„Sind das noch Protestwähler/-innen?“, fragte die LZ Online am Montag, 27. September, in einer ersten, kurzen Nachwahlbetrachtung zur Bundestagswahl. Auf Deutschlandkarten zur Wahl fällt vor allem Sachsen durch ein (fast) flächendeckendes Hellblau auf. In sämtlichen Landkreisen wurde die Rechtsaußen-Partei AfD zur stärksten Kraft. Was auch schon wieder etwas falsch klingt, denn auch die AfD hat Federn gelassen. Nur nicht so viele wie die CDU.

Was uns einer möglichen Erklärung natürlich näherbringt. Politik ist nun einmal nicht eindimensional, außer vielleicht in der Weltsicht der hellblauen Kampagnenmacher, die auf ihren Wahlplakaten nicht einmal mehr verhehlten, wie sehr sie die Demokratie verachten. Sie wollten die Regierung gleich mal „in den Lockdown“ schicken, schwadronierten von „unseren Gesetzen“, als würden ein paar echauffierte ältere Herren quasi in Selbstermächtigung bestimmen, welche Gesetze für wen zu gelten haben.Es ist, als hätte eine komplette Partei die simpelsten Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft aufgekündigt.

Die wachsende Kluft zwischen Großstädten und ländlichen Räumen

Aber da ist ja auch noch der zweite Ansatz, den Antonia Weber am 27. September auf der LZ Online so formuliert hat: „Die AfD ist wie zu erwarten stärkste Kraft – sowohl bei den Erst- als auch bei den Zweitstimmen. Die Partei holte zehn der 16 Direktmandate und konnte sich 24,6 % der Zweitstimmen sichern. Dahinter folgen SPD und CDU; die Grünen konnten lediglich 8,6 % erreichen. Nur in den Großstädten konnten CDU, SPD und die Linke bei den Erststimmen punkten.“

Die drei Großstädte fallen auf – auf der Karte mit den Erststimmen genauso wie auf der mit den Zweitstimmen. Hier erreichte die AfD nur Ergebnisse um die 15 bis 18 %, in Leipzig gar nur 13,3 %. Hier ist dann auch die SPD erstaunlich erstarkt, in Sachsen gesamt auf 19,3 % – geschoben auch durch Großstadtergebnisse wie in Leipzig von 20,9 % oder Chemnitz mit 23,4 % und einem klaren ersten Platz.

Doch in den Landkreisen ist die Karte übersät mit 30 Prozent-Punkten für die Blauen.

So haben die Sachsen am 26. September gewählt. © Screen: wahlen.sachsen.de

Tatsächlich sank der Stimmenanteil der AfD von 27 % im Jahr 2017 auf 24,6 %. Dass das Ergebnis trotzdem wie ein Erdrutsch aussieht, hat mit dem Einbruch bei der CDU zu tun, die nach 26,9 % im Jahr 2017, als man erstmals hinter der AfD landete, nun auf 17,2 % absackte.

Zahlen, bei denen ein anderer Ministerpräsident längst zurückgetreten war.

2017 war der zweite Platz seiner CDU hinter der AfD für den damaligen Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich noch ein Grund zum Rücktritt. Was wahrscheinlich nur er selbst verstanden hat, fast schien es, als ob da Amtsmüdigkeit auf den richtigen Zeitpunkt und einen gut dotierten Posten bei der MIBRAG traf.

Sein Nachfolger wurde mit Michael Kretschmer ein Mann, der sehr wohl begriffen hat, wie sehr der Erfolg ostdeutscher CDU-Regierungen immer davon abhing, welche Performance die CDU in Berlin hinlegte.

Statt sinnloserweise zurückzutreten, widersprach er lieber dem CDU-Spitzenkandidaten Armin Laschet, der nach dem historisch schlechten Ergebnis für die CDU trotzdem noch Optionen auf die Kanzlerschaft sehen wollte.

„Das Wahlergebnis sei ein Erdbeben gewesen und habe eine ganz klare Wechselstimmung gegen die CDU gezeigt, sagte er bei MDR Sachsen. Das müsse man sich ganz klar eingestehen“, schreibt der „Spiegel“ zu Kretschmers Kontra.

Der hat ja seit 2019 Erfahrungen sammeln können, wie das ist, mit Partnern Koalitionsgespräche führen zu müssen, mit denen sich die CDU in Sachsen früher nie an einen Tisch gesetzt hätte. Aber er hat sehr wohl begriffen, dass es dabei nie um den Machterhalt der CDU gehen darf, sondern sich auch die Stimmung im Land verändert hat. Und die Existenz der AfD die demokratischen Parteien zu Koalitionen, zunehmend auch in Dreierbündnissen geradezu zwingt.

