Die deutsche Wirtschaft läuft rund. Eigentlich ist das Land so flott unterwegs wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Und trotzdem bekommt es die sozialen Probleme nicht in den Griff. Eine Kennziffer dafür ist die Zahl von Kindern und Jugendlichen in Bedarfsgemeinschaften. Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) hat diese Hilfequoten für Kinder unter 15 Jahre auf Grundlage der Zensus-Ergebnisse neu berechnet. Das Ergebnis ist eigentlich beschämend.

Im Dezember 2013 lebten in der Bundesrepublik Deutschland 1,618 Millionen Kinder im Alter von unter 15 Jahren in sogenannten SGB II-Bedarfsgemeinschaften (Hartz IV). Dies waren etwa 15.000 mehr als ein Jahr zuvor und 121.000 weniger als Ende 2008. Wobei das “mehr” und das “weniger” im Grunde ein Witz sind. Ein Land, das wirtschaftlich derart erfolgreich ist, sollte es schaffen, binnen sechs Jahren solche Quoten zu halbieren oder noch stärker zu senken. Aber noch immer gibt es ganze Regionen, wo die Quoten geradezu erschreckend hoch sind – wie mit 36,7 Prozent in der Stadt Bremerhaven oder 33,6 Prozent.

Und tatsächlich alarmiert sein sollten deutsche Politiker davon, dass die Hilfequote in 124 kreisfreien Städten und Landkreisen heute höher liegt als im Dezember 2008. Und alle diese Kreise liegen im Westen der Republik. Es sind nicht die Verteil-Mechanismen Ost-West, die wirklich kaputt sind im Land, sondern die zwischen reichen und ärmeren Regionen.

In den Ländern reichten die Hilfequoten von 33,6 Prozent (336 von 1.000 Kindern) in Berlin bis 7,0 Prozent in Bayern und in den 15 Großstädten von 33,6 Prozent in Berlin bis 12,1 Prozent in München. In den 402 Kreisen reichte die Hilfequote von 36,7 Prozent in der Stadt Bremerhaven bis 1,8 Prozent im Landkreis Eichstätt.

Auffällig ist, dass die ostdeutschen Bundesländer eine stetig sinkende Quote haben – das freilich noch auf deutlich höherem Niveau. Dafür ist man im Westen im Jahr 2013 wieder genau da, wo man 2008 schon mal war.

Im Dezember 2013 lag die im vergangenen Jahr wieder gestiegene durchschnittliche Hilfequote in der Bundesrepublik Deutschland (15,2 Prozent) lediglich 0,4 Prozentpunkte unter der Hilfequote im Dezember 2008. In Westdeutschland war die in 2012 und 2013 gestiegene Hilfequote (13,3 Prozent) wieder so hoch wie im Dezember 2008 (13,3 Prozent). In Ostdeutschland lag die weiter gesunkene aber noch immer deutlich höhere Hilfequote (23,8 Prozent) 3,8 Prozentpunkte unter der Hilfequote im Dezember 2008.

Im Dezember 2013 lebten in der Bundesrepublik Deutschland 1,618 Millionen Kinder im Alter von unter 15 Jahren in 977.000 sogenannten SGB II-Bedarfsgemeinschaften (Hartz IV).

Bezogen auf die insgesamt 10,649 Millionen Kinder im Alter von unter 15 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland, lebten im Dezember 2013 15,2 Prozent der Kinder (152 von 1.000 Kindern) in SGB II-Bedarfsgemeinschaften. In Ostdeutschland betrug diese Quote im Dezember 2013 23,8 Prozent (von 1,910 Millionen Kindern) und in Westdeutschland 13,3 Prozent (von 8,740 Millionen).
In drei der 16 Länder lag die Hilfequote im Dezember 2013 über der Hilfequote im Dezember 2008: in Nordrhein-Westfalen, im Saarland und in Bremen. Das westdeutsche Flächenland mit der höchsten Hilfequote, gemessen an der altersgleichen Bevölkerung (unter 15 Jahre) relativ meisten Kindern in “Hartz IV-Haushalten”, war im Dezember 2013 mit 18,4 Prozent weiterhin Nordrhein-Westfalen, vor dem Saarland mit einer Hilfequote von 16,8 Prozent und Schleswig-Holstein mit einer Hilfequote von 15,6 Prozent. Die Hilfequote in Nordrhein-Westfalen lag im Dezember 2013 erstmals über der Hilfequote in Thüringen (17,8 Prozent), dem Land mit der niedrigsten Hilfequote in Ostdeutschland.

Das ostdeutsche Flächenland mit der höchsten Hilfequote, gemessen an der altersgleichen Bevölkerung (unter 15 Jahre) relativ meisten Kinder n in “Hartz IV-Haushalten”, war im Dezember 2013 mit 26,2 Prozent weiterhin Sachsen-Anhalt, vor Mecklenburg-Vorpommern mit 24,1 Prozent. Das gern so prahlerische Sachsen hat seit 2008 seine Hilfequote von 24,1 auf 19,4 Prozent gesenkt, liegt damit gleichauf mit Brandenburg. Wobei immer auch zu bedenken ist, dass Großstädte die größere Last der sozialen Abfederung zu tragen haben. Ablesbar auch an den Quoten in Berlin (oben genannte 33,6 Prozent), Bremen (30,8 Prozent) und Hamburg (20,1 Prozent). Und Hamburg zählt zu den reichsten Bundesländern.

