Auch Leipziger Mieter sind ja mittlerweile schreckgewohnt. Alle Nase lang beschließt irgendein hohes Gremium, dass ihnen noch tiefer und noch tiefer in die Tasche gegriffen werden darf. Mal ist es ein Gesetz, das ihnen die Stromkosten erhöht, mal ist es - wie gestern wieder - eine Bundestagsmehrheit, die Mietsteigerungen Türen und Tore öffnet ohne Konzept dahinter. Noch sind die Mietpreise in Leipzig relativ stabil.

Anders als andernorts, wo längst Wohnungsmangel herrscht und auch Miethäuser zu Spekulationsobjekten werden. Höhere Mieten vertreiben nach und nach das ärmere Publikum aus Straße und Stadtteil. Gentrifizierung nennt man das. Leipzig erlebt das bislang noch auf einem recht bescheidenen Niveau. Noch ist Platz. Noch schätzt die Stadtverwaltung, dass es rund 30.000 leerstehende Wohnungen gibt in der Stadt. Genaueres wird man vielleicht mit der Auswertung des Zensus 2011 im Mai 2013 erfahren.

Ein ganzes Kapitel im neuen Quartalsbericht 3/2012 beleuchtet den Wohnungsbau in Leipzig etwas näher. Der sich – weil noch nicht wie in München und anderswo Wohnungsnot herrscht – auf recht niedrigem Niveau bewegt. 431 fertiggestellte Wohnungen im Jahr 2011, 463 im Jahr 2010 – das ist eher gar nichts. Es sind fast alles Wohnungen in Einfamilienhäusern, Stadt- und Reihenhäusern. Häuser für Leipziger, die sich endlich so weit frei geschwommen haben, dass sie sich ein eigenes Häuschen in einem attraktiven Ortsteil leisten können. Ganz vorneweg: Gohlis-Süd, Engelsdorf, Musikviertel und Leutzsch.

Nur zum Vergleich: Zum Jahresende 2011 gab es in Leipzig 316.643 Wohnungen. Würde auch nur 1 Prozent davon regelmäßig neu gebaut, was der Haltbarkeitsdauer von 100 Jahren entspräche, müssten jedes Jahr 3.100 Wohnungen neu entstehen. Solche Zahlen gab es zuletzt Anfang der 1990er Jahre. Mit dem Anziehen der Sanierung im Gründerzeitbestand sackte die Neubaukurve praktisch ins Unwesentliche ab.

Im Gesamten betrachten. Für die hausbauende Familie bleibt es ja trotzdem ein Lebenserlebnis.

Und es ist absehbar, dass die Neubautätigkeit in Leipzig wieder zunehmen wird. Die Einwohnerzahlen steigen – das schafft vor allem Bedarf an kleinen Wohnungen. Die LWB hat ein entsprechendes Investitionsprogramm schon angekündigt.

Andernorts wird weiter saniert. Auch an Stellen, an denen es weh tut. Am 6. Dezember erst bekam Leipzig den Nachhaltigkeitspreis in der Kategorie “Lebensqualität und Stadtstruktur”. Mit expliziter Würdigung der Rolle der Kreativwirtschaft als (Zwischen-)Nutzer für Brachflächen und leerstehende Gebäude. Eigentlich ist in Leipzig klar, dass man ohne diese kreativen Pioniere die Stadt nach 1990 gar nicht wieder in Schwung gebracht hätte. Ohne die frühen Entwicklungen in der Südvorstadt und Connewitz, später in Plagwitz, Lindenau usw. wären all die ruinösen Viertel gar nicht so schnell wieder attraktiv geworden.

Es ist tatsächlich genauso, wie man es auch vom Prenzlauer Berg in Berlin kennt: Die jungen Wilden bringen Leben in einen Stadtteil, schaffen kulturelle Angebote, geben dem “Kiez” erst einen Ruf des Kreativen, Ausgeflippten, Lebenswerten – und dann kommen die anderen. In der Regel zuerst ein paar mutige Sanierer, dann die ersten Besserverdienenden, die das Klima toll finden, dann die Kinder … Als vor fünf Jahren die “Leipzig Charta” diskutiert wurde, machten sich all die europäischen Bürgermeister auch kurzzeitig Gedanken über die Rolle der kreativen Pioniere als Erstbesiedler von Stadtteilen, die vorher von der Stadtpolitik schon aufgegeben waren. Sie bringen allerorten alte Industriebrachen wieder zum Blühen, erfinden den kreativen Kleinhandel neu und schaffen vor allem eine Atmosphäre des Neubeginns.
Und dann?

