Sexarbeit, auch Prostitution genannt, hat eine lange Geschichte, die literarisch und cineastisch immer wieder verarbeitet wurde. Mal wurde sie romantisiert, mal verdammt und meist war es ein unangenehmes Thema. Was wissen wir aber, außer durch beispielsweise „Pretty Woman“, über die Sexarbeiterinnen? Überwiegend nicht viel bis gar nichts, aber alle haben eine Meinung.

Schaut man nur in die Geschichte des 20. Jahrhunderts bis heute, dann ist zu sehen, dass Sexarbeit mal erlaubt, mal geduldet, mal verboten und oft reglementiert war. Sexarbeiterinnen standen meist am Rande der Gesellschaft und waren recht- und schutzlos. Es sei denn, sie unterwarfen sich einem Geschäftsmodell, welches hauptsächlich von Männern betrieben wurde.

Damit waren sie immer noch rechtlos und der gewährte Schutz war mehr als zweifelhaft. Der Staat half ihnen nicht, eher trieb er sie durch Verbote und Restriktionen immer weiter in die Illegalität. Mitunter arbeiteten sogar Polizei und Zuhälter Hand in Hand, wie in Lyon.

Als der Verfolgungsdruck 1975 gegen die in Frankreich verbotene Sexarbeit immer größer wurde und nach dem Mord an zwei Sexarbeiterinnen kam es in Lyon zum sogenannten „Hurenaufstand“, der am 2. Juni mit der Besetzung der Kirche Saint-Nizier seinen Höhepunkt fand. Nach 9 Tagen wurde die Kirche gewaltsam geräumt, aber die Sexarbeiterinnen hatten sich erstmals organisiert und stellten ihre Forderungen. Der 2. Juni wurde zum „Internationale Hurentag“, der in diesem Jahr zum 50. Mal begangen wird.

Zu diesem Jubiläum veranstaltet das Bündnis Hurenaufstand 1975, bestehend aus Sexarbeitenden, Vertreter/-innen der Peterskirche Leipzig sowie der Gesellschaft für Sexarbeits- und Prostitutionsforschung, einen offenen Dialograum in der Peterskirche Leipzig.

Am Dienstag, dem 3. Juni, sprach ich am Rande der Veranstaltung mit Pfarrerin Christiane Dohrn.

Pfarrerin Christiane Dohrn vor dem Plakat „Huren im Hause des Herrn“
Pfarrerin Christiane Dohrn. Foto: Thomas Köhler

Frau Dohrn, was hat Sie und Ihre Kirchgemeinde motiviert, den offenen Dialograum zu unterstützen?

Das ist so gekommen, ich wurde von einer Sexarbeiterin angeschrieben, die im vorigen Jahr hier eine Lesung machen wollte. Und zwar eine Lesung aus einem Buch, welches sowohl dokumentarisch als auch persönlich die Vorgänge in Lyon nachzeichnet. Und sie hatte mir auch kurz geschildert, worum es 1975 in Lyon ging. Die Lesung konnte damals aber nicht hier in der Peterskirche stattfinden, sondern in der Bethlehem-Gemeinde.

Dadurch habe ich überhaupt Kontakt zu dem Thema bekommen. Die Geschichte von Lyon hat mich wirklich berührt, insbesondere zwei Aspekte daran. Der eine Aspekt war ein Slogan, den die Frauen, die dort protestierten, für sich gefunden hatten: Wir sind Menschen wie andere auch. Das ist mir sehr nah gegangen.

Der zweite Aspekt war, dass die Kirche damals durch die Polizei geräumt wurde. Das ist etwas, über das ich jedes Mal wieder stolpere und dann, wenn dieses Jubiläum ansteht, ist eine Kirche der richtige Ort, um daran zu erinnern.

In den Veröffentlichungen steht die Kirchengemeinde als Veranstalter. Wie stehen Ihre Gemeindemitglieder dazu?

Wie das in solchen Fällen üblich ist, habe ich mich mit meinen Kollegen und Kolleginnen abgestimmt und unsere Leitungsgremien gefragt, da gab es weitestgehende Zustimmung. Man hatte natürlich auch gewisse Vorbehalte im Sinne von: Gehört das in die Kirche, muss das in der Kirche sein, ist das nicht zu reißerisch? Das sind natürlich Gefahren, denen man ausgesetzt ist, wenn man so etwas in einer Kirche macht.

