„Liebe Fanatiker“ – das Buch des israelischen Schriftstellers und Friedensaktivisten Amos Oz (Link zur Buchbesprechung unter diesem Beitrag) - gab mir den freiwilligen Anstoß, mich im Vorfeld der Israel-Reise mit den politischen Dogmen der Gegenwart, den praktischen und schrecklichen Auswüchsen der Ideologien, der „-ismen“ unserer Zeit zu beschäftigen. Der Nahe Osten ist dafür geradezu ein Prototyp an Ideologie- und deren Erklärungsvielfalt.

Schon die unterschiedlichen Bezeichnungen für das kleine Land am Jordan stellen das permanente Konfliktpotenzial dar: Israel und Palästina sind neben der zentralen Rolle der dauernden Auseinandersetzung zwischen jüdisch-westlicher und arabisch-morgenländischer Kultur, zwischen Holocaust-Überleben und Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung nach 1945 ebenso ein religionspolitisches Spannungsfeld.

Es ist schwierig, da durchzublicken, in Israel Gerechtigkeit zu entdecken oder gar Wahrheit zu finden. Die Erklärungsmodelle der Geschichte sind wie die gegenwärtigen Erklärungs- bzw. Rechtfertigungsmuster oftmals diametral entgegengesetzt.

„Zurück zu den Wurzeln“ lautete der Wahlspruch der frühen Aufklärer im Renaissance-Zeitalter des späten Mittelalters. In der Hoffnung, in Mythen und Religionen die „Wahrheit“ der Erlösung von Unterdrückung und Ungerechtigkeit zu finden. Das von den Römern beherrschte Volk der Juden bringt im „Besatzungsgebiet“ vor etwa 2000 Jahren einen eigenartigen Befreier hervor.

Er redet von Vergebung, hat ein Herz für die Barmherzigen und predigt Frieden für die Sanftmütigen. Er spricht für die Schwachen, für die Wehrlosen, die Unterprivilegierten, die „Abgehängten“. Nicht für die Priesterschaft, die Schriftgelehrten, die sich mit den Besatzern irgendwie arrangiert haben, pragmatisch handeln, keine humanistische Vision haben. Dafür werden sie ihn bestrafen. Aber die Bestrafung der unmenschlichen Kreuzigung kehrt sich post mortem sozusagen in ihr Gegenteil um. Das Hinrichtungsgerät wird zum Symbol einer Befreiung, einer Erlösung, einer Hoffnung.

Schöne Geschichte. Die Realität vor den Tat-Orten sah und sieht meist anders aus. Die Kreuzfahrer wateten knietief im Jerusalemer Blut auf ihren „Missionarsreisen“ ins mittelalterliche Morgenland, „Hexen“ wurden „im Namen des Herrn“ verbrannt, für „Gott, Kaiser und Vaterland“ auf den Schlachtfeldern gestorben. Umso wichtiger nachzuschauen, wie es heute im Jahre 2018 an den mythologischen „Ur-Orten“ der Weltreligionen aussieht. Nicht ganz so vermessen, dachte ich, mal nach Christus schauen, ist schon anspruchsvoll, ja vermessen genug.

Bethlehem und Jerusalem. Geburts- und Sterbeort des „Messias“

Ein Muss, will man sich in die „Champions League“ der christlich-jüdischen Reliquienkultur begeben. Aus der „Geburtskirche“ falle ich gleich vor Panik rückwärts wieder hinaus. Massen von Menschen zwängen sich durch das Eingangsloch (Tür kann man es nicht nennen) in den Altarraum, um dann über eine Wendeltreppe in die Kellerräume der „Geburtsgrotte“ zu gelangen.

Gegen eine nicht geringe Gebühr bietet ein findiger „Guide“ das Vorbeischleusen an den drängelnden Massen an. Nichts für mich, es ist keine Soziophobie, nur Angst vor den ungeduldigen Menschen, die so ganz unchristlich in ihrem „weihevollen“ Verhalten dem Jesuskind nahe sein wollen.

