Ängste, manchmal auch Vorurteile und Sorgen treiben die Menschen derzeit im Norden von Leipzig um. Nicht alle, aber doch einige vermuten am Abend des 10. September bei der städtischen Infoveranstaltung eine sich verschlechternde Sicherheitslage im Gewerbe- und Wohngebiet, andere fragen sich, ist es nun zu teuer oder eine zu billige Lösung im ehemaligen "Signal Iduna"-Haus an der Zschortauer, Ecke Essener Straße eine Asylunterkunft einzurichten.

Andere fragen sich auch, wie man eigentlich in einem Gebäude leben soll, wo es kaum Freiflächen in der Nähe oder Spielplätze für die Kinder gibt. Und vielleicht auch, was man als Anwohner tun kann, um eine Art Willkommen zu gestalten.

Dass Flüchtlinge nach dem sogenannten “Königsteiner Schlüssel” anhand der Bevölkerungszahlen und dem Steueraufkommen auf Länder und Kommunen verteilt werden, scheinen viele am Abend des 10. September nicht zu wissen. “5,24 Prozent aller ankommenden Flüchtlinge muss Sachsen aufnehmen. Und innerhalb von Sachsen werden die Flüchtlinge dann ebenso verteilt,” so Sozialamtschefin Kador-Probst. Möchten die anwesenden Gewerbetreibenden also die Flüchtlingszahlen in Leipzig senken, wäre eine durch einen anwesenden Gewerbetreibenden angebotene Geschäftsaufgabe ein Mittel, um vielleicht einen oder zwei Flüchtlinge weniger in Leipzig zu begrüßen. Sinnvoll? Eher nicht. Skurril dennoch die Situation, als der Vorschlag des Gewerbetreibenden Applaus bekam.

Ebenso wenig bekannt ist vielen, dass der Jahresetat Leipzigs mit rund 1,3 Milliarden jährlich 1.000 Mal so hoch wie dieser Einzelposten ist. Eine Unkenntnis, welche die Summe von 1,3 Millionen für die Zschortauer Straße mächtig und das Thema “Flüchtlinge in Leipzig” teuer wirken lässt. Gesamt sieht die Eil-Vorlage der Verwaltung an den Stadtrat Mehrkosten, jedoch nicht die Bereitstellung von zusätzlichen 1,3 Millionen Euro vor, sondern 697.900 Euro jährlichen Mehraufwand ab 2015. Doch die knapp zwei Stunden am 10. September scheinen zu knapp bemessen, um wirklich mehr als die ersten Eckpunkte zu klären.

Aus verschiedenen Gründen fallen, in der Abstimmungsvorlage berechnet, folgende Kosten für andere Planungen nicht mehr an. So werde die Einrichtung von Flüchtlingsunterkünften Am langen Teiche 17, wegen Unwirtschaftlichkeit aufgrund gestiegener Investitionskosten, in der Pögnerstraße 14 wegen des Einspruchs des Landeskriminalamtes (LKA) und der Theresienstraße 14 wegen der Veräußerung des Gebäudes durch den Eigentümer nicht weiter verfolgt. Die frei werdenden Gelder können so in andere Unterkunftsplanungen wie beispielsweise der Zschortauer Straße fließen.

Am 17. September soll darüber im Stadtrat abgestimmt werden, in der dafür notwendigen Eilvorlage an die Stadträte heißt es unter “Folgen bei Nichtbeschluss: Der Bedarf an erforderlichen Kapazitäten für die Aufnahme und Unterbringung asylsuchender Menschen übersteigt trotz großer Anstrengungen die derzeit vorhandenen Plätze. Bei der Unterbringung von Flüchtlingen handelt es sich um eine weisungsgebundene Pflichtaufgabe, deren Erfüllung nicht im Ermessen der Stadt Leipzig liegt. Es ist davon auszugehen, dass die Zentrale Aufnahmebehörde in Chemnitz ab September zwangsweise Flüchtlinge nach Leipzig zuweist, auch wenn keine entsprechenden Kapazitäten vorhanden sind.”

Pflichtaufgabe heißt – es gibt kein Für und Wider, es ist umzusetzen. Natürlich nicht ohne Diskussionen zwischen den Kommunen und dem Land Sachsen – bereits 2013 gab es einen Sonderzuschuss von 15 Millionen Euro zur Unterbringung der ansteigenden Zahlen ab Oktober des letzten Jahres. Der Trend ist ungebrochen, weitere Verhandlungen dürften folgen, wenn die neue Regierungskoalition an die Arbeit geht. Dass Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung in der Sondierungsgruppe der SPD sitzt, könnte ein erstes Zeichen dafür sein, dass in Dresden zukünftig neue Entwicklungen gerade im Wachstumsmotor Leipzig gesehen werden.

Denn längst fährt Leipzig in vielen Ressorts in schwerem Gewässer. Hunderte Millionen für Schul- und Kitabauten drücken ebenso wie die begleitenden Wachstumsschmerzen einer Stadt, welche derzeit Jahr um Jahr bei rund 40.000 Zuzüglern und 30.000 Wegziehenden um rund 10.000 Menschen aus Sachsen und ganz Deutschland wächst.

