Mein bester Freund ist ja schon lange tot. Er starb vor so ziemlich genau 55 Jahren, natürlich an einem 1. April, was schon sonst. Und natürlich gleich an drei Todesursachen, wie es sich für einen Iren mit bizarrem Humor nun einmal gehört. Das hat zwar erst einmal nichts mit der deutschen Nudelsuppe zu tun. Aber wer „Der dritte Polizist“ gelesen hat, weiß, dass zwischen Ostdeutschland und der Irischen Republik nur ein dickes Nudelsuppenland liegt mit Leuten, die nicht mal eine eigene Geschichte haben.

Ein Thema, das Flann O’Brien nur zu vertraut war. Darüber hat er jede Menge geschrieben in seiner kleinen „Cruiskeen Lawn“-Kolumne in der „Irish Times“. So etwas gibt es bei uns gar nicht. Wer wird sich schon so ausgiebig mit den Narreteien der eigenen Landsleute beschäftigen, so ernst gar?Möglicherweise ist das auch nicht ratsam, weil man dabei immer einen gewissen Alkoholpegel braucht, sonst hält man’s nicht aus. Klar, der Alkohol hat Flann O’Brien am Ende auch geholt. So, wie er einen guten Iren nun mal holt, wenn die Zeit reif ist und eigentlich nichts mehr zu sagen.

Und ich kann mir schon gut vorstellen, was er da geschrieben hätte, wenn die Engländer angefangen hätten, nur noch irische Feiertage zu feiern. Haben die Engländer aber nicht gemacht, außer die, die den St. Patrick’s Day einfach zu unwiderstehlich fanden.

Aber wie ist das mit uns? Das fiel mir gestern geradezu vor die Füße. Auf die Füße. Platsch. Als hätte ich mal wieder nicht aufgepasst und wäre ganz gedankenabwesend durch eine selbstbeschäftigte Kuhherde gelaufen: Platsch.

Das Platsch aber waren lauter feierliche Ergüsse in Blättern und Kanälen. Die Bundesregierung (wer immer das eigentlich ist) habe beschlossen, den 13. August zum Trauertag zu erklären. Wegen des Mauerbaus 1961 in Ostberlin. Platsch.

Nicht dass man sich daran nicht erinnern darf. Darf man. Aber ganz bestimmt hatte nicht nur ich so ein seltsames „Ihr schon wieder“-Gefühl. Platsch. „Ihr mit eurer Geschichte.“

Denn eigentlich ist das unsere Geschichte. Und mit unsere meine ich: die von uns ostdeutschen Iren und Ostfriesen. Wir haben diese Mauer vor die Nase gesetzt bekommen. Und wir mussten das 28 Jahre lang aushalten. Und wir haben sie auch wieder umgeschmissen. Wir selbst. Niemand sonst. Die Sonntagsredner schon mal gar nicht.

Und dann schau ich in meinen Kalender und sehe: Er ist vollgestopft mit Feiertagen. Aber lauter Feiertagen, die eigentlich nur uns gehören, die aber die andern feiern, diese seltsamen Bewohner von Brobdingnag, die augenscheinlich keine eigene Geschichte haben. Ist wahrscheinlich auch so: Da drüben ist 70 Jahre lang nichts passiert. Aber gefeiert haben sie erst unseren 17. Juni, dann unseren 9. November und noch ein bisschen unseren 3. Oktober, damit die Spätzünder unter uns nicht mehr den 7. Oktober feiern.

Fragen Sie mal die Leute aus Brobdingnag, ob sie wissen, wann ihr Staat eigentlich gegründet wurde. Nein, es war nicht der 17. Juni. Es war der 23. Mai. Aber das muss ihnen schon damals peinlich gewesen sein. Anders kann ich mir nicht vorstellen, dass sie seitdem immer nur unsere Feiertage hier in Liliput klauen und feiern und dann solche schmalzigen Reden halten wie am Freitag wieder.

So bedeutungsgeschwängert, dass man das Gefühl nicht loswird, dass uns diese Leute geradezu beneiden darum, dass wir eine Geschichte hatten – und sie nicht. Sogar mit richtigen Finsterlingen und natürlich Mauer drumherum. Während da drüben in Brobdingnag alles so seinen Gang ging, so wie eine alte Stubenuhr, die vor sich hinschwingt und ab und zu die Zeit anzeigt.

Aber eben keine besondere Zeit. Nichts, was irgendjemanden dazu animiert hätte, eine Petition zu schreiben an den Hohen Rat mit der untertänigen Bitte, beispielsweise den 5. August zum Feiertag zu erklären.

Sagt Ihnen natürlich nichts. Schauen Sie selber nach. Geschichte kann man das ja nicht nennen, was da passiert ist. Eher so Durchgewurstel. Irgendwie den Tag rumbringen bis zum Feierabend. Und ansonsten lieber in den Urlaub fahren, als irgendwie Geschichte zu machen, dieses lästige Zeug.

Geschichte ist nämlich anstrengend. Dazu muss man sein trautes Heim verlassen. Meistens sogar zu Fuß.

Listige Zungen behaupten ja, die Strafe käme dann durch die Hintertür, also durch die geöffnete Mauer: Lauter blasse kleine Leute aus Liliput, die wissen, wie man das hinkriegt mit dem Geschichtemachen. Wir haben eine. Und alle reden drüber. Und so langsam habe ich den Eindruck, sie beneiden uns darum. Weil sie das nie selbst hingekommen haben.

Aber zugeben würden sie es nie. Also erklären sie unsere Feiertage zu ihren Feiertagen, halten schmalzige Reden, tun bekümmert und vergessen uns einfach einzuladen. Oder gab es wieder ein paar Quoteniren auf der Party? Die dann wenigstens ein Freibier bekommen haben?

Ich weiß es nicht. Mich haben sie nicht eingeladen. Das haben sie noch nie getan, seit wir zuletzt Geschichte gemacht haben. Sie nehmen uns das wahrscheinlich übel. Wir haben sie erschreckt. Seitdem müssen sie ihre Beruhigungspillen nehmen und uns aushalten. Wo wir doch so herumzappeln und immerzu gucken, also wollten wir gleich wieder Geschichte machen. Werden wir aber nicht. Wir sind ja gerade dabei, auch so richtige Brobdingnager zu werden. Und aus der Geschichte zu verschwinden, tschüss und so.

Aber an einem 13. August wäre ich nie auf die Idee gekommen, zu trauern. Warum auch? Für gewöhnlich ist das der Tag, an dem ich frühmorgendlich herumstreife und eine schöne, schlecht bewachte Mauer suche. Seit jüngeren Zeiten auch gern mit Begleithubschrauber der Bundespolizei. Um dann, wenn die da oben denken, dass ich ganz unschuldig bin mit meinem Rucksack und der hübschen Skimaske, in fetten roten Lettern hinzuschreiben: DIE MAUER MUSS WEG!

Meist kommt am nächsten Tag dann schon eine schlecht bezahlte Putzkolonne und wischt alles wieder weg. Aber Sie wissen ja, wie wir sind, wir Liliputaner. Wir geben einfach nicht auf. Mauer bleibt Mauer.

Und wenn ein 13. August zum Beschriften nicht reicht, erfinden wir uns noch ein paar. Wir wissen nämlich, wie man Geschichte macht.

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