Ich atme tief durch, als mir nach meiner Flucht aus der Kirche gegen 18 Uhr draußen die abendliche Sonne Bethlehems ins Gesicht blinzelt. Ich fühle mich befreit. Schaue auf eine Tafel gegenüber der Kirche („Jesus – The Prince of Peace“) und mir wird klar: Frieden, achtsamer Umgang miteinander, der sich im Vortritt-Lassen des anderen ausdrückt, den ich ja wie mich selbst lieben soll, kann sich nur im menschlichen Ausdruck zeigen, nicht indem ich einem magischen Loch folge, aus dem ein passionierter Säugling gekrochen sein soll.

Darüber gibt es an diesem Abend keine Zweifel mehr. Die bzw. andere kommen vielmehr beim genaueren Betrachten des gegenüberliegenden Tafeltransparentes. Da steht, dass das Wirken des Gottessohnes sich darin zeigt, auch für die Freiheit Palästinas zu sein. Folgt man ihm, müsste die Gerechtigkeit für alle gelten.

Klingt plausibel, ist wieder in der israelischen Praxis schwer umzusetzen. Hier stehen sich Anspruch und das Recht auf das Recht in zweierlei Gestalt gegenüber. (Auch hierzu später noch einmal mehr.) Jedenfalls: Bethlehem liegt im palästinensischen Westjordanland. Hatte ich beinahe vergessen.

Auf ins knapp 10 km entfernte Jerusalem

Die Grabeskirche in Jerusalem. Foto: Jens-Uwe Jopp
Die Grabeskirche in Jerusalem. Foto: Jens-Uwe Jopp

Für mich die Stadt der Städte. Jerusalem an der Grenze zur Westbank. Keine Metropole der Erde ist so oft zerstört und wiederaufgebaut worden in der Geschichte, seit sich Menschen irgendwo fest anzusiedeln begannen. Die Etymologie des Namens – im Arabischen „Al-Quds“ spricht von der „Heiligen Stadt“, im Hebräischen meint man ein „Shalom“ (Frieden) in der Deutung zu entdecken.

Kurz und gut, Jerusalems Status ist umstritten, nach wie vor, sieht man mal von den außenpolitischen Kapriolen Donald Trumps ab, sie widerrechtlich zur Hauptstadt Israels zu erklären. Ich finde, sie sollte international bleiben, niemandem und allen gehören. Eine Stadt wie ein Geschichtsmuseum, sie beherbergt zentrale Symbole aller abrahamitischen Religionen, die Klagemauer, den Felsendom und Al-Aqsa auf dem Tempelberg sowie die Grabeskirche Jesu. Und überall wird eifersüchtig und misstrauisch aufgepasst, dass nicht die „Falschen“ irgendetwas in ihre „richtigen“ Hände bekommen. Oder war es umgekehrt?

Beispiel gefällig? In besagter Grabeskirche in Jerusalem, wenn man die Leidensstationen (Via Dolorosa) des verurteilten Christus abgelaufen hat, muss ein muslimischer Beamter die Kirche auf- und wieder zuschließen, wenn die orthodoxen Religionsgemeinschaften (Armenier, Griechen, Äthiopier …) teilweise mit der Stoppuhr in der Hand über die vereinbarte Nähe zum Heiland an dessen unmittelbarem Ende vom Golgathaweg wachen. Sie sich schwer darüber einigen können, wer dann am Abend das Licht im Dunkeln der prachtvoll ausgestatteten Grabeskirche löschen darf. Ja, es ist wirklich so. Verrückt.

