihrer Bewohner greifbar. Und die gesammelte Geschichte wird mit der Geschichte der Gegenwart ins Gespräch gebracht.
Konkret, mit Fakten und Belegen. Und ohne moralischen Zeigefinger, der die Besucher wie kleine Kinder behandelt, denen erst beigebracht werden muss, wie sie sich in der Welt ordentlich zu benehmen haben. Das scheint sogar regelrecht abschreckend zu sein und die Völkerkundemuseen richtig Publikum zu kosten. Denn man will ja Museen nicht besuchen, um dort wieder mit dem Zeigefinger belehrt zu werden. Man will etwas lernen über die Welt. Auch über ihre Abgründe und Widersprüche.
Und dass dafür haufenweise spannende und konfliktreiche Geschichten existieren, die auch lebendig erzählt werden können, zeigt Brodkorb mit diesem Buch.
Mathias Brodkorb „Postkoloniale Mythen. Auf den Spuren eines modischen Narrativs“, zu Klampen Verlag, Springe 2025, 28 Euro.
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