Natürlich ist die Zeit, als es für fast 100.000 Leipziger hieß "Koffer packen, ab gen Westen!" zum Glück vorbei. In den Jahren 1989 bis 1998 ist Leipzig regelrecht ausgeblutet. Wer immer die Chance auf einen Arbeitsplatz im Westen der Bundesrepublik sah, machte sich auf und davon. Seit 1999 wächst die Bevölkerung Leipzigs wieder. Und dass Leipzigs Statistiker jetzt den Westen besonders beleuchten, hat mit dem eigenen, dem Leipziger Westen zu tun.

Denn in den letzten Jahren haben sich die Ortsteile im Westen der Stadt zu den neuen Wachstumslokomotiven entwickelt: Plagwitz schon ab dem Jahr 2000, als es Teil des Leipziger EXPO-Projektes war. Anfangs noch zögerlich. Denn im Jahr 2000 gab es auch in den frühen Pioniervierteln der neuen Stadtentwicklung – der Südvorstadt, Connewitz, Gohlis-Süd und Waldstraßenviertel, noch Platz. Mittlerweile hunderte Karten aus dem Amt für Statistik und Wahlen zeigen, wie Leipzig anfangs erst in diesen zentrumsnahen urbanen Wohnquartieren wuchs, wie hier die Sanierung voranschritt und sich vor allem junge, gut gebildete Menschen ansiedelten und Kinder bekamen und den Sozialbürgermeister unter Zugzwang brachten.

Was bis 2005 – so lang ist das ja noch gar nicht her – kaum einer in der Leipziger Stadtverwaltung so richtig ernst nahm. Im Gegenteil: Der Sozialbürgermeister musste sich noch Monat für Monat mit der Landesdirektion darum prügeln, dass er nicht alle Schulen schließen musste, die der Freistaat auf die Schließliste gesetzt hatte. Kaum vorstellbar im Jahr 2013: Noch 2006 musste Leipzig Schulen schließen, weil das Land seine gnädige “Mitwirkung” entzog.

Aber dann passierte etwas, was die Verantwortlichen bis heute überfordert: Nicht nur die Geburtenrate zog an, auch der Zuzug nach Leipzig verstärkte sich. Als der Leipziger Süden und das Waldstraßenviertel und Schleußig volle Belegung meldeten, wichen die Pioniere der Leipziger Stadtteilbesiedlung – junge Kreative und Studierende, wie wir heute wissen – auf die nächst attraktiven Wohnviertel aus. Das war anfangs natürlich Plagwitz. In Plagwitz wächst die Wohnbevölkerung seit 2000 kontinuierlich. Ab 2007 ungefähr drängte der Tross weiter ins nächste Gründerzeitgebiet – nach Lindenau. Womit dann auch das Amt für Stadterneuerung und Wohnungsbauförderung die Bestätigung bekam, hier das richtige Sanierungsgebiet gepäppelt zu haben.

Seit zwei Jahren hat dieser Besiedlungstreck nun auch Altlindenau, Neulindenau und Leutzsch erreicht. Die fünf Ortsteile wachsen nun selbst für Leipziger Verhältnisse überdurchschnittlich. Und weil auch das wieder junge Leute sind, heißt das: die Geburtenrate liegt deutlich überm Leipziger Schnitt. Die Jugendquote ist noch im Leipziger Durchschnitt, dafür ist die Altenquote deutlich niedriger. Und Michael Schwesinger sind die Themen ausgegangen. Noch vor fünf Jahren konnte der Autor die tristen, von Säufern bevölkerten Straßen des Leipziger Westens erkunden – die Tristesse ist einem geschäftigen Leben gewichen.

In Plagwitz, Lindenau und Altlindenau wohnen die meisten Einwohner keine fünf Jahre vor Ort. In Leutzsch und Neulindenau beginnt dieser Generationenwechsel gerade. Was selbst die Leipziger Statistiker erstaunt, denn gerade Neulindenau ist von großer Blockbebauung der DDR-Zeit geprägt. Eigentlich keine typische Wohnbebauung, die von Leipziger Wohn-Pionieren bevorzugt wird.

Aber hinter dem Treck gen Westen steckt auch Druck. In Leipzig-Mitte und Leipzig-Süd wird der Wohnungsmarkt verstärkt über steigende Mieten in besonders attraktiven Lagen ausgetragen. Besser verdienende Haushalte verdrängen die weniger betuchten. Und sie verdrängen auch – siehe Windmühlenstraße – die vorher tapfer dort ausharrenden Pioniere. Die vergeblich nach Hilfe durch die Stadt rufen. Die Stadt tat sich schwerhörig. Was auch daran liegt, dass sie bis heute keine Entwicklungskonzepte für den Ring der alten Vorstädte hat. Nirgendwo passiert Wiederbesiedlung chaotischer.