Fällt einem gleich beim Betreten der heiligen Stätte auf. Besonders gläubige Christen auf Knien streicheln und küssen den Stein, auf dem der Heiland verendete, an Hygienevorschriften mag man in diesem Augenblick nicht denken. In Jerusalem ist eben alles anders. Überall riecht es nach Rosenöl, was auf den Golgatha-Stein gekippt wird, Kerzen werden damit eingerieben, vermutlich, um sie zu weihen, um dann ein Stück des antirömischen Partisanen mit sich herumzutragen. Wie kann man nur so abergläubisch sein? Sich derartig vordrängeln mit den Ellenbogen?

Draußen auf dem Vorplatz marschiert mittlerweile irgendein wichtiger Patriarch ein. Ich werde an die Wand gedrängt, bekomme fast keine Luft mehr, so sehr „sorgen“ sich die „Christen“ aus aller Welt um ihren Nächsten. In Panik kralle ich mich an einem griechischen Christusanhänger fest, der mir versichert, ich müsste nur die nächsten 20 Minuten ruhig bleiben und durchhalten. Na prima.

Besonders gläubige Christen streicheln und küssen den Stein, auf dem der Heiland verendete. Foto: Jens-Uwe Jopp
Besonders gläubige Christen streicheln und küssen den Stein, auf dem der Heiland verendete. Foto: Jens-Uwe Jopp

Aber es gibt sie auch hier, Menschen mit mitmenschlichen Gefühlen, auch wenn man ans eigene Wohl und Wehe denkt. Die restlichen Teilnehmer der Prozession vor der Grabeskirche scheinen das anders zu betrachten. Eigentlich traurig: Will man dem Gottessohn nahe sein, scheint man seine Botschaft von Liebe und Frieden zu vergessen? Nur: Ist es bei uns so viel anders, wenn wir seine Geburt zu Weihnachten feiern? Fällt mir auch dazu ein, als ich wieder Luft bekomme. An einem Nachmittag in Jerusalem.

Teil 6 von Israel intensiv: Gegen das Vergessen in Yad Vaschem

Liebe Fanatiker: Drei Plädoyers von Amos Oz

Zur Reihe „Israel intensiv“: Jens-Uwe Jopp war 14 Tage auf einer ungewöhnlichen Reise in Israel, welche ihn in viele verschiedene Teile des Landes führte. Ziel und ein Höhepunkt der Reise war dabei auch Ismail Khatib zu treffen. Sein Sohn Ahmed Khatib war 2005 irrtümlicherweise von israelischen Soldaten erschossen worden, sein Vater gab daraufhin die Organe zur Transplantation an jüdische Kinder frei. Diese Geste erregte ein weltweites Interesse, die Dokumentation „Das Herz von Jenin“ (Trailer im Video) zeigt die Geschichte. Ismail Khatib ist heute weltweit bekannt und hat eine Organspendeplattform „Search of Life“ ins Leben gerufen.

Hier ist der mehrteilige Bericht von Jens-Uwe Jopp über Erlebnisse und Stationen unter anderem in Tel Aviv (Jaffa), Haifa, Qalanzawe (20 km östlich von Netanja), See Genezareth und Tabgha, Jenin im Westjordanland, Bethlehem (Westjordanland), Totes Meer, Jerusalem, Akko (eine alte Kreuzfahrerhauptstadt am Mittelmeer), Kapernaum (die „Petrusstadt“), Nazareth, Massada und Caesarea.

Zum Autor: Jens-Uwe Jopp ist Lehrer am Schiller Gymnasium. Ein ungewöhnlicher Leipziger Pädagoge für Deutsch und Geschichte, denn viele Leser kennen ihn auch als Autor der LEIPZIGER ZEITUNG oder Organisator der „Schiller Akademie“, wo er und seine Schüler unter anderem bereits mit Friedrich Schorlemmer über aktuelle Zeitfragen diskutierten.

Am 13. November 2018, ab 16 Uhr, findet diese übrigens erneut statt, dann mit einer Diskussionsrunde mit Dr. Gregor Gysi und einem Livestream auf L-IZ.de.

Israel intensiv: An der Judäischen Volksfront

Israel intensiv (4): An der Judäischen Volksfront

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