Das fatale Ergebnis einer Ruhigstellung

An der Stelle kann man das Wahlergebnis nämlich sehr klar auseinandernehmen. Die AfD ist überall da stark, wo es bis 2017 die CDU war. Und wo Parteien wie SPD, Grüne und Linke bis heute eher schwach aufgestellt sind. Was Sachsen nämlich deutlich auch von den anderen ostdeutschen Bundesländern unterscheidet: Kein Land hat so sehr auf „Leuchttürme“ gesetzt wie Sachsen.

Die neuen Industrieansiedlungen sind fast alle im Umfeld der drei Großstädte entstanden. Die modernen Dienstleistungen und Forschungszentren sind sowieso alle rund um die Universitäts- und Hochschulstandorte angesiedelt. Hier lebt das moderne, junge und zukunftsorientierte Sachsen, während viele Landkreise geradezu wie Museen des 20. Jahrhunderts wirken.

In keinem Bundesland haben sich die Regionen so gründlich entmischt, sind die bildungshungrigen jungen Leute so systematisch in die Großstädte abgewandert. Das Ergebnis sind Wahlen, in denen sich Großstadt und Land gründlich fundamental unterscheiden.

Das hellblaue Sachsen von heute ist das direkte Ergebnis von 30 Jahren CDU-Infrastrukturpolitik. In der man auch all die mehr oder weniger „von oben“ durchgedrückten Kreisreformen und „Staatsverschlankungen“ mitdenken muss. Denn die haben zusätzlich dafür gesorgt, dass hochwertige Arbeitsplätze und gesellschaftliche Kommunikationsorte aus den ländlichen Räumen verschwanden. Und in deren Gefolge verschwanden auch die Medien, schlossen Regionalzeitungen ihre Büros, legten sie die Reaktionen zusammen und kappten die Berichterstattung zuletzt gänzlich zugunsten von Netzausgaben mit Bezahlschranke.

Etwas, was in einer Demokratie immer Folgen hat. Und zwar fatale.

Denn damit ändert sich die Informationsbasis der Bürger, gewinnen Parteien, die ihre Arbeit in den „Sozialen Medien“ intensivieren und hunderttausendfach kostenfrei verteilte Parteizeitungen wie die „Blaue Post“ der AfD herausgeben, immer mehr Einfluss. Übrigens konstant und nicht nur während des Wahlkampfes vor allem im ländlichen Raum.

Die gemeinsame Gesprächsbasis aber geht zusehends verloren. Bürgermeister und gewählte Mitglieder von Kreistagen und Stadträten fühlen sich medial mehr und mehr kaltgestellt. Denn die unabhängigen Medien, die noch intensiv über die wichtigen Veränderungen und Entscheidungen in ihrer Region berichten könnten, gibt es nicht mehr.

Wenn „Die da oben“-Medien das „Die da oben“-Gefühl anheizen

Und damit gibt es auch keine öffentlich sichtbare Willensbildung mehr. Menschen, die sowieso schon das Gefühl hatten, nicht gefragt zu werden, wenn es um Politik in ihrer Heimat geht, blieb fortan tatsächlich nur noch die Suche im wilden Kosmos der Meldungen, die irgendwie über den eigenen Facebook- oder Twitter-Account hereinfluteten. Freilich vorsortiert von Algorithmen, denen seriöse und ausgewogene Berichterstattung keineswegs „wichtig“ ist.

Kann es sein, dass eine solche Deformierung der regionalen Berichterstattung auch Bundestagswahlverhalten beeinflusst?

Natürlich. Denn die Existenz wirklich umfassend berichtender Regionalmedien bestimmt auch, welche Präsenz die Kandidierenden der Parteien haben. Und vor allem: wie Politik diskutiert wird. Ob bei den Wähler/-innen der Eindruck entsteht, sie könnten Politik verändern, wenn sie andere Parteien wählen. Oder ob sie in dem ja nun oft genug diagnostizierten Gefühl bestärkt werden, nur „Bürger zweiter Klasse“ zu sein und mit Wahlen nichts verändern zu können.

Spielt die SPD in Sachsen künftig eine deutlich stärkere Rolle?

Ein Gefühl, das aber ganz offensichtlich nicht alle sächsischen Wähler/-innen teilen, sondern – wenn man das Wahlergebnis betrachtet – nur ein Viertel. Denn im „restlichen“ Dreiviertel ist ja – wie man sehen kann – eine ganze Menge passiert. Die Wähler/-innen der CDU, die ja nicht nur im Wahlkampf eine schlechte Figur gemacht hat, sind nicht zur AfD abgewandert, sondern zu anderen demokratischen Parteien. Zuallererst zu SPD, FDP und Grünen.

Die sächsische CDU hat im Grunde denselben Denkzettel verpasst bekommen wie die Bundes-Union. Und natürlich hat das viel mit einer Bundeskanzlerin Angela Merkel zu tun, die sehr wohl versäumt hat, für die CDU neue Themen aufzugreifen und vor allem die drängenden Probleme auf die Agenda zu setzten. Themen, die den Bundestagswahlkampf 2021 eben doch bestimmt haben, auch wenn das in den medialen Inszenierungen meist unterging.

