Leipzig wächst. Nach München ist die Elstermetropole mit 10.000 ZuzüglerInnen pro Jahr die deutsche Stadt, die das zweitstärkste Einwohnerwachstum zu verzeichnen hat. Der aktuelle Wohnungsleerstand dürfte bereits auf unter 25.000 Wohneinheiten gesunken sein, konstatiert das Netzwerk "Stadt für alle" im Mai dieses Jahres. Bezieht man die große Zahl nicht marktaktiver Wohnungen mit ein, so komme man nur noch auf eine Zahl von 12.000 bis 15.000 leerstehenden, marktaktiven Wohnungen.

Rund 2-3 Prozent, entsprechend 7.000 bis 10.000 Wohnungen, werden dauerhaft als Umzugsreserve, gern auch strategischer Leerstand oder Fluktuationsreserve genannt, benötigt. Bleibt das Bevölkerungswachstum mit ca. 10.000 ZuwandererInnen pro Jahr weiterhin auf dem Niveau der letzten drei Jahre, dann ist – ein gleichbleibendes Bau- und Sanierungsniveau vorausgesetzt – bereits in zwei bis drei Jahren mit einem angespannten Wohnungsmarkt zu rechnen.

Das hat stadtpolitische Auswirkungen, denen sich die MacherInnen des neuen wohnungspolitischen Konzepts der Stadt Leipzig werden stellen müssen.

Aber auch für die in Leipzig gängige Praxis der Zwischennutzung bedeutet diese Entwicklung das drohende Aus. Nicht nur Wohnraum wird knapp, auch die zwischengenutzten Flächen erwecken, durch die im Zuge der kreativen Belebung erfolgten Aufwertungen, bei den Eigentümern Begehrlichkeiten. Zuletzt ersichtlich am Beispiel des Nachbarschaftsgartens in Lindenau. Zeit, über Potentiale und Gefahren des Zwischennutzungskonzepts nachzudenken.

Das dachten sich auch Roman Grabolle und Michael Stellmacher vom Haus und WagenRat e. V., einem Verein selbstorganisierter Räume. In einem Vortrag am 13. Mai stellten sie ihre Überlegungen der Öffentlichkeit vor. Für Grabolle und Stellmacher ist die Zwischennutzung, so wie sie bisher gehandhabt wurde, selbst mitverantwortlich für die Entwicklungen, die gegenwärtig nichts Gutes versprechen. Zwischennutzung zielt für sie auf die erneute Wiederverwertung einer noch nicht verwertbaren Immobilie oder Brachfläche hin und ist zeitlich begrenzt. Damit handelt es sich nicht um eine Nachnutzung, sondern das Konzept ist immer schon in Hinblick auf eine neuerliche Nutzung hin konzipiert.
Das Versprechen, das dieses Konzept suggeriert – Eröffnung neuer Räume, Kreativität, soziale Potentiale und vor allem bezahlbarer Wohnraum – sind Teil des Mythos, der gern verwendet wird, um im Standortwettbewerb ein fein ersonnenes Image zu präsentieren und medial konkurrenzfähig zu sein. Das, was hier positiv der Darstellung eines idealen Raums der Selbstentfaltung dient, entpuppt sich am Ende als dessen krasses Gegenteil. So wird ein bestimmtes Milieu ausgenutzt, um beispielsweise Häuser instand zu halten, jedoch bleibt ihnen am Ende nicht viel von dem, was sie geschaffen haben. Erwerben Nutzer allerdings ihren Raum käuflich oder finden Lösungen mit den Eigentümern, ist es möglich, die Nutzung zu verstetigen.

Auch in Bezug auf die Mieterrechte gibt es einige Defizite. Da es sich oft nur um Nutzerverträge, nicht um Mietverträge handelt, greift hier auch kein Mietrecht. Die Nutzer sind abhängig vom guten Willen des Eigentümers und von der urbanen Entwicklung, deren Träger sie jedoch selber sind. Wer hier mit der These der Selbstausbeutung ernsthaft argumentiert und die Schuld der Verdrängung den Akteuren selbst zuschiebt, erzählt nur die halbe Wahrheit.

