Haben wir schon erzählt, dass Sachsen wächst? Haben wir. Die Zahlen werden von Monat zu Monat deutlicher, auch wenn das Statistische Landesamt um acht Monate mit der Zählung hinterher hängt. Jetzt hat es die Einwohnerzahlen für September 2014 vorgelegt. Um über 3.000 wuchs die sächsische Bevölkerung seit Dezember 2013.

Wäre er noch im Amt, er würde freudestrahlend mit Eierschecke an der Autobahnraststätte stehen und die neuen Sachsen begrüßen. Aber das Amt des Wirtschaftsministers hat Sven Morlok ja weitergereicht an den SPD-Mann Martin Dulig, den die Materie auch irgendwie ein bisschen zu überfordern scheint. Was nicht unbedingt nur an ihm liegen muss, sondern auch an der mühseligen Umdenkphase der sächsischen CDU liegen kann. Die hat nun seit über zehn Jahren das Lied vom Schwund und vom Vergreisen der Sachsen gesungen, ganze Haushaltspläne auf den vom Landesamt für Statistik und/oder den von den Cleverles aus dem Dresdner ifo Institut gelieferten Prognosen aufgebaut – und nun das. Wer kann sich denn jetzt wieder so schnell umgewöhnen?

Dabei waren auch die alten Prognosen ja nicht stichhaltig und haben sich seit 2010 nach und nach in Luft aufgelöst. Das Jahr nennen wir hier einfach wieder explizit, weil es das Schaltjahr beim Fachkräftenachwuchs war – da traten die nach 1990 halbierten Geburtsjahrgänge in die Berufsausbildung ein und wurden nach und nach zu den prägenden Jahrgängen beim Berufseintritt. Die Wirtschaftskammern warnten – und warnten umsonst. Der heute in einigen Branchen beschworene Fachkräftemangel war so berechenbar wie der Sonnenauf- oder -untergang. Jeder, der in Amt und Würden war, hätte reagieren können – der Kultusminister, der ein echtes Lehrerprogramm hätte auflegen können, um die Schulabbrecherquote zu senken (hat er nicht), der Innenminister, um die Polizeinachwuchskräfte zu sichern (hat er erst 2014 angefangen), die Wissenschaftsministerin, um die Hochschulen wetterfest zu machen (die hat sogar mitten im Boom mit Kürzen angefangen), der Verkehrsminister, um die Infrastrukturen zu verbessern …

Denn in einem kleinen Land wie Sachsen hängt Alles mit Allem zusammen. Wenn sich die Fachkräftenachfrage um volle 180 Grad dreht, sorgt das natürlich sehr schnell dafür, dass die Abwanderung junger Leute zur Ausbildung und zum Berufseinstieg in andere Bundesländer aufhört. Richtig aufhört. Übrigens ein Fakt, den die Landesregierung selbst abgefragt hat. Sie hat in einer ihrer Jugendstudien die jungen Leute gefragt, was bei der Wahl des Arbeitsortes am wichtigsten ist. Und siehe da: Noch wichtiger als der Verdienst war der Faktor Heimat. Die jungen Sachsen bleiben am liebsten zu Hause, wenn sie in ihrer Region einen Job finden.

Sie wandern trotzdem – aber nicht nach Köln, Stuttgart oder München, sondern nach Leipzig, Dresden und Chemnitz. Wo die Infrastrukturen noch halbwegs heile sind. Sachsens junger Nachwuchs ist ja nicht doof, der weiß ganz genau, was man alles braucht, wenn man ein eigenes Leben startet und eine Familie gründet – ein Kinderarzt, eine Kita, eine Schule, ein Supermarkt sind das Mindeste, was man dazu in der Nähe braucht, eine funktionierende Straßenbahn (wahlweise Bus oder S-Bahn) sowieso. Oder sollte man sagen: selbstverständlicherweise?

Ergebnis schon 2014: Der Bevölkerungsverlust in Sachsen schrumpfte auf das Minus zwischen Geburten und Sterbefällen. Das auch deshalb ein bisschen kleiner wurde, weil die jungen Frauen in Dresden und Leipzig immer öfter den Wunsch nach einem zweiten oder dritten Kind haben. Die Infrastrukturen sind ja da, so halbwegs. Psychologie ist manchmal die halbe Entscheidung.