Der Wilhelm-Leuschner-Platz mit den völlig unstrukturierten Visionen zu Platzgestaltung, Denkmal und Bebauung ist das beste Beispiel dafür.Gleich fünf AutorInnen haben sich im Quartalsbericht Nr. 1/2013 mit der veränderten Bevölkerungsstruktur im Leipziger Westen beschäftigt, mit dem rapiden Zunehmen des Anteils der unter 40-Jährigen und vor allem den Wanderungsrichtungen. Woher kommen die jungen Neusiedler? – Ein Teil kam durchaus aus jenen Leipziger Stadtbezirken, in denen mittlerweile kaum noch eine vernünftige Wohnung für eine junge Familie zu finden ist – Südvorstadt und Zentrum-West zum Beispiel. Aber noch viel stärker ist der Zuzug aus Schleußig und Kleinzschocher.

Am stärksten profitiert der Leipziger Westen von Zuzügen nach Leipzig von außerhalb der Stadtgrenzen. Heißt: Junge Leute, die in Leipzig einen Startplatz suchen, sind in den letzten Jahren verstärkt im Leipziger Westen gelandet. Und sie scheinen sich wohl zu fühlen. Die Lebenszufriedenheit, die hier selbst nach 2000 noch eher auf dem Weg in den Keller war, übertrifft jetzt teilweise sogar die in der Gesamtstadt – in Plagwitz auf jeden Fall. Und da junge Familien seit ein paar Jahren auch wieder verstärkt am Aufschwung am Arbeitsmarkt partizipieren, heißt das auch für die Durchschnittseinkommen insbesondere der Plagwitzer und Leutzscher, dass sie mittlerweile überm Stadtdurchschnitt liegen. Was nicht heißt, dass sie ganz dicke Geldbörsen haben. Aber Durchschnittsnettoeinkommen über 1.100 Euro im Monat sind für Leipzig überdurchschnittlich.

Und das begrenzt logischerweise auch den Spielraum für Mietpreise. Die sind zwar im Stadtdurchschnitt 2012 erstmals etwas deutlicher gestiegen – von 5,00 auf 5,12 Euro. Aber Preistreiber sind dabei fast ausschließlich Wohnlagen in Zentrumsnähe. Plagwitz ist jetzt mit 5,10 Euro im Westen der Spitzenreiter, was aber auch darauf hindeutet, dass Plagwitz mittlerweile ähnlich “vollbelegt” ist wie Leutzsch. In Lindenau liegen die Mieten eher um die 4,80 Euro je Quadratmeter.

Ausnahme Neulindenau. Aber da fallen die Mieten seit 2006. Vielleicht auch, weil ein ganz Teil Neulindenauer nicht mehr bereit waren, Mieten von 5,20 Euro und höher zu zahlen. Viele von ihnen haben augenscheinlich ihre Sachen gepackt und sind dann lieber gleich nach Grünau gezogen.

Bleibt noch die Frage: Was ist mit den “alten” Wohnbevölkerungen vor Ort passiert? Wurden sie verdrängt? – Wahrscheinlich nicht. Immerhin gehörten viele dieser “alten” Bewohner zu den eher benachteiligten Bevölkerungsgruppen in Leipzig – betroffen von hoher Arbeitslosigkeit und entsprechend hoher Bedürftigkeit. Die nach wie vor etwas erhöhten Quoten für SGB II und Sozialgeld (für die Kinder) im Leipziger Westen deuten darauf hin, dass die Betroffenen noch in ihren Ortsteilen wohnen. Die Arbeitslosenzahlen sinken ungefähr parallel mit denen im ganzen Stadtgebiet. Die Beschäftigungsquote ist leicht unterdurchschnittlich. Dafür ist eine Quote deutlich überm Durchschnitt: die der Selbstständigen. Dass es viele Kreative sind, die den Westen als Wohn- und Arbeitsort für sich entdeckt haben, ist nun also auch statistisch greifbar.

Und bei den Wahlen merkt man’s auch. Auch diesen Effekt kennt man aus den frühen Leipziger Pioniervierteln im Süden: Der Anteil der CDU-Wähler sinkt – besonders stark in Plagwitz und Lindenau. Dafür bekommen die Grünen deutlich mehr Zuspruch. Bei den Oberbürgermeisterwahlen 2013 war es sogar richtig auffällig, dass die Grünen besonders starke Ergebnisse in Lindenau, Plagwitz und Altlindenau einfahren konnten.

Der Westen verändert sich, auch wenn er noch einige seiner Probleme mit sich schleppt. Was auch daran liegt, dass Stadtpolitik auf derart schnelle Veränderungen nicht schnell genug reagieren kann – zum Beispiel mit dem Bau von Kitas und Schulen. Aber da geht es dem Leipziger Osten ganz ähnlich.

Mehr dazu morgen an dieser Stelle.

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