Das eigentliche Problem ist in diesem Zusammenhang das Verwertungsinteresse und die Renditeerwartung, die am Ende bezahlbaren Wohnraum verhindern. Gleichwohl fehlt an manchen Stellen ein Bewusstsein dafür, dass die prekären Bedingungen keine gute Gabe von oben ist. Zwischennutzung verweist auf die prekären Lebensbedingungen der Akteure selbst, die in der Notlage die Notwendigkeit von zwischengenutzten Räumen annehmen müssen. Oft schlicht, weil es keine Alternative gibt – vor allem im Wohnungssektor.

Gegenüber 3VIERTEL führte Michael Stellmacher vom Haus und WagenRat e. V. auf Nachfrage hin aus: “In der Situation eines entspannten Immobilienmarktes, wie sie Leipzig lange hatte, kann die Zwischennutzung von Häusern ihr Versprechen (“Kreativität, Experimentierfeld, Selbstbestimmung”) einhalten, und die Chance auf Verstetigung (z. B. in Form der Übernahme als selbstverwaltetes Haus durch die NutzerInnen) bieten. Wenn der Markt aber anzieht, dann mündet das Modell “Zwischennutzung” fast zwangsläufig in’zweierlei: immer kürzere Zwischennutzungszyklen mit immer prekäreren Rahmenbedingungen. Diese Entwicklung lässt sich in den Niederlanden sehr gut beobachten.”

Für eine Nutzung als Kreativort hieße das, dass die Nutzer darauf angewiesen sind, viel stärker für den Verkauf zu produzieren: ” … die Zwischennutzung wird zum Innovationsmotor neoliberalen Wirtschaftens. Nichtgewinnorientierte Nutzungen, wie zum Beispiel Fahrradselbsthilfewerkstätten, haben dann nur noch wenig Chancen. Für eine Zwischennutzung als Wohnraum heißt das, dass sich hier ein “dritter Wohnungsmarkt” wie in den Niederlanden etabliert, der bestehende Mieterrechte massiv unterläuft und der Prekarisierung weiter Vorschub leistet”, so Stellmacher.

Bezogen auf die Marktdynamik wird hierbei allerdings vergessen, dass Zwischennutzung selbst zur Aufwertung führt und die Vermarktungsinteressen ehemals marktunattraktiver Räume befördert – also eine Dynamik mit sich bringt, die, wenn sie nicht mitgedacht wird, dazu führt, dass Zwischennutzung sich selbst zerstört. Die logische Schlussfolgerung: Am Ende muss man mit Zwischennutzung über Zwischennutzung hinauskommen können.

Am Beispiel des niederländischen Unternehmens Camelot zeigt sich in erschreckender Weise, dass Zwischennutzung selber zum Markt geworden ist, zum Experimentierfeld neoliberalen Wirtschaftens. In diesen Fällen geht es mehr um Leerstandsmanagement, als um die Erschließung von selbstverwaltetem Raum.

Agenturen wie Camelot oder Alvast sind mit dafür verantwortlich, dass Wohnen zum Job geworden ist, meinen Tino Buchholz und Tobias Müller in einem Artikel der “Jungle World” vom Mai 2012. Das Konzept der Hauswächter, die für die Bewachung von Immobilien bezahlt wurden, hat sich in sein Gegenteil verkehrt. Heute gibt es lange Wartelisten von Menschen, die für ihre Funktion als bewachender Bewohner bezahlen wollen. Ebenso bekommt die Agentur Geld von den Eigentümern – ein doppeltes Geschäft mit hoher Gewinnerwartung. Und das alles zu Lasten der Mieterrechte, welche zumeist freiwillig abgeben werden. So umfasst der Regelkatalog beispielsweise das Verbot von Kindern, Partys und Haustieren. Zusammenwohnen und Urlaub sind nur nach Absprache möglich. Ein direkter Kontakt zum Eigentümer ist nicht gestattet. Auch gegenüber den Medien sind jegliche Meinungsäußerungen zu den Wohnverhältnissen untersagt.

