Wir haben in der Träume-Rubrik durch die Beiträge von OB-Mitbewerbern gelernt, dass es Meinungsverschiedenheiten darüber gibt, was überhaupt ein Traum ist, auch wenn die Presse seit Wochen fehlende Wahlkampf-Streitpunkte suggeriert. Im Fall meiner Kolleg/innen Dirk Feiertag und teilweise auch Barbara Höll erschien mehr oder minder ein Wahlprogramm als Traum für Leipzigs Zukunft.

Programme sind ja eine feine und politisch sehr wichtige Sache, solange sie nicht ins Populistische abgleiten und auch davon sprechen, was für die aufgestellten Forderungen im Gegenzug finanziell eingespart werden soll. Aber auch feine Programme sind konkrete Forderungen für die nächste Zeit. Und Träume sind irgendwie doch mehr als das.

Eine andere Variante von Traum liefert Burkhard Jung. Er liefert mehr oder minder einen Zustandsbericht von Leipzig: Leipzig sei wachsend, kulturprall, sozial, international. Wobei dann hier wie andernorts auf höflich zurückgenommene, aber dennoch klar erkennbare Weise suggeriert wird, all dies sei eben gerade auch ein Verdienst von Burkhard Jung. Nun hat Leipzig in der Tat viel Kultur, wachsende Stadtteile, wundervoll viele Kinder, immer mehr internationale Studierende und vieles mehr. Kurz: Leipzig ist eine wundervolle Stadt, wobei die meisten genannten Dinge mit Burkhard Jung allerdings ziemlich wenig zu tun haben. Der Auenwald nicht, und auch die vielen sanierten Gründerzeithäuser nicht – die verdanken wir privater Initiative und einer klugen Steuererleichterungspolitik in den 1990-er Jahren. Auch Gewandhaus und Thomanerchor, die kulturell Kreativen oder die Messetradition stehen in keinem erkennbaren Zusammenhang zu besonderen Leistungen von Burkhard Jung.

Präsentiert man die Dinge wie Burkhard Jung im Stil einer Zustandsbeschreibung, dann stimmt außerdem einiges nicht daran. Insbesondere den sozialen Charakter der Leipziger Stadtpolitik möchte man massiv anzweifeln, sind wir doch Armutshauptstadt – und auch den seit langem verschlafenen Kita- und Schul-Ausbau fand Burkhard Jung vor dem Wahlkampf anscheinend weniger zentral als repräsentative Großprojekte und einen starken Fokus auf Autoansiedlungen. Auch menschenwürdige Unterkunftskosten für ALG2-Empfänger hatten bei Burkhard Jung keine Priorität, bis er respektive die Stadt gerichtlich hierzu verurteilt wurden. Vor allem aber ist ein Zustandsbericht – wahr oder unwahr, selbst erarbeitet oder nicht – eben kein Traum.
Burkhard Jung propagiert noch eine andere Variante von Traum als die Zustandsbeschreibung. Ich würde sie als “irreale Utopie” beschreiben. So spricht er davon, die Arbeitslosigkeit in Leipzig noch einmal zu halbieren. In dieser Aussage ist zunächst eine unwahre Annahme enthalten, nämlich die, die Arbeitslosigkeit sei etwa in den letzten zehn Jahren halbiert worden, und zwar – so schwingt zumindest mit – nicht zuletzt durch Burkhard Jungs Wirken. Doch ist die von Burkhard Jung behauptete halbierte Arbeitslosigkeit schlicht der Bundestrend und nicht sein Verdienst. Zudem ist sie primär eine bloße Schönrechnung der Bundesagentur für Arbeit, die immer mehr Personen aus der Statistik nimmt. Wer sich die absoluten Löhne und die Zahlen der Aufstocker anschaut, erhält einen realistischeren Blick auf die Lage.

Insofern müsste man die von Burkhard Jung als gegeben angenommenen rund 10 % Arbeitslosen erst mal real erreichen. Stattdessen jetzt gleich von 5 % Arbeitslosen zu sprechen – und zwar bitte ohne Schönrechnungen -, erscheint nicht nur unredlich, weil eben die Ausgangsannahme nicht stimmt. Es wird an dieser Stelle auch ein letztlich weltferner Zustand versprochen, worin zumindest ich wenig praktischen Wert finden kann. Denn es ist seit langem bekannt, dass allein schon aufgrund der unaufhaltsamen technischen Rationalisierung die Wiederkehr weitgehender Vollbeschäftigung eine Aufgabe ist, die die Kraft der besten Regierung übersteigt.
Für mich ist ein Traum kein Wahlprogramm, kein Zustandsbericht und keine irreale Utopie. Ein Traum in der Tat eine Vision, eine Utopie, aber mit einem berühmten Wort des Philosophen John Rawls eine konkrete respektive reale Utopie: also eine, die sich mit entsprechender Anstrengung auch einlösen lässt. Bezogen auf Burkhard Jungs primäres Wahlkampfthema “Wachstum und Arbeitsplätze” würde das heißen: Man müsste das Thema auch als Berufspolitiker wie Burkhard Jung erstmal in der Komplexität ertragen, die es tatsächlich hat. Dann würde man zu den eigentlich interessanten Fragen kommen, deren Lösung ein würdiger Gegenstand unserer Träume wäre. Nämlich:

Wie kommt man zu einer Gesellschaft, die auch ohne unerreichbare Vollbeschäftigung dauerhaft Menschen eine sinnstiftende Aufgabe gibt? Können wir nicht von einem Verständnis von Arbeit träumen, das generell nicht länger immer nur die Lohnarbeit sieht, sondern karitative Arbeit, familiäre Arbeit oder ein Engagement in politischen Fragen als ebenso wichtig erkennt und würdigt? Sicher wäre da stärker die nationale und transnationale Politikebene gefragt. Aber auch der Leitstern kommunaler Wirtschaftspolitik könnte so neu bestimmt werden.

Ich träume davon, dass eines Tages auch der tagespolitische Diskurs wie etwa ein Wahlkampf auch auf solche Fragen Antworten sucht. Und nicht mit Pauschalformeln wie “Wachstum und Arbeitsplätze” aus den 1960-er Jahren hantiert, die in der Wissenschaft heute kaum noch jemand überzeugend fände. Die in Deutschland für jenes Traditionskonzept prägende Figur, Altkanzler Ludwig Erhardt, war da übrigens schon weiter als heute fast alle Wahlkämpfer: Er sagte schon vor 50 Jahren voraus, dass ewiges Wachstum auf einem endlichen Planeten nicht nur unmöglich ist. Sondern dass es auch sinnlos ist, weil immer neue künstlich geschürte Bedürfnisse uns lediglich in ein Hamsterrad treiben, statt uns glücklicher zu machen.

Also: Warum träumen wir nicht zur Abwechslung mal von weniger materiellem Zuwachs und mehr Umverteilung, wenn wir soziale Fragen lösen wollen? Denn nur so dürfte es auf Dauer klappen, dass wir soziale Probleme lösen, ohne durch dauerndes materielles Wachstum die Welt meines dreimonatigen Sohnes Max auf Dauer unrettbar zu schädigen – etwa in puncto Klimawandel. Mir persönlich macht es richtig Spaß, dass ich diverse materielle Annehmlichkeiten wie Auto, Handy, DVD-Player, Kaffeemaschine oder Urlaubsflüge (letzteres seit 2000) nicht nutze, die heute für fast alle Standard sind. Von einem Leipziger OB in der Straßenbahn statt im großen BMW träume ich übrigens auch.

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