Aber der Faktor Fachkräftebedarf hat noch eine zweite Wirkung (auch wenn das der aktuelle sächsische Innenminister wohl nie begreifen wird): Sachsen wird dadurch attraktiv auch für Zuwanderung – und zwar nicht nur von Fachkräften aus Europa, sondern von Leuten aus aller Welt, die hier eben nicht nur Asyl suchen (ein Riesenirrtum), sondern die Chance zu arbeiten, sich zu qualifizieren und – na hoppla – Teil eines sächsischen Traums zu werden.

Dass sich gerade Sachsens Innenminister so stur anstellt bei diesem Thema, zeigt eigentlich, wie sehr Sachsen darunter leidet, die falsche Regierung zu haben, eine echte Provinzregierung, die nicht mal ansatzweise den Glanz dieses Landes und seine Ausstrahlung als Wirtschaftsstandort versteht. Ein Wirtschaftsstandort, der seine Chancen verspielt, weil er die Leute abzuwimmeln versucht, die den Traum eines wirtschaftlichen Erfolges für sich verwirklichen wollen. Eine Menge heller Köpfe darunter.

Viele von denen werden jetzt ein paar Jahre in den Asylunterkünften Sachsens festhängen – kluge Frauen, kluge Männer – und dann wird in der Morgenfrühe ein Polizeikommando kommen und sie abschieben – wenn sie Glück haben, nur nach Polen. Diese Menschen stecken natürlich auch in der Bevölkerungsstatistik. Sie sorgen dafür, dass aus einem plus/minus Null ein Zuwachs wird – von 4.046.385 im Dezember 2013 auf 4.049.504 im September 2014.

Für die meisten Landkreise gab’s zwar trotzdem einen Bevölkerungsverlust, weil die jungen Leute weiterhin fortzogen in die Großstadt. Aber die drei Großstädte wachsen. Auch Chemnitz nun spürbar, nachdem die alte Industriestadt ein paar Jahre nicht so recht wusste, ob’s rauf oder runter gehen sollte. Von 242.022 Einwohnern legte Chemnitz binnen neun Monaten auf 243.156 zu. Und das sind wirklich nicht mehr nur die bange wartenden Menschen in der Zentralen Erstaufnahmeeinrichtung des Landes.

Ein wenig stärker wuchs Dresden (das irgendwie für die innersächsischen Wanderbeziehungen nicht ganz so interessant ist wie Leipzig) – von 530.754 auf 533.536.

Der eindeutige Shooting-Star unter Sachsens Städten aber ist weiterhin Leipzig, das binnen dieser neun Monate von 531.562  auf 539.039 amtlich akzeptierte Einwohner wuchs (im Melderegister stehen noch 8.000 mehr). Hier spielt eindeutig der Hochschulstandort eine wichtige Rolle und man fragt sich zu Recht, warum die ausgeschiedene Wissenschaftsministerin ausgerechnet hier die Schere ansetzen wollte – wollte sie Leipzig den Nachwuchs abschneiden? Denn Sachsens Hochschulen locken ja nicht nur den ostdeutschen Nachwuchs, sondern auch den westdeutschen. Und die klugen Köpfchen aus Franken, NRW oder Niedersachsen bleiben nur zu gern da, weil Leipzig eine Stadt mit Lebensqualität ist. Und mit Forschungseinrichtungen und sogar einer wachsenden Zahl Jobs für kluge Köpfe.

Wobei die Frage ist: Heizt die Wirtschaftsentwicklung die Bevölkerungsentwicklung an oder ist es umgekehrt?

Und wenn es umgekehrt ist: Könnte es sein, dass Leipzig, so seltsam es aussieht, aktuell vielleicht sogar die richtige Wirtschaftsmischung hat?

Das lässt sich natürlich an Bevölkerungszahlen allein nicht ablesen. Aber diese verraten zumindest recht deutlich, wie sehr sich die politisch Verantwortlichen in all ihren Weichenstellungen ab 2010 geirrt haben. Jetzt ist die Frage, wie lange es dauert, bis sie das nachhaltig wachsende Land zum Inhalt ihrer Haushaltspläne machen.

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