Für FreikäuferManchmal hat man das Gefühl, Politiker haben gravierende Probleme, das Funktionieren moderner Gesellschaften in ihrer Komplexität zu erfassen. Kaum stecken die Diesel-Autobauer wegen Schummelei allesamt in der Klemme, wird emsig die Zukunftstechnologie Diesel beschworen. Weil tausende Arbeitsplätze dran hängen, wie auch Verkehrsminister Martin Dulig am 30. August beschwor. Aber was hat das eigentlich mit der Zukunft der Städte zu tun?

Es erschließt sich nicht wirklich, weil der Blick auf das Automobil den Blick verstellt. Den Blick auf das, was eine Stadt tatsächlich am Rollen hält. Hört sie auf zu rollen, wenn es keine dieselgetriebenen Personenkraftwagen mehr gibt?

Die Antwort lautet schlicht und ergreifend: Nein.

Nach wie vor sind 76 Prozent der in Leipzig registrierten Pkw welche mit Otto-Motor. Aber nicht die fallen mit überhöhten Schadstoffwerten auf, sondern die grün-gewaschenen Diesel-Fahrzeuge. Und dass nun – im Gefolge der DUH-Klagen – über Fahrverbote für Diesel-Fahrzeuge diskutiert wird, ist Folge schlechter und verantwortungsloser Politik. Die zuständigen amtlichen Stellen haben seit Jahren gewusst, dass die Angaben zu den als sauber verkauften Diesel-Motoren nicht stimmten. Statt aber frühzeitig zu reagieren und der Trickserei einen Riegel vorzuschieben, hat man die Daten ignoriert.

Das ist schlicht: verantwortungslose Politik.

Aber das trifft auch auf einen anderen Bereich zu. Nämlich die Frage: Kann man ein modernes Großstadtleben auch abwickeln, ohne sich ein Auto kaufen zu müssen? Kommen wir also einmal weg von den Autobauern, kommen wir zu den für die städtischen Verkehrsstrukturen Verantwortlichen, die seit über 20 Jahren versucht hatten, den öffentlichen Verkehr zu privatisieren oder zumindest auf Sparflamme zu fahren. Weil sie durch die Bank meinten, man könne ein ÖPNV-Angebot billiger haben, wenn man die Verkehrsunternehmen zum Outsourcen, Diversifizieren, Synergiefinden zwingt und was der schönen Worte mehr sind, die alle nur eines bedeuten: öffentlichen Nahverkehr einem fiktiven Wettbewerb unterzuordnen, der nicht funktioniert.

Und gleichzeitig die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten aus der Hand zu geben. Obwohl Stadtplaner wissen, dass Wohnen, Arbeit und Mobilität immer als Einheit gedacht werden müssen. Trotzdem findet es nur quälend langsam Niederschlag in die Stadtpolitik.

Die alte Verkehrspolitik hat Mobilsein privatisiert, obwohl es im höchsten Interesse von Kommunen ist, dass Mobilität für alle fließt. Und Stadt nicht verstopft. Leben in der Stadt funktioniert dann barrierearm, wenn alle Funktionen der Stadt mit einem für alle zugänglichen ÖPNV-Netz leicht erreichbar sind. Und die Planer wissen sogar, dass sich das automatisch einspielt – wenn man diese Spielräume schafft.

Denn Menschen ziehen in der Regel da hin, wo Wohnen, Arbeiten und Einkaufen leicht und schnell miteinander zu verbinden sind. Das ist auch in Leipzig so. Die Wachstumsortsteile sind allesamt gut und schnell ans ÖPNV-Netz angeschlossen. Man kommt von dort mit Rad, zu Fuß oder ÖPNV schnell und unkompliziert an alle Lebenspunkte, die man braucht.

Und es gibt noch ein Element, das diese Entscheidung über die Wahl des Wohnortes noch konsequenter macht: Kinder. Denn dann kommen noch Kitas, Schulen, Spielplätze und Kinderärzte dazu. Und gerade für junge Familien steht die Frage: Brauchen wir dann zwei Autos, um das alles zu bewerkstelligen? Oder gibt es Ortsteile, wo wir das alles leicht erreichbar in der Nähe haben? Denn: Mobilität hat ihren Preis. Das weiß jeder, der auf seine Tankrechnung schaut. Und auf die abendlichen Probleme bei der Suche nach Parkplätzen.

Deswegen sind die Ortsteile mit den jüngsten Bevölkerungsgruppen gar nicht überraschend auch die ÖPNV-technisch am besten erschlossenen. Natürlich gehören auch Neustadt-Neuschönefeld und Volkmarsdorf mit knapp 35 Jahren Altersdurchschnitt dazu, aber auch Lindenau, Schleußig, Plagwitz, Reudnitz und die Südvorstadt. Alle mit einem Altersdurchschnitt deutlich unter 40 Jahren – und dem entsprechenden Mangel an Kita-Plätzen und Schulen. Dazu kommen mittlerweile auch die Vorstädte rund um die City. Und bei den LVB weiß man sehr wohl, was das bedeutet. Hier sind die Bahnen voll. Hier sind auch besonders viele Schulkinder unterwegs.