Die meisten Wähler/-innen spüren durchaus, dass sich Politik in Deutschland deutlich ändern muss, dass es deutlich mehr Mut auch zu neuen Lösungen braucht. Mut, den man der zunehmend mutloseren CDU nicht mehr zutraut.

Das demokratische Spektrum ist im Grunde farbenfroher geworden. Selbst Wähler/-innen in Sachsen, die sich zuvor nie vorstellen konnten, auch mal SPD oder Grüne zu wählen, haben dort ihr Kreuzchen gemacht. Und zwar auch in den Landkreisen, auch wenn das im ersten Effekt nur dazu führte, dass damit auf einmal die CDU-Kandidaten nicht mehr genug Stimmen bekamen, um die einst sicheren Direktmandate zu erlangen.

Gleichzeitig zog in Chemnitz mit Detlef Müller ein Sozialdemokrat an CDU und AfD vorbei, während in Leipzig Nord Jens Lehmann (CDU) mit gerade noch 600 Stimmen vor Holger Mann (SPD) eins der verbleibenden vier CDU-Direktmandate verteidigen konnte.

Hellblau als Politik-Verweigerung?

Das viele Hellblau außerhalb der drei Großstädte Sachsens erzählt im Grunde nur sehr deutlich davon, dass die CDU mit ihrem Kurs des Immer-weiter-so auch im Freistaat gescheitert ist. Und damit auf einmal auf Augenhöhe mit SPD, Grünen und FDP landete. Zeit für eine echte Neuorientierung. Und es sieht ganz so aus, als würden die Koalitionsergebnisse in Berlin nun auch mitbestimmen, wie es in Sachsen weitergeht.

Auch wenn die AfD davon träumt, in Sachsen vielleicht mal mitregieren zu dürfen. Aber die Zeichen dafür haben sich eher verschlechtert.

Denn wenn die SPD in Sachsen jetzt nicht alles falsch macht, wird sie im nächsten Landtagswahlkampf 2024 eine deutlich stärkere Rolle spielen. Mit 19,3 % lag sie deutlich vor der CDU und hat gezeigt, dass selbst Wähler/-innen im ländlichen Raum sich nach 30 Jahren endlich vorstellen können, in Sachsen auch mal einen SPD-Ministerpräsidenten oder eine SPD-Ministerpräsidentin zu wählen. Und damit eine Politik, die sich endlich verabschiedet von den Prämissen der Biedenkopf-Ära, die gerade die ländlichen Räume die ganze Zeit versucht hat, regelrecht ruhigzustellen.

Kein Wunder eigentlich, dass diese Beruhigung den dort Wohnenden immer wieder auch das Gefühl gab, dass man in der Demokratie seine Verantwortung für das Allgemeinwohl an der Wahlurne abgibt, delegiert an Leute, die sich dann – wie nun die Hellblauen – aufblasen und behaupten, sie könnten alles besser. Selbst dann, wenn ihre Vorschläge aus der Mottenkiste kommen.

Aber dieses Ruhigstellen der Wähler/-innen geht schief. Das schafft eben nur Raum für Populisten und Schaumschläger, während die wichtigen Entscheidungen scheinbar anderswo, in Hinterzimmern oder irgendwelchen Dresdner Instanzen getroffen werden. Vielleicht endet auch die Zeit der Finanzminister in Sachsen, die das Land behandeln wie eine Schar quengelnder Kinder, die bei ihnen immerzu um Geld betteln sollen.

Hier rächt sich das alte Denken in Intransparenz und zentraler Gängelei und Bevormundung. Und das Fehlen einer echten Strukturpolitik, die auch das extra neu gebildete Sächsische Staatsministerium für Regionalentwicklung unter der Führung von Thomas Schmidt (CDU) bis heute nicht vorweisen kann.

Ausgerechnet die Strukturpolitik ist trotz Milliardenausstattung wieder Stückwerk und Kleinklein.

Logisch, dass eine Menge Leute das Gefühl haben, dass sie der Rest Sachsens nichts angeht und sie ihr Ding machen können. Ohne Rücksichten auf alle anderen. Auch auf dem Wahlzettel.

Was dann der letzte Aspekt ist, der hier durchaus wichtig ist: Das politisch gewollte Gefühl, dass Sachsen kein gemeinsames Projekt ist, dass Politik nicht solidarisch sein muss und dass irgendeine Partei quasi ein Geburtsrecht hat auf die Regierung. Dieses Gefühl hat viel zu lange Politik gemacht in Sachsen.

Es wird eine Menge Arbeit, das endlich aufzulösen.

„Kommentar: AfD-Land Sachsen? Von Intransparenz, mangelhafter Strukturpolitik und Biedenkopf zum blauen Sachsen“ erschien erstmals am 1. Oktober 2021 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 95 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

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