Wer ist eigentlich in Sachsen wirklich vom Lockdown betroffen? Das ist eine Frage, die sich auch Sachsens Statistiker gestellt haben. Am 22. April veröffentlichten sie einmal zusammengefasst die Zahlen zu jenen Wirtschaftsbereichen, die direkt von der am 17. April erlassenen Allgemeinverfügung betroffen sind. Die Statistik zeigt natürlich auch die riesige Wahrnehmungslücke, die auch die Politik bei den Corona-Hilfsprogrammen gezeigt hat.

Auf den ersten Blick sieht das alles nicht nach viel aus: „Im Bereich ,Restaurants, Gaststätten, Imbissstuben, Cafés, Eissalons u. Ä.‘ waren sachsenweit rund 20.500 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in knapp 6.000 Rechtlichen Einheiten im Jahr 2018 tätig. Darunter wiesen mehr als 93 Prozent der Einheiten weniger als zehn Beschäftigte auf (Gesamtwirtschaftlicher Durchschnitt: 89 Prozent)“, schreibt das sächsische Landesamt für Statistik zum Beispiel zu einer der besonders betroffenen Wirtschaftsklassen.

Die Auswahl definiert sich recht genau nach der am 17. April erlassenen Corona-Schutzverordnung. Die man übrigens recht genau lesen kann. Es findet sich darin kein einziges der Schreckgespenster, die etwa das AfD-„Mittelstandsforum für Deutschland“ an die Wand malt unter dem Schlachtruf: „Unser Mittelstand kollabiert!“

Die Verordnung definiert recht deutlich, welche – vor allem auf Publikum angewiesenen – Betriebe vorerst bis zum 3. Mai geschlossen bleiben müssen – dann soll es ja bekanntlich weitere Öffnungen geben. Von einem radikalen Lockdown kann in Sachsen von Anfang an nicht die Rede sein. Auch Handwerksbetriebe dürfen weiter arbeiten – was ja nur logisch ist: Sie sorgen ja für all die Dienstleistungen, die unsere Gesellschaft am Laufen und intakt halten. Dasselbe trifft auf die Landwirtschaft und die Nahrungsmittelindustrie zu.

Man muss also sehr konkret sein, um zu beschreiben, wen die Verordnung wirklich trifft.

Die Grafik zeigt recht anschaulich, in welchen Branchen die meisten Betriebe und damit auch Beschäftigten betroffen sind. Kein Wunder also, dass vor allem Gastronomen mittlerweile mit „Leeren Stühlen“ auf dem Augustusplatz demonstrieren. Gaststätten funktionieren nun einmal nicht ohne Gäste. Und betroffen sind allein im Bereich der Gastronomie sachsenweit 20.529 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte.

Mit Betonung auf „sozialversicherungspflichtig Beschäftigte“. Denn schon an dieser Stelle beginnt die Unschärfe in der Statistik. Auch in der Gastronomie fallen hier einige tausend Beschäftigte durchs Raster, weil sie nicht in der Kategorie sv-pflichtig Beschäftigte auftauchen müssten, sondern in anderen Feldern wie „Selbstständige“ und „marginal Beschäftigte“.

Man denke nur an all die Studentenjobs, die mit Schließung der Gastronomie als allererste wegfielen. Was ja im März die Bafög-Debatte kurz aufflackern ließ. Denn die Bafög-Regelungen passen schon seit Jahren nicht mehr zur Lebensrealität der meisten Studierenden. Gerade die jungen Leute, die nicht auf ein reiches Elternhaus zurückgreifen können, das sie finanziell unterstützen kann, fielen sofort in ein Finanzloch.

Aber die Debatte scheiterte bekanntlich am Unwillen der Politik, das Problem überhaupt zu begreifen, genauso wie die parallele Debatte über die Solo-Selbstständigen.

Das sind echte Exoten auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Und sie kommen in der vom Landesamt für Statistik vorgelegten Tabelle erst recht nicht vor. Schon gar nicht in den Kategorien „Betrieb v. Kultur-/Unterhaltungseinrichtungen“ mit ihren 96 Betrieben und 4.421 fest Angestellten oder „Darstellende Kunst“, wo nur 859 Betroffene gezählt werden.

Dazu ist bei dieser Statistik wichtig zu wissen, dass die Statistiker meistens nur die von den Arbeitsagenturen gelieferten Zahlen zu sozialversicherungspflichtig Beschäftigten auswerten. Da ist das Material schon sortiert und kann per Computer leicht ausgefiltert werden.