Aber wir haben immer versucht unser Anliegen, dass es um Menschen geht, deutlich zu machen. Damit diese sichtbar werden und einen Beitrag zu leisten, dass sie weniger stigmatisiert werden. Das ist unser Hauptanliegen und das tragen die Leitungsgremien mit. Es gibt natürlich auch Stimmen, die sagen, muss es überhaupt käuflichen Sex geben? Gibt es dafür nicht andere Lösungen? Ist das mit der biblischen Botschaft zu vereinbaren?

Aber das sind genau die Fragen, die wir uns hier in diesem Dialograum auch stellen, oder wo wir zumindest sagen: Das sind berechtigte Fragen, über die wollen wir ins Gespräch kommen und es gibt kein richtig oder falsch.

Die Kirche in Lyon wurde 1975 von der Polizei geräumt. Geht es bei der Veranstaltung auch grundsätzlich um Fragen wie Kirchenasyl?

Im Blick auf unsere Veranstaltung spielt diese Grundsatzfrage nicht so eine Rolle, weil es ja keine Kirchenbesetzung, sondern eine Veranstaltung in der Kirche ist. Damals war es so, dass mit einem Gewohnheitsrecht gebrochen wurde. Inwiefern das auf Wunsch der geistlichen Leitung dieser Kirche passierte oder nicht, dazu gibt es unterschiedliche Dokumente.

Bei der Vorbereitung und im bisherigen Verlauf der Veranstaltung haben Sie wahrscheinlich mehr Sexarbeitende kennengelernt, als Sie vorher kannten. Das sind nicht Ihre Gemeindemitglieder, viele sind wahrscheinlich auch nicht religiös. Wie erleben Sie diese Menschen?

Es sind Menschen und so sehe ich sie. Natürlich, als ich das erste Mal damit Kontakt hatte, ging bei mir auch irgendwie so eine Lampe an. Ach, das ist ja spannend und wie exotisch und so. Aber das hat sich ganz schnell gelegt, weil es Menschen sind. Und ich staune, wie viele auch in irgendeiner Form einen religiösen Hintergrund haben.

Sei es, dass sie in der Schule Religionsunterricht hatten oder dass sie in einem gläubigen Milieu aufgewachsen sind und dann aus irgendwelchen Gründen, die auch ganz verschieden sind, in die Sexarbeit geraten sind und damit auch den Kontakt zur Kirche nicht mehr pflegen konnten oder gedacht haben, sie können ihn nicht mehr pflegen.

Und die dann hier erleben, dass sie in einer Kirche gesehen und gehört werden, auch für sich selber sprechen können, das hat für manche wirklich auch so einen heilenden Aspekt.

Haben Sie die Absicht, weiter etwas zu dem Thema zu machen, also nicht alle vier Wochen oder so, sondern überhaupt?

Im Moment ist es so: Wir sind eine relativ kleine Gruppe und die Veranstaltung ist sehr aufwendig und ausgesprochen vielfältig. Wir müssen alle jetzt erstmal gucken, dass wir bis Mittwochabend kommen, beziehungsweise bis Donnerstag, wo wir dann hier alles wieder aufräumen. Aber ich glaube, wenn man einmal von so einem Thema infiziert ist, wird man es nicht so ohne weiteres los.

Man braucht dann auch wieder ein bisschen Abstand, um einfach den Kopf wieder freizubekommen für anderes. Aber ich kann mir schon vorstellen, dass es in irgendeiner Form eine Fortsetzung gibt. Vielleicht machen wir in einem der nächsten Jahre wieder etwas zum 2. Juni, dem internationalen Hurentag.

Frau Dohrn, ich bedanke mich für das Gespräch und wünsche viel Erfolg.

Es gab einiges zu sehen, auch verschiedene Initiativen waren vor Ort und ansprechbar. Wir führten auch Gespräche mit einer Wissenschaftlerin, die zu dem Thema forscht, und zwei Sexarbeiterinnen. Diese Gespräche lesen Sie später in Teil 2 des Artikels. Weitere Informationen finden Sie im Flyer.

Persönliche Anmerkung des Autors:

Es ist als Mann schwierig zu diesem Thema zu schreiben, deshalb eine persönliche Anmerkung: Ich habe in meiner Tätigkeit als Pannenhelfer für den ADAC in Bremen zwischen 1998 und 2008 einige Sexarbeiterinnen kennengelernt. Pannenhilfen in der Helenenstraße oder auf dem Straßenstrich Holzhafen gehörten zum Job.

Frauen, die dort arbeiteten, entsprachen in keiner Weise den weit verbreitenden Klischees. Ich lernte Frauen kennen, die in einem Job arbeiteten und die ganz normalen Probleme, wie Kinder, Partner, Lebensunterhalt usw., hatten. Ein zusätzliches Problem klang oft an: die fehlende gesellschaftliche Achtung.

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