Seit April hat man eigentlich darauf gewartet, dass Linke und Grüne zur Tat schreiten und ihre Normenkontrollklage gegen das von der Regierungskoalition beschlossene neue Polizeigesetz einreichen. Es hat dann doch etwas länger gedauert. Am Mittwoch, 7. August, haben beide Fraktionen nun öffentlich vorgestellt, was sie am 1. August ans Sächsische Verfassungsgericht geschickt haben.

Mit Schriftsatz vom 1. August haben die beiden Fraktionen einen Antrag auf abstrakte Normenkontrolle vor dem Sächsischen Verfassungsgerichtshof gestellt. Sie beantragen darin, große Teile der neuen Befugnisse, die das neue sächsischen Polizeirecht der Polizei einräumt, für nichtig erklären zu lassen. Eben das, was den Kritikern des Gesetzes besonders sauer aufgestoßen war. Denn mit den deutlich ausgeweiteten Überwachungsrechten scheinen CDU und SPD auch sensible Grenzen der geltenden Persönlichkeitsrechte zu überschreiten.

Der Prozessbevollmächtigte Prof. Dr. Matthias Bäcker, Professor für Öffentliches Recht und Informationsrecht, insbesondere Datenschutzrecht an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz, fasst die knapp 90-seitige Antragsschrift so zusammen: „Im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle greifen wir zahlreiche Vorschriften des neuen sächsischen Polizeirechts an, das am 1. Januar 2020 in Kraft treten soll. Die Verschärfungen folgen bundesweiten Trends, der Gesetzgeber ist teils weit über den durch Bundes- und EU-Recht vorgegebenen Anpassungsbedarf hinausgegangen. Zwei Tendenzen sind deutlich: Erstens werden polizeiliche Befugnisse ausgeweitet und neue Instrumente etabliert. Zweitens werden herkömmliche und neue Befugnisse in ihrer Tiefe ausgeweitet und in hochgradig ambivalenten Sachlagen ermöglicht. Vor allem vier Komplexe sind aus unserer Sicht verfassungsrechtlich problematisch.“

Im ersten Komplex, den er benennt, werden die Hürden für die Überwachung von Einzelpersonen etwa per Telekommunikationsüberwachung, Observation oder V-Leute-Einsatz deutlich gesenkt. Jetzt soll schon die bloße Vermutung, jemand könnte „gefährlich“ sein, zur Überwachung reichen.

Bäcker: „Herkömmlich muss im Polizeirecht eine Gefahr, also ein drohendes Schadensereignis wenigstens ansatzweise konturiert werden können. Jetzt wird nicht mehr anhand möglicher Straftaten, sondern mit Blick auf ,gefährliche‘ Personen entschieden, welche Mittel eingesetzt werden. Es genügt, dass die Polizei anhand welcher Kriterien auch immer prognostiziert, dass eine Person in Zukunft eine Straftat begehen könnte. Diese Personalisierung des Überwachungsrechts bringt potentiell alle Bürgerinnen und Bürger ins Visier. Das Bundesverfassungsgericht hat ein solches Vorgehen auf den Schutz von überragend wichtigen Rechtsgütern beschränkt, Sachsen weitet es faktisch schrankenlos aus. Das neue Polizeirecht definiert ,Straftaten von erheblicher Bedeutung‘ bis hinein in den Bagatellbereich, bei staatsschutzrelevanter Motivation sind sogar Beleidigungen oder Sachbeschädigungen erfasst. Eine exzessive Ausweitung erfolgt auch im Bereich der schon heute strafbaren Vorbereitungshandlungen. So könnte eine Überwachung künftig schon damit gerechtfertigt werden, dass eine Person möglicherweise Heizöl kaufen könnte, um damit einen Anschlag vorzubereiten.“

Das nennt man dann wohl einen Präventivstaat, der seine Bürger schon einmal vorsorglich unter Verdacht stellt.

Und auch im öffentliche Raum sollen die Überwachungsbefugnisse deutlich erweitert werden.