Die leidigen Verrenkungen des Leipziger Wirtschafts- und des Kulturdezernats um das Thema Kreativwirtschaft herum und der Spitzentanz im völlig am Thema vorbei organisierten EU-Projekt “Creative City” zeigen eigentlich, dass man in Leipzig über die ersten Gedanken bis heute nicht hinausgekommen ist. Amtlicherseits hat man noch nicht einmal eine Vorstellung davon entwickelt, was die Kreativwirtschaft der Stadt tatsächlich ausmacht, wie sie funktioniert und wie sie diese Stadt bis heute beflügelt.

Erstaunlich drum der Vorstoß des Amtes für Statistik und Wahlen, einen Beitrag von Inga Krafczyck mit in den Quartalsbericht aufzunehmen: “Wohnen im unsanierten und teilsanierten Altbaubestand in Leipzig – notwendiges Übel oder bewusst gewählter Lebensstil?”

Was die junge Geografin natürlich nicht untersucht hat, ist die Vielfalt alternativer Wohn- und Lebensstile in Leipzig. Das wäre ein eigenes Forschungsthema, das unter anderem die Wächterhäuser, die Campingplätze und Wohnwagenplätze mit einschließen müsste. Bislang bot unsanierter Gebäudebestand noch Zuflucht- und Rückzugsräume. Nicht nur für Leute, die sich die “normalen” Mieten im Ortsteil nicht leisten konnten. Oft genug – das belegt der Beitrag – ist der “unsanierte” Lebensstil ein freiwillig gewählter. Eben weil er eigenen Lebensvorstellungen näher kommt, weil er andere Freiräume bietet. So überrascht es auch nicht, dass es vor allem junge Leute sind, die Inga Krafczyck interviewt hat. Dabei kommt sie auch auf Aspekte, die das außergewöhnliche Wohnen auch als neue Art Gemeinschaftserlebnis sehen lassen. Hausgemeinschaft und gegenseitiger Beistand spielen wieder eine Rolle.

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Oder doch besser: noch. – Denn mit jedem sanierten Haus verschwinden diese Ausweichmöglichkeiten. Jüngst erlebt beim Wohnblock in der Windmühlenstraße. Fast hätte es auch noch das angrenzende Künstlerhaus erwischt. Und der Protest war berechtigterweise groß. Nicht weil jetzt ein wichtiges Haus in der Leipziger Innenstadt saniert wurde – fällig war’s schon lang. Aber es fehlen jegliche Begleitkonzepte der Stadt. Noch schaut sie einfach zu, wie die kreativen Milieus wandern, wenn sie verdrängt werden. Irgendwo findet sich ja noch ein Plätzchen.

Aber wie lange noch? – Wann führt das zum ersten Verlust dieses Milieus?

Wäre die Leipziger Stadtverwaltung nicht sehr gut beraten, endlich eine echte Kooperations-Konzeption mit “ihrer” Kreativwirtschaft aufzulegen? Auch was die nachhaltige Zukunft dieser Stadt betrifft? Denn auch fürs Wohnen braucht die Stadt neue Konzepte – breit gestreut und attraktiv mit Freiräumen, die Luft zum Experimentieren lassen.

Naja. Hundewiesen gibt es. Aber um die Hunde kümmern wir uns morgen an dieser Stelle.

Der Quartalsbericht ist im Internet unter http://statistik.leipzig.de unter “Veröffentlichungen” einzusehen. Er ist zudem für 7 Euro (bei Versand zuzüglich Versandkosten) im Amt für Statistik und Wahlen erhältlich. Postbezug: Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen, 04092 Leipzig. Direktbezug: Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen, Burgplatz 1, Stadthaus, Zimmer 228

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