Hier ist die Kontur von moderner Stadtmobilität erkennbar.

Wer vom „Diesel“ her denkt, denkt falsch. Weil das Automobil für dicht vernetzte Innenstadtstrukturen praktisch nicht gebraucht wird. Tatsächlich verhindert diese Denkweise, über wirklich durchlässige ÖPNV-Systeme in Innenstädten tatsächlich nachzudenken. Was jeder merkt, der sich mit Straßenbahnen Richtung Leipziger Innenstadt auf den Weg macht: Er steht an den seltsamsten Kreuzungen und wartet auf ein mechanisches Freigabesignal. Und mit ihm warten 100, 200 andere Leute. Die Stränge für die Straßenbahn sind weder schnell noch durchlässig. Sie bilden ein verstopftes System ab. Höchste Zeit, dass sich das ändert.

Denn mit dem jetzigen System entwertet Leipzig sogar das Wohnen in der Innenstadt. Ein derart ausgebremster ÖPNV ist nicht nur weniger leistungsfähig – er ist auch unattraktiv. Und er ist ausgrenzend. Denn er benachteiligt auch – um mal die Markierung der IHK zu übernehmen – Wirtschaftsverkehr.

Denn wenn die Zähler für die Verkehrsstudie der IHK an den Ausfallstraßen der Stadt 28 Prozent Berufsverkehr zählen – wie viel Berufsverkehr ist dann zeitgleich in Straßenbahnen und S-Bahnen unterwegs? Wer zählt das mal? Wo doch jede Pendlererhebung darauf hindeutet, dass jeden Tag hunderttausende Leipziger mit dem ÖPNV zur Arbeit unterwegs sind.

Die Zahlen zum innerörtlichen Pendeln kommen erst noch, verriet uns Stadt-Statistiker Peter Dütthorn. Aber im Frühjahr gab es ja die aktuellen Zahlen zu den überörtlichen Pendlern. 58.909 Leipziger überschreiten auf dem Weg zur Arbeit die Stadtgrenze. Parallel kommen 96.088 Auswärtige zur Arbeit nach Leipzig.

Wie viele davon tun es mit dem Auto? Wie viele mit Bahn und Bus?

Die Zahlen fehlen. Aus den Bürgerumfragen wissen wir zumindest, dass 28 Prozent der Leipziger Bahn und Bus nutzen, um zur Arbeit zu kommen. Aber wir wissen nicht, wie viele das stadtgrenzenüberschreitend tun und wie viele innerstädtisch. Und wie viele es tun, weil ihr Arbeitsort miserabel ans ÖPNV-Netz angeschlossen ist. Übrigens ein ganz fetter Arbeitspunkt im Stadtentwicklungskonzept „Leipzig 2030“ (INSEK).

Denn was Stadtplaner wissen, ist, dass umso mehr Menschen aufs Auto verzichten, je besser ihr Wohn- und ihr Arbeitsort mit ÖPNV verbunden sind. Das bestätigen auch die Bürgerumfragen: Genau da, wo es mit ÖPNV dünne wird – in den Stadtrandgebieten – steigt der Pkw-Anteil an allen Wegen rapide an. Und ist auch in den letzten Jahren weiter angestiegen.

Und auch die finanzielle Frage spielt eine Rolle. Denn ein Gros der neuen Leipziger Arbeitsplätze sind keine hochbezahlten, sondern eher durchschnittliche Dienstleistungsjobs. Und zwar in einer Höhe, wo die Betroffenen sehr wohl abwägen, ob sie das Geld lieber für ein Auto ausgeben oder für eine Wohnung in zentralerer Lage. Es geht also auch um eine Komponente von sozialer Stadt, die so gern irgendwie als „unlösbar“ betrachtet wird, weil man augenscheinlich lauter „Diesel“ im Kopf hat, statt ein für alle niedrigschwelliges und bezahlbares ÖPNV-System zu schaffen. Das – bei näherer Betrachtung – tatsächlich das Rückgrat der Leipziger Wirtschaftsentwicklung ist. Nur: Das wird in den Mobilitätsstatistiken nicht sichtbar. „Aus den Augen, aus dem Sinn.“

Dabei ist absehbar, dass die Wettbewerbsfähigkeit großer Städte künftig von der Leistungsfähigkeit ihrer ÖPNV-Systeme abhängen wird. Sie sind es, die den Löwenanteil des Berufsverkehrs tragen müssen. Erst recht, wenn noch mehr Menschen auf engem Raum unterwegs sein müssen. Dieses Denken in leistungsfähigen ÖPNV-Netzen fehlt noch immer.

Man kann gespannt sein, was im Oktober an Mobilitätskonzepten vorgestellt wird.

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