“Auf angespannten Wohnungsmärkten wie in London, Amsterdam und Düsseldorf leisten die Bewohner bereits mietähnliche Zahlungen. So hat sich in den vergangenen Jahren neben Eigentum und Miete ein dritter Wohnungsmarkt etabliert,” heißt es im Artikel von Buchholz und Müller. Mittlerweile expandieren diese Unternehmen und haben erste Dependancen in Deutschland eröffnet.

Auch in Leipzig war Zwischennutzung nur als zeitlich begrenzte Nutzung geplant. Unter den entspannten Immobilienmarktbedingungen entwickelten sich aber nichtintendierte Nebeneffekte (nämlich die Schaffung experimenteller Nutzungen und günstigen Wohnens), die den allmählich schwindenden Mythos der reinen Zwischennutzung ausmachen. Wenn es gelingt, dauerhafte Formen dafür zu finden, liegt hier ein gesellschaftliches Potential. Wer aber an der Zwischennutzung als Konzept festhält, arbeitet daran, diese Formen nur im Hinblick auf ihre Verwertung zu erschließen. Die sichtbaren Folgen: Stadtteilaufwertung und City-Imagemarketing, mit der Folge einer Verdrängung nicht zahlungskräftiger Nutzer und nichtgewinnorientierter Nutzungen. Ist man damit einmal in der Stadt herum, schließt sich der Kreis, nach dem Verdrängungsrondell beginnen die Preise zu steigen.

Als Teil des Stadtumbaus ist die Zwischennutzung vor allem in Leipzig ein “Erfolgsmodell” und als Motor der Reurbanisierung, mit all seinen guten und weniger guten Folgen, anzusehen. Die Weststadt ist das Musterbeispiel dieser Verquickung von Stadtumbau und Zwischennutzung. Der Osten wird folgen. Der Stadtpolitik obliegt es, Mittel und Wege zu finden, um Durchmischung zu erhalten und günstigen Wohnbestand zu sichern. Tut sie dies nicht, hat sie auf dem Rücken urbaner Pioniere und zu dessen Lasten Hypezig zu günstig erkauft. Pioniere sind im militärischen Bereich der Teil des Heeres, der die Bewegung der eigenen Truppen fördert und die Bewegung des Gegners hemmt. Bisher haben die urbanen Pioniere nur ersteres getan.

Was bleibt am Ende? Zwischennutzung kann unter bestimmten Voraussetzungen die Versprechen, die sie allzu oft nach anfänglicher Erfüllung dann doch vorenthält, realisieren. Dafür bedarf es allerdings rechtlicher Grundlagen, die zu klären sind. Ansonsten ist das Zwischennutzungskonzept selbst eine Ausbeutung, täuscht Freiheit und Kreativität vor und verkauft den Mangel an bezahlbarem Wohnraum und das Versagen der Politik als Erfolg.

Die Instandbesetzer sollten beispielsweise ein Vorkaufsrecht auf den selbst geschaffenen Raum haben, ohne dessen Existenz die Aufwertung gar nicht hätte stattfinden können. Des Weiteren müssen die Mieterrechte gestärkt werden.

Dafür sind vernünftige Mietverträge und ein Bewusstsein für die eigenen Rechte unabdingbar. Der Mythos von der segensreichen Zwischennutzung muss durch die Analyse der Möglichkeiten und die Vergegenwärtigung der Begrenzungen des Begriffs entzaubert werden, da ansonsten das Rad der Wiederholung weiter rollt und alles mal wieder bleibt, wie es ist.

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