„Zweitens soll auch bei der Überwachung des öffentlichen Raums kein hinreichend konturierter Anlass mehr nötig sein. Das Polizeirecht lässt Videoüberwachung überall dort zu, wo erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit zu entstehen drohen“, stellt Bäcker fest. „Das klingt einleuchtend, gilt aber bei ehrlicher Betrachtung für den gesamten öffentlichen Raum. Das neue Polizeirecht verlangt hingegen nicht, dass sich bestimmte Orte etwa in ihrer Kriminalitätsbelastung vom übrigen öffentlichen Raum abheben, um eine Videoüberwachung zuzulassen. So wird im Ergebnis eine flächendeckende Überwachung möglich, die aus meiner Sicht verfassungswidrig wäre.“

Gleichfalls ist es aus seiner Sicht problematisch, dass in einem Streifen von 30 Kilometern Breite entlang der Staatsgrenzen alle Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmer mit „intelligenter“ Videotechnik überwacht werden können, was eine Gesichtserkennung einschließt. „Auch dafür verlangt das Gesetz keinen hinreichend klar umschriebenen Überwachungsanlass“, stellt Becker fest. „Überdies sollen die erhobenen Daten 96 Stunden lang gespeichert werden, obwohl sie angeblich nur dem sofortigen Abgleich mit Fahndungsdaten dienen. Das ist nicht nachvollziehbar.“

Und dann ist da noch der ganze Komplex der gespeicherten Daten. Künftig soll Sachsens Polizei noch umfangreicher speichern dürfen.

Denn, so Bäcker: „Drittens halten wir die ausufernde Datenspeicherung bei der Polizei für verfassungsrechtlich bedenklich. Auch hierfür soll es kaum Grenzen geben. Wir alle haben in unserem Leben früher oder später in irgendeiner Form mit der Polizei zu tun. Schon zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, etwa in der Nähe einer Demonstration, könnte uns auf Dauer in die polizeilichen Datensammlungen bringen, wenn die Regelungen über Datenspeicherungen weit verstanden werden. So entstünde langfristig ein umfassender Katalog der Bevölkerung. Auch das halten wir für unverhältnismäßig. Wir wenden uns dagegen, dass die Polizei alles speichern darf, nur weil diese Daten aus ihrer Sicht irgendwann einmal in irgendeiner Form relevant werden könnten.“

Und viertens wendet sich der Normenkontrollantrag auch dagegen, Zwangsmaßnahmen wie Aufenthaltsgebote, Kontaktsperren oder elektronische Fußfesseln gegen „Gefährder“ zu ermöglichen.

„Das neue Polizeirecht ermöglicht Zwangsmaßnahmen auf diese Weise nicht mehr nur zeitlich begrenzt und anlassbezogen, sondern pauschal und dauerhaft“, geht Bäcker auf die fragwürdige Formulierung ein. „Wieder reicht eine vage Prognose aus, dass jemand irgendwann eine Straftat begehen könnte. Schon dann darf die Polizei anordnen, dass wir unsere Wohnung oder unser Viertel nicht mehr verlassen dürfen, den Kontakt zu Vertrauenspersonen abbrechen müssen, und per Fußfessel unsere Bewegungen überwachen. Falsche Prognosen können so zu selbsterfüllenden Prophezeiungen werden, aus denen es kein Entrinnen gibt.“

Für Grüne und Linke sind diese Verschärfungen des Polizeirechts stark genug, um den Verfassungsgerichtshof anzurufen.

„Ich bin sehr froh, dass am Ende eines langen parlamentarischen und außerparlamentarischen Protests gegen die Verschärfungen des Polizeirechts eine verfassungsrechtliche Prüfung durch den Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen steht. Wir Grünen haben in den Debatten immer wieder deutlich gemacht, dass CDU und SPD mit diesem Gesetz eine Grenze überschritten haben – eine Grenze, die die sächsische Verfassung der Einschränkung und Beschneidung der Bürgerrechte setzt“, sagt Valentin Lippmann, innenpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion.

Was zumindest Albrecht Pallas, innenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag, nicht so sieht.

„Es ist das gute Recht der Opposition, im Landtag beschlossene Gesetze von einem Gericht überprüfen zu lassen. Das ist ein wichtiger Aspekt unseres Rechtsstaates. Wir haben bei der Erarbeitung des neuen Polizeirechts seriös gearbeitet, viele Experten angehört und genau abgewogen, welche Befugnisse für die Aufgabenerfüllung der Polizei erforderlich und verhältnismäßig sind“, erklärt der SPD-Abgeordnete.

