„Ja, wir müssen alle sterben“, sagt Julia Bodendieck vom Hospiz Advena anlässlich der Ausstellungseröffnung. „Aber vorher leben wir.“ Deshalb sei es wichtig, neben dem Weinen auch zu lachen. Die Leipziger Peterskirche zeigt jetzt Bilder einer Generation, die sich trotz des Leids durch Krieg, Hunger und Wiederaufbau den Mut zum Lachen bewahrt hat. Mithilfe sensibler Portraits erzählt die Initiatorin Corina Ries die Geschichten dieser Menschen.
Ihr Anliegen, so die Künstlerin, seien Achtsamkeit und Zuwendung jenen gegenüber, die unter schwersten Bedingungen geboren wurden und aufwuchsen. Die den Grundstein legten für unser heutiges Leben, wofür sie in ihrem hohen Alter Respekt verdienen, an dem es im Alltag viel zu oft mangelt. Als „die Selbstverständlichkeit von Miteinander und Füreinander“ beschreibt die 1975 in Leipzig geborene Corina Ries den wünschenswerten Zustand der Beziehung zwischen den Generationen. Ihn zu erreichen, möchte sie mit ihrem Projekt einen Beitrag leisten.
Begegnungen
Gefunden hat sie ihre Protagonisten in Pflegeheimen, dem betreuten Wohnen und in einem Hospiz. Und beim Einparken … „Eine freie Lücke, aber zwei Autos, die den Platz benötigten“, beschreibt Gisela Hiebsch das Kennenlernen in der Leipziger Südvorstadt. Beide wohnen in gegenüberliegenden Häusern, hatten sich bis zu diesem Moment noch nie gesehen.
Corina Ries überließ der 1937 in Leipzig geborenen Gisela den Platz, fand einen anderen. Als sie zu ihrer Haustür ging, traf sie erneut auf die ältere Dame – und sie kamen ins Gespräch. Auch über das Projekt „Gesichter einer Generation“. Ihren 6. Geburtstag erlebte die heutige Seniorin im Luftschutzkeller. Schätzungen zufolge verloren etwa 6.000 Menschen in den Leipziger Bombennächten ihr Leben. Gisela Hiebsch überlebte. Die 88-Jährige schaut auf ein bewegtes, aber auch entbehrungsreiches Leben zurück.
Die finanzielle Situation der Familie war schlecht, das Mädchen muss die Schule nach der 8. Klasse beenden und eine Lehrausbildung beginnen. Als Laborantin arbeitet sie in Schwedt. Nach dem Ende der DDR wird sie mit 55 Jahren Frührentnerin. Zwischen Trümmern aufgewachsen, erwandert sie heute täglich Leipzigs Mont Klamott – den Fockeberg. Eine der Halden des Kriegsschutts, auf dem mit den Jahren Gras und Bäume gewachsen sind.
Ihre Vitalität erklärt sie so: „Man muss den Verstand wach halten. Gesund bleiben und den Kopf bemühen.“ Mit ihrem kleinen Frauenstammtisch hat sie einen autodidaktischen Englischkurs begonnen. „Wir haben uns Lehrbücher gekauft. Und ein Buch für Lehrer, damit wir immer nachschauen können, was wir alles nicht wissen.“

Lebensliebe
Eleonora und Manfred Kube lernen sich beim Einkaufen kennen. Im unruhigen Jahr 1953. Normerhöhung, Mangelwirtschaft, Proteste, Panzer. Manfred, 1933 in Schlesien geboren, kommt als Vertriebener nach Leipzig. Nach der Schule müssen Holz und Kohlen beschafft werden, um die kleine Wohnung zu heizen. Für die Mutter und Manfreds fünf Geschwister eine harte Zeit.
Im Waldstraßenviertel arbeitet Eleonora in einer HO-Kaufhalle. Während das östliche Nachkriegsdeutschland aufs Mark erschüttert wird, lernen sich die Verkäuferin und der junge Stahlbauschlosser kennen. Der Beginn ihrer großen Liebe, die sie ein Leben lang tragen und beflügeln wird. Drei Jahre später heiraten sie.
Am 7. Oktober letzten Jahres musste Eleonora Abschied von ihrem Manfred nehmen. „Es ist sehr schwer, ja. Aber wir waren 68 Jahre lang verheiratet, haben uns immer geliebt und waren füreinander da. Für dieses Glück bin ich dankbar“, sagt sie. Und streicht sanft über das Portrait ihres Mannes.
Lebensbilder
18 große Holztafeln mit Fotos im Mittelschiff der Peterskirche. 20 weitere in den Seitengängen. Blicke in Gesichter, die von Not und Liebe, Glück und Unglück künden. Und so berührend die Schicksale sind, so bewegend war für viele der Protagonisten auch der Moment, in dem sie einen Abzug ihres Portraits in den Händen hielten. Julia Bodendieck erinnert sich an eine Bewohnerin ihres Hospizes, die lang auf ihr Bild schaute und schließlich sagte: „Oh, wie schön ich doch bin.“
Und sie nennt auch den Grund für solche Reaktionen. „Heute werden immer und überall Selfies gemacht. Doch diese Generation verfügt kaum über Bilder von sich selbst.“ Einen Fotografen aufzusuchen, war einst ein Luxus, den man sich leisten können musste. Zudem meist ein feierlicher Anlass, der Vorbereitung verlangte. Und Zeit. Stunden, die viele nicht übrig hatten, weil sie mit dem Bestehen des Alltags ausgelastet waren.

Nun ist Corina Ries zu ihnen gekommen. Hat zugehört, hingeschaut. Und Zeit mit ihnen verbracht. Und, wie sie verrät, viel gelacht.
Die Ausstellung „Gesichter einer Generation“ in der Peterskirche (Schletterstraße 5) kann bis zum 13. Februar kostenfrei zu folgenden Zeiten besichtigt werden: Montag bis Freitag: 9:00 – 18:00 Uhr, Sonntag: 15:00 – 17:00 Uhr.
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