Und es taucht ein weiteres Wort auf, was beim Informationsabend im Brockhausgymnasium die Meisten umtreibt: das Wörtchen “Sicherheit” – ebenfalls nicht zu trennen vom Thema Geld: “Um die Aufnahmeverpflichtung in 2014 wenigstens teilweise zu erfüllen und damit eine bevorstehende Störung der öffentlichen Sicherheit abzuwenden, ist die Einrichtung der Notunterkunft im beschriebenen zeitlichen Rahmen dringend erforderlich”, befasst sich auch die Verwaltungsvorlage an den Stadtrat mit dieser Frage. Allerdings ein Hinweis, dass es ohne die Notunterkunft in der Zschortauer zu gravierenden Engpässen in der Unterbringung kommen könnte.

Alternativen scheinen also derzeit kaum vorhanden – es sei denn, wie auch am Informationsabend angesprochen – man möchte auch in Leipzig Zelte auf dem Marktplatz errichten.

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Überraschend für einige ist am 10. September im Saal des Brockhausgymnasiums auch, dass sich Asylbewerber frei in Leipzig bewegen können. Offenbar ist manchen nicht klar, wen die ab November im Gebäude sitzende Sicherheitsfirma und die Polizei wirklich beschützen – die Bewohner vor den Flüchtlingen oder die Flüchtlinge vor radikalen Übergriffen? Martina Kador-Probst zum Thema Sicherheit: “Sie können sich jederzeit an den Wachschutz am Haupteingang an der Essener Straße wenden, wenn es Probleme geben sollte.” Die Erfahrungen an anderen Unterbringungen und der Notunterkunft im ehemaligen Fechnergymnasium an der Löbauerstraße in Schönefeld 2013 waren jedoch andere.

Was Kador-Probst lieber nicht ganz so laut sagen möchte angesichts einiger kleiner Gruppen im Saal: Der schlimmste Rummel um das Thema Flüchtlingsunterbringung wurde eher von Rechtsradikalen in Schönefeld veranstaltet, als sie im Winter 2013 mit Fackeln vor der Notunterkunft für Familien mit rund 50 Kindern auftauchten. Und auf den erbitterten Widerstand der Kirchen und Vereine des Stadtteils ebenso trafen, wie auf eine knapp 1.000 Menschen starke linke Gegendemonstration.

Was natürlich auch einige Anwohner für die Zschortauer Straße befürchten und sich der Höhe des Zauns und die nächtliche Bestreifung rings um die Immobilie erkundigen. Doch dies allein wird nicht viel helfen, wie Sonja Brogiato, Sprecherin des Flüchtlingsrat Leipzig e.V., am Abend betont. “Sie können ihre Energie bezüglich der finanziellen Fragen doch auch dahin richten, wo sie hingehört. Wenden sie sich doch mal an den Freistaat und den Bund mit der Bitte, hier die Kommunen nicht allein zu lassen. Alles worüber wir hier sprechen, sind Bundes- und Landesangelegenheiten, die Kommune ist verpflichtet, dies umzusetzen.”

Aus ihrer täglichen Arbeit weiß Brogiato, dass es auch zu Reibungen kommen kann, vor allem, wenn es sich um größere Gruppen handelt. Wichtiger sei es aber, sich mit dem Thema wirklich zu befassen, weil sonst die Bedenken oder Ängste nie abgebaut werden können. Gegen Ende der Veranstaltung, auf welcher auch ein Mitglied der Schönefelder Willkommensinitiative positive Eindrücke um die Notunterkunft an der Löbauer Straße schilderte, bat die Sprecherin des Flüchtlingsrates um mehr Hinwendung zum eigentlichen Thema. “Am 21. September beginnen die ‘Interkulturellen Wochen’ in Leipzig, da gibt es unzählige Gelegenheiten auch zur Begegnung mit anderen Menschen – gehen Sie hin, informieren Sie sich. Da können Sie bereits vor dem November Flüchtlinge kennenlernen und selbst sehen, was es bedeutet, welche Schicksale darunter sind. Bitte nutzen Sie diese Gelegenheit!”

Darüber hinaus könne man jederzeit auch Pate werden, alle Informationen dazu fänden sich auf der Internetseite des Flüchtlingsrates (und auf L-IZ.de, siehe graue Box).

Es ist frisch, als sich nach Ende der Veranstaltung teils gestikulierende Gruppen auf dem Schulhof wiederfinden. Die meisten strömen teils kopfschüttelnd davon, andere haben Gesprächsbedarf. Wie Annett Baar von der Bürgerinitiative Wahren. Seit den Diskussionen, welche sich um die Asylbewerberunterkunft in der Pittlerstraße entsponnen hatten, hat sie das Thema des Umgangs der Stadt und der Menschen mit Flüchtlingen nicht mehr losgelassen. Sie hat es in etwas gedreht, was Sonja Brogiato noch eben forderte. Regelmäßig schaut sie in der Pittlerstraße vorbei, hilft, wenn sie kann und schildert, wie sich die Situation nach den Demonstrationen von Neonazis und linkem Gegenprotest längst beruhigt hat. Doch auch der Alltag ist nicht immer leicht im Haus mit den derzeit 36 Flüchtlingen in Wahren.

L-IZ.de hat sie interviewt. Hier ist das Ergebnis:
Interkulturelle Woche in Leipzig 21. September bis zum 5. Oktober 2014 (Programm zum Download)

www.leipzig.de/jugend-familie-und-soziales/auslaender-und-migranten/migration-und-integration/interkulturelles-leipzig/interkulturelle-wochen

Der Flüchtlingsrat Leipzig (ua. mit dem Patenprogramm)

www.fluechtlingsrat-lpz.org

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