„Wir sind überzeugt, dass das neue Polizeigesetz verfassungskonform ist. Denn wir haben Sicherheit und Freiheitsrechte in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht. Fakt ist: Wir müssen die Strafverfolgungsbehörden in die Lage versetzen, auf neue Kriminalitätsbereiche sowie Deliktarten adäquat reagieren zu können. Mehr Stellen für Polizei und Justiz sowie eine bestmögliche Ausstattung sind nur eine Seite der Medaille. Das Polizeigesetz als Handlungsgrundlage musste weiterentwickelt werden, was die Koalition verantwortungsvoll und rechtssicher umgesetzt hat. Wir sind optimistisch, dass der Sächsische Verfassungsgerichtshof unserer Einschätzung folgt.“

Aber das neue Auswiegen von „Sicherheit und Freiheitsrechten“ sieht für Lippmann eben doch nach etwas anderem aus: einem Eingriff in verfassungsmäßige Bürgerrechte, der mit „neuen Kriminalitätsbereichen sowie Deliktarten“ nicht wirklich begründet werden kann.

„Mit unserem Antrag verbinden wir die Hoffnung, dass der Verfassungsgerichtshof dem Gesetzgeber die Grenzen deutlich aufzeigt und diesen Frontalangriff auf die Bürgerrechte stoppt. Besonders wichtig ist uns Grünen die Überprüfung der Polizeibefugnisse, die die Telekommunikations- und Videoüberwachung erlauben, ohne dass ein konkreter Anfangsverdacht vorliegt“, benennt Lippmann das zentrale Problem. „Herrn Prof. Bäcker danke ich ausdrücklich für seine verfassungsrechtliche Expertise. Mein herzlicher Dank gilt aber auch all jenen, die in den letzten Monaten ihren Protest gegen dieses freiheitsfeindliche Gesetz laut und friedlich auf die Straße und in die Diskussionen getragen haben. Ihnen und ihren Grundrechten fühlen wir uns mit diesem Antrag verpflichtet.“

Aber braucht denn die Polizei nicht mehr Überwachungsrechte, wenn es zum Beispiel um Organisierte Kriminalität geht?

„Wir wollen den Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden nötige Instrumente nicht versagen“, erklärt Enrico Stange, innenpolitischer Sprecher der Linksfraktion im Landtag. „Auch wir sehen, dass sich neue Kriminalitätsphänomene herausbilden, dass Tatbegehungsweisen sich ändern und im Bereich organisierter Kriminalität schwere und schwerste Straftaten begangen werden. Diese Instrumente müssen aber verhältnismäßig, technisch erforderlich und rechtlich abgesichert sein. Es ist das Recht und die Aufgabe der Opposition, tiefe Veränderungen der Sicherheitsarchitektur zu hinterfragen und verfassungsrechtlich prüfen zu lassen. Das tun wir auch vor dem Hintergrund der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur automatisierten Kennzeichenerkennung in den Polizeigesetzen Bayerns, Baden-Württembergs und Hessens.“

Er schätzt – anders als Pallas – das Gesetz nicht wirklich als durchdacht ein. „CDU und SPD waren vom unbedingten Erfolgswillen getrieben, vor der Landtagswahl Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. Der Sicherheitsgewinn des neuen Polizeirechts ist trügerisch, aber sein Preis ist hoch“, sagt Stange. „Polizeiliche Eingriffsbefugnisse werden weit ins Vorfeld konkreter Gefahren verlagert. Informationen können ohne individuellen Bezug zu Verdachtsmomenten für Gefahrenprognosen gesammelt werden. Somit können auch ,unbescholtene‘ Bürgerinnen und Bürger ins Visier geraten.“

Doch die Mühlen der Justiz mahlen in der Regel nicht schnell. Mit einer Entscheidung des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs ist nicht vor dem Inkrafttreten des Gesetzes am 1. Januar 2020 zu rechnen.

Klage gegen neues Polizeigesetz in Sachsen: CDU sieht mehr Sicherheit, Opposition bereitet Weg ans Verfassungsgericht vor

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Eine Verfassungsklage gegen das sächsische Wassergesetz im Hinblick auf die rechtswidrige Schiffbarkeit wurde nicht mal geprüft. Nicht einen Gedanken daran verschwendet. Prioritäten halt. Natur und Naturschutz kann man den blöden Verbänden überlassen.

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