Aber der Blick ins Ruhrgebiet zeigt, wie sich soziale Probleme verschärfen, wenn sich wirtschaftliche Transformationsprozesse über Jahre und Jahrzehnte hinziehen. Im Grunde macht der Ruhrpott einen ganz ähnlichen Prozess durch wie Ostdeutschland nach 1990. Deswegen liegt eine ganze Reihe von Städten und Kreisen mit einer Hilfequote von über 30 Prozent heute im Ruhrgebiet: Mönchengladbach (31,0 %), Gelsenkirchen (35,8 %) und Essen (31,8 %) und Dortmund (30,0 % knapp drunter liegt Duisburg mit 27,8 Prozent.

Unterm Rückgang der Werftindustrie im Norden leiden nicht nur Bremen (29,6 Prozent) und Bremerhaven (36,1 Prozent), sondern auch Delmenhorst (31,2 Prozent) und Wilhelmshaven (32,4 Prozent).

Und dem reichen Frankfurt/Main (22,3 Prozent) vorgelagert ist das arme Offenbach am Main (35,9 Prozent). Die Republik driftet also an mehreren Stellen gleichzeitig auseinander.

Während sich eine Stadt wie Leipzig ganz langsam berappelt und den Titel “Armutshauptstadt” weitergibt, machen neue Namen in der Statistik darauf aufmerksam, wo in der Republik wirtschaftliche Problemzonen existieren: Halle/Saale (Hilfequote 34,5 Prozent), Frankfurt/Oder (33,2 Prozent), Brandenburg an der Havel (31,1 Prozent), Uckermark (30,4 Prozent), Schwerin (30,3 Prozent) und Magdeburg (30,1 Prozent).

In den 15 Großstädten mit mehr als 400.000 Einwohner/innen (einschließlich der Region Hannover) lebten im Dezember 2013 insgesamt 448.240 Kinder im Alter von unter 15 Jahren, deren Mütter und/oder Väter auf Arbeitslosengeld II angewiesen waren, stellt Schröder fest. Dies waren 27,7 Prozent aller 1,618 Millionen Kinder in SGB II-Bedarfsgemeinschaften in der Bundesrepublik Deutschland. Und: Der Anteil der Großstädte an den Kindern in SGB II-Bedarfsgemeinschaften ist damit weiter gestiegen – von 26,1 Prozent im Dezember 2008 auf 27,7 Prozent im Dezember 2013. Was auch ein Teil der Erklärung dafür ist, dass die Großstädte bundesweit unter den steigenden Soziallasten in die Knie gehen.

In 6 der 15 Großstädte wurde im Dezember 2013 eine höhere Hilfequote ermittelt als fünf Jahre zuvor (Dezember 2008): Essen, Dortmund, Bremen, Region Hannover, Nürnberg und München – wobei die Münchner Quote von 11,6 auf 12,1 Prozent stieg. Trotzdem auch das – ganz ohne Anführungszeichen – ein Armutszeichen für das reiche München.

Ist das nun ein West-Problem? Nicht wirklich. Es ist ein Problem der falschen Finanzströme in Deutschland, unter denen gerade die Großstädte leiden, obwohl und weil sie die Hauptlasten der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformationen zu tragen haben.

Das schafft zwar – wie in Leipzig – neue Arbeitsplätze, erreicht aber einen Großteil der weniger gut gebildeten und integrierten Bevölkerungsgruppen immer schlechter. Für Paul M. Schröder fällt Leipzig gar nicht weiter auf, weil hier die Zahl der Kinder in Bedarfsgemeinschaften von 18.218 im Jahr 2008 auf 17.483 im Dezember 2013 zurückging. Wobei auch zu bemerken ist: Im Dezember 2012 lag die Zahl mit 17.320 sogar schon mal drunter. Es gibt da eindeutig eine unsichtbare Mauer, an der das ganze Kraftgemeiere der Hartz-IV-Reform scheitert, weil die Instrumente nicht passen, nicht stimmen und nicht fruchten. Und vor allem weil eines nicht gelingt: Menschen mit schlechteren Arbeitsmarktchancen tatsächlich nachhaltig in eine ordentlich bezahlte Erwerbstätigkeit zu bringen.

Allein das Abschmelzen der Zahl der betroffenen Kinder senkt natürlich die Leipziger Quote nicht deutlich – das passiert erst durch das starke Bevölkerungswachstum, so dass die Hilfequote insgesamt von 33,4 auf 27,4 Prozent sank. Dresden hat seine Quote von 22,5 auf 18,3 Prozent absenken können. Im Landkreis Nordsachsen sank die Hilfequote von 26,2 auf 21,4 Prozent, im Landkreis Leipzig von 19,6 auf 16,9 Prozent.

Direkt zur Statistik des BIAJ:
http://biaj.de/images/stories/2014-07-10_neu-sgb2-kinder-122013rev.pdf

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