2018 (bei aller Digitalisierung hat Sachsen keine frischeren Zahlen) gab es in Sachsen 1,619 Millionen Menschen, die sv-pflichtig beschäftigt waren. Aus diesem Pool stammen die oben erwähnten Zahlen. Tatsächlich aber gingen 2018 2,060 Millionen Menschen in Sachsen einer Arbeit nach. Die Differenz zu den 1,619 Millionen sind vor allem (Solo-)Selbstständige und marginal Beschäftigte, also Personengruppen, die von den verordneten Schließungen besonders betroffen sind, die aber in der vom Statistikamt vorgelegten Tabelle nicht auftauchen.

Nehmen wir nur die erfassten Beschäftigten im großen Bereich Gastgewerbe, zu dem ja auch „Hotels, Gasthöfe und Pensionen“, „Erbringung sonstiger Verpflegungsdienstleistungen (z. B. von Mensen)“, „Ausschank von Getränken“ und „Ferienunterkünfte und ähnliche Beherbergungsstätten“ gehören, für die die Auswahl des Statistischen Landesamtes insgesamt 42.469 Beschäftigte ausweist. Das aber ist gerade einmal die Hälfte aller Beschäftigten im sächsischen Gastgewerbe, das 2017 schon allein 84.000 Beschäftigte hatte. Unübersehbar führt hier die Fixierung der Politik auf den Standard-Beschäftigten zu einer gewaltigen Fehlstelle: Es sind allein hier doppelt so viele Menschen vom Lockdown betroffen als in der Statistik sichtbar.

Und dasselbe trifft auch auf den ganzen Bereich der Darstellenden Kunst zu, wo ja fast nur die festangestellten Mitarbeiter der diversen Theater- und Konzerthäuser gezählt wurden, die vielen selbstständigen Künstler, die von ihren Engagements leben, aber einfach aus dem Blick verschwinden. Jene nämlich, die ab März sofort ohne Engagement und damit auch ohne Geld aus Auftritten dastanden.

Die Tabelle der Landesstatistiker weist hier 5.280 Betroffene aus, von denen die meisten gar nicht betroffen sind, weil sie an staatlichen Kultureinrichtungen fest angestellt sind. Sie müssen zwar zu Hause bleiben, verlieren aber nicht ihre Einkommen.

Aber wie viele der künstlerisch freischaffenden Solo-Selbstständigen sind wirklich betroffen?

Auch dazu gibt es eine grobe Zahl aus dem Jahr 2017. Damals waren in Sachsen allein 37.000 Menschen im Wirtschaftsabschnitt „Kunst, Unterhaltung und Erholung“ tätig. Der Unterschied ist eklatant, beschreibt aber eben die ganz normale Lebenswelt der meisten Kunstschaffenden in Deutschland. Sie sind nirgendwo angestellt, müssen sich ihre Auftritte, Konzerte,Ausstellungen und Engagements immer wieder selbst erkämpfen und generieren ihren Umsatz aus diesen erfolgten Engagements. Wenn die Engagements wegfallen, fallen ihre kompletten Einnahmen weg.

Und was empfahl der generöse Gesetzgeber? – „Meldet euch doch beim Jobcenter.“

In der Summe heißt das: Die Statistiker in ihrer ziemlich oberflächlichen Zusammenstellung geben eine viel zu geringe Zahl von Menschen an, die von den Betriebsschließungen im Lockdown tatsächlich betroffen sind. Sie kommen auf etwas mehr als 63.000 Beschäftigte. Aber allein in der Gastronomie kommen eigentlich noch einmal 42.000 obendrauf und in der darstellenden Kunst weitere 32.000.

Damit verdoppelt sich die Zahl der direkt Betroffenen. Was auch in gewisser Weise den Blinden Fleck bestätigt, mit dem die handelnden Politiker auf jene Wirtschaftsbereiche schauen, die ohne Selbstständige und marginal Beschäftigte nicht funktionieren. Sie haben auch keine Vorstellungen von der dort herrschenden Einnahmesituation. Und deswegen passen ihre Hilfspakete ausgerechnet für die Hauptbetroffenen nicht hinten und nicht vorne.

„Leere Stühle“ auch in Leipzig: Geisterhaftes „Festmahl“ auf dem Augustusplatz

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